Was wichtig ist: das Unsagbare, das Weiße zwischen den Worten, und immer reden diese Worte von den Nebensachen, die wir eigentlich nicht meinen. Unser Anliegen, das eigentliche, läßt sich bestenfalls umschreiben, und das heißt ganz wörtlich: man schreibt darum herum. Man umstellt es. Man gibt Aussagen, die nie unser eigentliches Erlebnis enthalten, das unsagbar bleibt; sie können es nur umgrenzen, möglichst nahe und genau, und das Eigentliche, das Unsagbare, erscheint bestenfalls als Spannung zwischen diesen Aussagen.

Max Frisch - Tagebuch 1946-1949




Zugänge


Eine Gebrauchsanweisung


1. Vier Ideengeber

Vom Wiener Kreis habe ich gelernt, dass man Fragen nicht beantworten muss, nur weil sie gestellt worden sind. Man kann eine Frage (und ihre Antworten) auch zurückweisen, sie als uninteressant oder als sinnlos fallen lassen. Ich möchte allerdings nicht sagen, dass es sinnlose Fragen gibt - man kann allem einen Sinn geben, wenn man es nur lange genug versucht. Aber ich möchte sagen, dass es uninteressante Fragen gibt. Mit der Zeit ist "Was ist Wahrheit?" für mich so eine uninteressante Frage geworden. Daher möchte ich sie in keiner Weise beantworten - weder positiv noch negativ. Um klar und eindeutig zu sein: ich erkläre nicht, dass es keine Wahrheit gäbe oder, dass sie sich relativ zu etwas anderem verhält. Stattdessen möchte ich die Frage nach "der Wahrheit" und dem ganzen Komplex an Antworten darauf ignorieren, links liegen lassen und mich mit etwas anderem beschäftigen. Eine ähnliche Idee dazu kam von Richard Rorty, der in enigmatischer Weise dafür eintrat, Philosophie ohne Wahrheitsideal zu betreiben. Doch letztlich kam er selbst nie von diesem Thema los, er hat sich Zeit seines Lebens damit beschäftigt, indem er nicht müde wurde zu betonen, dass es kein interessantes Thema sei. Ich möchte hier einen Schritt weitergehen und eine Philosophie entwickeln, die ganz ohne das Thema "Wahrheit" und damit zusammenhängende Ideen auskommt - und das verändert von Grund auf, wie wir verstehen, was Philosophie ist. Aber ist denn nicht das Ziel aller Philosophie (oder sogar allen menschlichen Strebens) das Erkennen der Wahrheit? Sind wir nicht alle Gefangene der Platonischen Höhle und suchen nach dem Sonnenlicht der Wahrheit? Ist nicht die Wissenschaft - die systematische Suche nach der Wahrheit - das Paradigma eines jeden Philosophierens?

Von Richard Rorty habe ich gelernt, dass man das Paradigma des Philosophierens wechseln kann. Seit der scientific revolution ist "Wissenschaftlichkeit" in der einen oder der anderen Form das Vorbild für die Philosophie. Ich würde sagen, über lange Zeit hinweg war das ein hilfreiches Paradigma, aber heutzutage gibt es bessere Leitbilder. Das kulturelle Umfeld hat sich weiterbewegt - nur die Philosophie ist stehen geblieben. Rortys Vorschlag war es, das Gespräch, den interessierten intellektuellen Austausch als Paradigma der Philosophie zu sehen. Ich hingegen werde Kunst (im weitesten Sinn) als das leitende Paradigma ausprobieren. Dieser Ansicht nach ist Philosophie eine literarische Gattung unter vielen. Letztlich interpretiere ich jeden systematischen Umgang mit Sprache und Text als eine literarische Gattung. Alles, was gemeinhin als akademische, wissenschaftliche oder intellektuelle Disziplin verstanden wird, möchte ich als eine spezifische Art der Produktion von schriftlichen und sprachlichen Beiträgen sowie der Reaktionen auf diese verstehen. Das gilt für Physik und Chemie ebenso wie für Literaturkritik, Ästhetik, Ethik und Kunst. In allen diesen literarischen Gattungen gibt es Regeln, wie man Gesprächsbeiträge und Texte zu produzieren hat, welche Strukturen den Regeln gemäß sind und welche nicht. Zwischen manchen Gattungen ist man auch den Austausch gewohnt - zum Beispiel Biologie und Chemie - zwischen anderen jedoch ist solch ein Austausch sehr unüblich - zum Beispiel zwischen Physik und Literaturkritik.

Von der analytischen Erkenntnistheorie habe ich gelernt, dass sich in kleinen Nebensätzen und ihrer Kombination oft neue Gedanken entwickeln, die weder die Autoren der originalen Texte noch ihre Leser zuvor für möglich hielten. Daher nehme ich die Überzeugungen und Absichten der ursprünglichen Autorinnen auch nicht sonderlich ernst. Man kann in einem Text viel mehr, viel weniger oder ganz andere Dinge sehen als die Urheber des Werkes. Ich möchte daher einen ungehemmten Austausch vorantreiben. Ich möchte Texte und ihre Gattungen miteinander verknüpfen, die zuvor noch nicht zusammengebracht wurden und dann sehen, was sich daraus ergibt. Wenn Wahrheit nicht mehr Ziel des Philosophierens ist, möchte ich den rückhaltlosen Versuch wagen, Interesse zu wecken. Je mehr neue Dinge man sagen kann, desto mehr Situationen kann man erleben, und desto mehr Dinge kann man in seinem Leben tun. Mir scheint, ein derartiger Versuch interessant zu sein ist ein besseres Ziel für ein menschliches Leben, als "die Wahrheit zu entdecken".

Von Max Frisch habe ich gelernt, auch das eigene Selbst als eine Geschichte aufzufassen, die man weitererzählen, weiterschreiben und sich immer weiter ausdehnen lassen kann. Wenn man es nicht mehr glaubt, die Wirklichkeit hätte eine Essenz, dann kann man den selben Gedanken auch auf sich selbst anwenden. Geschichten sind keiner Wirklichkeit Rechenschaft schuldig. Dann können wir die wildesten Ideen ausprobieren - das sehen wir beispielsweise bei Frischs Mein Name sei Gantenbein. Der Versuch ist es dann, eine große Geschichte zu entwerfen, die man für sein Leben gehalten haben wird. Jedes Textfragment, jedes Element ist ein Stück in diesem Mosaik. Man entwirft dabei einen Menschen, der man noch nicht ist, von dem man aber hofft, es zu werden. Ganz so wie in dem Diktum, das Nietzsche seinem Ecce Homo vorangestellt hat: "Wie man wird, wer man ist." Hier verbinden sich also die Selbsterforschung der Autobiographie und die offene Zukunftshoffnung der Utopie. Wir versuchen eine Utobiographie, die Beschreibung eines "Noch-nicht Selbst", eine Version eines Selbst, die man in der Zukunft werden könnte.


2. Methode - Form - Bewegung

Die Methode einer Utobiographie ist es, Dinge zu verbinden, die so unterschiedlich wie mögliche sind, um daraus etwas Neues zu entwickeln. Man knüpft an den Punkten an, die einem interessant erscheinen - seien es die kleinsten Nebensächlichkeiten oder die zentralste These; sei es positiv, sei es negativ, sei es eine Assoziation, eine Analogie, ein Bild, ein Argument. Diese Anknüpfungspunkte versucht man dann als einen Teil in das bisherige Netz von Texten und Elementen einzuordnen.

Die Form der Utobiographie ist daher nicht linear in dem Sinne, wie es ein Buch ist. Sie versucht in verschiedenen Elementen verschiedene Verweise zu setzen, und ist nicht strikt auf das Medium "Text" festgelegt. Daher scheint ein Buch nicht die richtige Form der Darstellung zu sein, man kann die Linearität des Mediums "Buch" nur schwer umgehen. Das Internet gibt uns hier neue Möglichkeiten, die in vielerlei Hinsicht besser zu dem passen, was ich versuchen möchte. Die Texte, Fragmente, Zitate und jeder andere Teil kann also ganz direkt auf andere Teile des Netzes verweisen und man kann sich einen eigenen Weg durch das Dickicht bahnen um daraus - so die Hoffnung - etwas interessantes für sich zu finden. Quasi der Traum von Deleuze, Guattari und Wittgenstein.

Die Bewegung der Utobiographie ist das Anwachsen: ein Ansammeln von Texten, Fragmenten, Zitaten, Bildern, Musik, Videos, Aphorismen und Stücken, die (hoffentlich) ein größeres Bild ergeben. Mit diesem Bild kann man zu verstehen versuchen, welcher Mensch es zusammengestellt hat, nach welchen Regeln dieses Sprachspiel funktioniert. Doch dieser Versuch geschieht immer im Nachhinein, es gibt einem nur Aufschluss über das bisherige. Und auch da sind die Interpretationsmöglichkeiten mannigfaltig. Die Hoffnung, das eigene Selbst immer weiter auszudehnen, immer mehr Dinge sagen und tun zu können treibt die eigene Utobiographie immer weiter voran, lässt einen immer mehr Texte, Ansätze und Elemente in das eigene Selbst inkorporieren.


3. Symbolik

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4. Mögliche Einstiegspunkte (statt einem Inhaltsverzeichnis)

Wie kann man als Antirepräsentationalist erklären, was passiert, wenn wir Begriffe und Sprachspiele benutzen, um uns in der Welt zurechtzufinden?

Entitäten
Wie könnte ich mir das eigene "Selbst" oder "Ich" als Geschichte vorstellen, die man erzählt? Wer ist hier der Erzähler? Und was die Erzählung?

Ich-Geschichten
Wenn man das Internet als Möglichkeit ernst nimmt, Philosophie zu betreiben - wirkt sich dieses neue Medium auf philosophischen Inhalt aus?

Der Ort der Philosophie
Wie kann man denn - wenn man in seinen Überzeugungen immer von anderen abhängig ist - doch zu einer Weltsicht kommen, die man „seine eigene“ nennen kann?

Intellektuelle Unabhängigkeit
Gibt es Dispute, die trotz aller diskursiven Bemühung nicht in einer für alle Partein zufriedenstellenden Lösung enden können? Und was kann man dann tun?

Der Widerstreit
Wie kann man das Hin und Her zwischen Versuchen, philosophische Systeme zu konstruieren und Versuchen, diese zu dekonstruieren am besten beschreiben?

Bildende Philosophie
Gibt es konkrete positive Vorschläge, wie uns Kunst als Paradigma hilft, Begriffe zu verstehen die für uns philosophisch, kulturell oder menschlich wichtig sind?

Freiheit der Literatur
Wie passiert es eigentlich, dass in der Kunst (und anderswo) immer neue Ideen, neue Stile, neue Darstellungsweisen und ein neuer Blick für die Welt erscheint?

Additionales Element
Wie funktionieren Metaphern und welche Rolle spielen sie in unserem Denken, Sprechen, Handeln und in unserem literarischen Versuch, Sinn zu finden?

Metaphern







poststrukturalismus
Poststrukturalismus




Zum Begriff der “Utopie”

In seiner Geschichte der Utopie definiert Thomas Schölderle den Begriff “Utopie” so: “Als Utopien gelten fortan rationale Fiktionen menschlichen Gemeinwesens, die in kritischer Absicht den herrschenden Missständen gegenüber gestellt sind.” (Schölderle 2017, 17) Mit dieser Definition grenzt er die Utopien ab von eschatologischen Jenseitsvorstellungen, Erzählungen vom Goldenen Zeitalter, Science Fiction und Futurologie. Später schlägt er dann noch eine weitere Unterscheidung vor, bei der “Utopie” der Überbegriff für positive Entwürfe, die er “Eutopien” nennt und negative Entwürfe, die er “Dystopien” nennt (vgl. Schölderle 2017, 137f).

Des Weiteren kann man Utopien danach unterscheiden, welchen Zugang der Protagonist in der Geschichte zu jenem “Nicht-Ort” hat. Schölderle unterscheidet zwischen “Raumutopien” und “Zeitutopien”. Der klassischen Insel Erzählungen sind allesamt Raumutopien, sie stammen aus einer Zeit, als es noch das Gefühl gab, man könnte auf der Erde noch neue Bereiche entdecken. Als diese Idee langsam verschwunden ist, als sich die Ziele und Hoffnungen der menschlichen Kulturen weiterbewegt hatten, verlagerte man den Nicht-Ort in die Zukunft, die ein Protagonist irgendwie erlebt. Ich würde an dieser Stelle noch einen begrifflichen Unterschied machen: den zwischen “Zeitutopie” und “Bewusstseinsutopie” - denn in vielen Erzählungen erreicht der Protagonist die Zukunft in einem Traum - was aber etwas völlig anderes ist, als tatsächlich in die Zukunft zu reisen. Eine Zukunft zu erträumen ist etwas anderes als sie zu erleben (in der Literatur zumindest steht uns diese Möglichkeit ja offen).

Von der vorgeschlagenen Definition, dass Utopien “geistige Laboratorien” sind, um gesellschaftspolitische Missstände zu kritisieren, werde ich wenig übernehmen. Ich denke, es ist ein Ausdruck des Paradigmas der “Wissenschaftlichkeit”, das man erzählerische Beiträge sofort als eine “Kritik” an irgendetwas interpretieren muss und es ist ein Ausdruck des deutschen Akademikertums, das jede philosophische Überlegung sofort auf “das Politische” übertragen werden muss. Beides liegt mir recht fern.

Für mich ist der Entwurf einer Utopie eher Ausdruck der Hoffnung, nicht der Kritik. Anders gesagt, für mich ist eine Utopie (bis jetzt zumindest) am besten definiert als der Ausdruck der Hoffnung, dass die Zukunft besser sein wird als das von Missständen geplagte Hier und Jetzt. Daher ist die Utobiographie Ausdruck der Hoffnung, dass das zukünftige Selbst interessanter, weiter und kohärenter sein könnte das das jetzige Selbst.

Und die Utobiographie bewegt sich irgendwo zwischen Zeit- und Bewusstseinsutopie, da sie klar auf ein zukünftiges Selbst gerichtet ist und nicht auf einen Ort, den man bereisen möchte (sonst wäre dies vielleicht eher ein "Reiseblog" - obwohl man diese Komponente nicht zu schnell ausser Acht lassen darf, das zeigt uns Thomas Bernhard eindrucksvoll in Gehen).

Ein viel fundamentaleres Problem tritt allerdings dabei auf, wenn man das eigene Selbst zum Ziel der utopischen Überlegungen macht - es ist nicht mehr klar, was als erstrebenswertes Ziel solch einer Utopie gelten kann. Warum? In klassischen Utopien wird das Ziel, auf das die Menschheit hinstreben soll und das man in der utopischen Gesellschaft verwirklicht sieht, von außen vorgegeben. Thomas Morus beispielsweise hatte die Idee, dass die Vernunft der Leitfaden für jede menschliche Gesellschaft sein soll (entgegen dem religiösen Irrationalismus der zu seiner Zeit vorherrschte). Dass dies so ist, davon war Morus schon vor der Utopie überzeugt, und die Erzählung ist ein Ausdruck dieser Idee und als solches ist dieses Ziel der Utopie extern.

Wenn man aber das eigene Selbst zum Ziel der Utopie macht, dann wird sich damit ändern, was man für ein Mensch ist und damit auch, welche Ziele man für gut und erstrebenswert hält. Man kann immer nur vom Hier und Jetzt ein Idealbild entwerfen, aber wenn ich mich verändere, verändert sich auch das Idealbild. So gesehen ist eine Utopie, die das eigene Selbst betrifft, fundamentaler als eine, die das politische Zusammenleben betrifft. Im letzteren Fall werden nicht alle Begriffe angerührt, die man für die Kernbeschreibung seines eigenen Selbst benutzt.

Daraus folgen zwei Dinge. Erstens, ist es in der Utobiographie nicht so klar und einfach festzustellen, was denn das Ideal ist, das man anstrebt. Daraus folgt, zweitens, dass mein idealer Selbstentwurf nicht abgeschlossen werden kann. Ich muss ihn ständig re-evaluieren, und zusehen, ob ich die Ziele, die ich vor einem Jahr für erstrebenswert gehalten habe, auch heute noch erstrebenswert finde. Daher ist die Utobiographie nie fertig.



11. Denk an die Werkzeuge in einem Werkzeugkasten: es ist da ein Hammer, eine Zange, eine Säge, ein Schraubenzieher, ein Maßstab, ein Leimtopf, Leim, Nägel und Schrauben. - So verschieden die Funktionen dieser Gegenstände, so verschieden sind die Funktionen der Wörter. (Und es gibt Ähnlichkeiten hier und dort.) Freilich, was uns verwirrt ist die Gleichförmigkeit ihrer Erscheinung, wenn die Wörter uns gesprochen, oder in der Schrift und im Druck entgegentreten. Denn ihre Verwendung steht nicht so deutlich vor uns. Besonders nicht, wenn wir philosophieren!

12. Wie wenn wir in den Führerstand einer Lokomotive schauen: da sind Handgriffe, die alle mehr oder weniger gleich aussehen. (Das ist begreiflich, denn sie sollen alle mit der Hand angefaßt werden.) Aber einer ist der Handgriff einer Kurbel, die kontinuierlich verstellt werden kann (sie reguliert die Öffnung eines Ventils); ein andrer ist der Handgriff eines Schalters, der nur zweierlei wirksame Stellungen hat, er ist entweder umgelegt, oder aufgestellt; ein dritter ist der Griff eines Bremshebels, je stärker man zieht, desto stärker wird gebremst; ein vierter, der Handgriff einer Pumpe, er wirkt nur, solange er hin und her bewegt wird.

Ludwig Wittgenstein - Philosophische Untersuchungen



Inevitably, however, designers will stamp a part of their personality on the way the data is presented. It is a cerebral filter of abstraction that distils, contorts, and reveals a new insight or a profound conclusion from the heart of the data. Each designer has an inherent cultural 'operating system' through which he or she turns meaning into expression, yet the language of data and science is open-ended and culturally neutral.

Ferdi van Heerden - Foreword to Data Flow. Visualising Information in Graphic Design



Intellektuelle Unabhängigkeit

01.11.2021

Paul Feyerabend hat einmal angemerkt, dass Universitäten seiner Ansicht nach wie Supermärkte sein sollen. Jeder Studierende kann sich daraus mitnehmen, was ihm oder ihr am besten gefällt. Die Lehrenden an diesen Universitäten sollen, so gesehen, ihre Waren feilbieten wie Marktverkäufer. Mir geht es hier weder um die Frage, ob kapitalistische Ideen so tief in die Bildungsinstitute fließen sollten (sie sollten es nicht), noch ob wir keine Kontrollinstanzen haben sollten, die überwachen, was feilgeboten wird (wir sollten sie haben). Worum es mir geht, ist die emanzipatorische Idee, dass es in Universitäten kein "Lehrer - Schüler" Verhältnis geben sollte; eine Idee, die man meiner Ansicht nach auf alle intellektuellen Belange ausweiten könnte. Warum nenne ich diese Idee "emanzipatorisch"?

Anmerkung

Nun, drei Jahre später lese ich diesen Absatz wieder und merke, dass ich mich verändert habe. Ich habe hier beiläufig erwähnt, dass es auf den Universitäten Kontrollinstanzen geben sollte, die Überwachen sollen, was feilgeboten wird. Jetzt und hier hat sich meine Antwort geändert. Oder vielleicht eher radikalisiert? Ich würde jetzt eher so etwas sagen: dass Universitäten solche Kontrollinstanzen sehr leicht einführen können, spricht gegen Universitäten als Ort der Philosophie. Das Internet bietet hier viel mehr Freiheit, die wir nutzen können. Aber wie können wir dann sicherstellen, dass nicht ganz verrückte Ideen die Oberhand gewinnen? Ist im Hintergrund doch eine kapitalistisch-evolutionsbiologische Idee dass sich die "besten" Ideen durchsetzen werden? Ich glaube nicht; wir können nicht sicherstellen, dass sich die Ideen, die uns am besten gefallen, durchsetzen werden. Wenn sich "Ideen durchsetzen" ist das ein derart multikausaler Vorgang, dass man ihn nicht auf einen einfachen Nenner wird bringen können. Man kann nur versuchen und hoffen. Aber es ist schön zu sehen, wenn sich die eigenen Ansichten mit der Zeit verändern und man sich weiterbewegt hat.

Wie Josef Mitterer vermerkt hat, ist "die Erziehung zur Wahrheit" immer die "Erziehung zur Wahrheit des Erziehers" anders gesagt, eine Schülerin wird von einer Lehrerin dazu abgerichtet, das zu akzeptieren, was sie selber akzeptiert. Dieser Vorgang der "Erziehung" scheint mir bis zu einem gewissen Grade berechtigt, wenn es um die basalen Überzeugungen unserer Kultur und ihrer Praktiken geht (vergleiche dazu Rorty - "Education as Socialization and as Individualization"). Dass 2 + 2 = 4 und die Erde eine Kugel ist - diese Art von Überzeugungen sind so basal, dass es schwer (aber nicht unmöglich) ist, Menschen zu finden, die etwas anderes behaupten. Anders gesagt, diese überzeugungen liegen momentan derart tief am Fundament unserer Kultur, dass es intellektuell unproblematisch ist, sie Schülerinnen und Schülern beizubringen.

Doch wie steht es um überzeugungen, die über diesen Grundstock hinausgehen? Ob Schiller oder Goethe heute noch interessant sind und warum? Ob analytische Philosophie der Phänomenologie überlegen ist? Ob moderne Kunst nur Humbug ist? Ob in der Physik schon alles entdeckt ist? Bei solchen Fragen, die keineswegs eindeutige (lies: gewohnte) Antworten haben, würde man doch erwarten, dass mündige Menschen in der Lage sind, sich ihre eigene Meinung zu bilden. Aber was soll es denn heißen "sich eine eigene Meinung zu bilden" wenn gar nicht klar ist ob es, wenn man von den Ansichten der Lehrperson einmal absieht, etwas "eigenes" gibt. Und welch ein Zufall es ist, dass auch bei solchen Fragen die Schüler immer gerade die Ansichten als plausibel annehmen, die von der Lehrerin vertreten werden. In den allermeisten Fällen (wenn auch nicht immer natürlich) züchten Wittgenstein Anhänger neue Wittgenstein Anhänger heran, Heideggerianer neue Heideggerianer, Theisten neue Theisten, Demokraten neue Demokraten und so weiter.

Dieses Problem tritt sicher in den Geisteswissenschaften vehementer auf als in Naturwissenschaften oder in der Kunst - denn in den beiden letztgenannten Gebieten funktioniert der dahinterliegende Narrativ anders. In den Naturwissenschaften wird das Lehrer / Schüler Verhältnis oft dadurch überdeckt, dass hier "objektive Fakten" als Stilmittel benutzt werden, um nicht über die menschlichen Aspekte naturwissenschaftlicher Theorien sprechen zu müssen. In der Kunst wird oft der Begriff des "Genies" verwendet um hinter jedem "echten Künstler" alle Brücken der Abhängigkeit abzubrechen. In der Philosophie hingegen hat sich seit der Antike ein relativ starkes Lehrer / Schüler Verhältnis etabliert. Jeder weiß, wessen Schüler Platon war und dasselbe gilt für Aristoteles, Nietzsche, Wittgenstein und die meisten anderen. Wenn man eine beliebige Einführung in eine beliebige Philosophin aufschlägt - man wird dort lesen wen sie "gehört" hat oder wen sie "eingehend studiert" hat. Das gilt sogar für Figuren, die gerne "geniehaft" beschrieben werden, so wie Wittgenstein und Heidegger.

Man kann natürlich viele Strategien finden, um diesen Narrativ umzugestalten, ihn vielleicht sogar loswerden. Meine Methode dazu ist die Folgende. Graz hat - wie auch so manch andere Stadt - die Einrichtung der "offenen Bücherschränke". Jeder, der möchte, kann sich dort Bücher nehmen oder welche hinterlegen, die nicht mehr benötigt oder gewollt werden. Bei diesen offenen Bücherschränken versuche ich nun Feyerabends emanzipatorischen Ideal umzusetzen, ohne die kapitalistische Note. Denn diese Bücherschränke sind gratis, werden von keiner offiziellen Stelle betreut, gepflegt oder kuratiert. Es sind also keine finanziellen Interessen damit verbunden, was man findet ist dem Zufall überlassen.

Ich versuche nun jedes Mal, wenn ich so einen Bücherschrank besuche, ein Buch mitzunehmen, das ich rein nach Titel und einem eventuellen Klappentext auswähle. Das einzige Kriterium für mich ist: es muss mir interessant erscheinen. Danach versuche ich, mit irgendeinem Aspekt dieses Buches etwas anzufangen - positiv wie negativ; einen Einstiegspunkt für meine eigene gedankliche Arbeit zu finden, es mit anderen Beschreibungen in Verbindung zu setzen, die ich sonst anfertige.

Auf diese Weise habe ich bereits viele Bücher und Ideen gefunden, die ich niemals gefunden hätte, wenn ich die herkömmlichen Wege beschritten hätte und auf die mich kein einzelner Mensch hätte bringen können. Das ist der Fall, weil in diesem Vorgang der Zufall eine viel größere Rolle spielt. Freunde geben einem keine zufälligen Literaturtipps. Gelehrte verlassen selten die Pfade ihrer Meinungen. Der Zufall ist in dieser Hinsicht unparteiisch.

Natürlich, man könnte auch in eine Buchhandlung gehen und dort von derselben Idee geleitet Bücher auswählen. Doch mir scheint es zweierlei interessante Unterschiede zu geben. Erstens, entscheidet man anders, wenn finanzielle Aspekte damit verbunden sind. Man entscheidet nicht so frei, denn man hat immer im Hinterkopf "Wenn diese Fährte nichts ist, dann habe ich so und so viel Geld verloren". Zweitens findet man in offenen Bücherschränken Dinge, die man im Buchhandel nicht mehr findet (zumindest nicht so leicht) - und die Bücher die man findet, können noch dazu die Markierungen ihrer früheren Besitzer tragen - auch das sind interessante Wegweisen für meine Herangehensweise.

Ja, auch diese Methode ist nicht frei von Einfluss. Mein Kriterium der Auswahl - das, was mir Interessant erscheint - ist geschichtlich gewachsen und kontingent. Es ist das Ergebnis all jener Begegnungen die ich vor allem in den verschiedenen Universitäten hatte. Doch ist es nicht das Abbild einer einzigen derartigen, langfristigen Begegnung, sondern - so denke ich - die Summe vieler kleiner Begegnungen aus denen sich das ergibt, was ich für "mein Denken" halte.



Der Heidegger auch, der ist doch ein unmöglicher Kerl, der hat weder einen Rhythmus noch sonst etwas. Der hat gelernt von ein paar Schriftstellern, der hat die ausgeschlachtet bis zuletzt. Was wäre der gewesen ohne die. Er ist ein Philister gewesen, ein feister. Das ist nichts Neues, das ist ein Musterbeispiel für jemanden, der skrupellos alle Früchte ißt, die andere eingesetzt haben, und der sich überfrißt, Gott sei Dank. Dadurch wird ihm schlecht und er platzt.

Thomas Bernhard - Gespräch



Paul Feyerabends Relevanz

22.08.2024

Die folgenden Gedanken habe ich zusammengetragen, da ich im Zuge des Forum Alpbach im Seminar von Katharina Neges und Josef Mitterer einen Gastvortrag halten durfte.


2024 jährt sich Paul Feyerabends Geburtstag zum einhundertsten Mal und viele sogenannte Intellektuelle (die oft keine einzige Zeile von Feyerabend gelesen haben) machen sich zu diesem Anlass anheischig, ihn als großen, Denker und Philosophen zu preisen. Ich habe mich eher gefragt, inwiefern Feyerabend in unserer intellektuellen Welt heute noch interessant ist, besonders, wenn man von den wissenschaftsphilosophischen Spezialproblemen absieht, mit denen er sich die meiste Zeit beschäftigt hat. Was können wir also heute noch mit Feyerabend anfangen?

Gehen wir dafür einen Schritt in seine Richtung, historisch gesprochen. Als Feyerabend auf die Universität Wien kam, sah die Situation (vereinfacht) so aus. Der Wiener Kreis hatte in den 1920ern bis in die 1930er hinein das intellektuelle Klima der Philosophie geändert. Durch Entwicklungen und Durchbrüche in Logik und den Naturwissenschaften entstand bei einigen Philosophen vermehrt Begeisterung für den Einsatz wissenschaftlicher Methoden in der Philosophie. Ein direktes Ergebnis dieser Begeisterung war die Verwendung des „Verifikationskriteriums“. Es besagt, dass eine Äußerung nur dann Bedeutung hat, wenn wir angeben können, wie sie im Prinzip empirisch verifiziert werden kann. So gesehen ist „Die Erde ist eine Scheibe“ eine sinnvolle Äußerung, die eine Bedeutung hat (auch wenn sie nach allem was ich für richtig halte, falsch ist). Denn ich weiß im Prinzip, wie ich diese Aussage empirisch überprüfen kann. „Das Universum hat erst vor fünf Minuten zu existieren begonnen“ ist hingegen keine sinnvolle Aussage, dann ich kann sie in keiner Weise empirisch überprüfen, nicht einmal im Prinzip. Diese Äußerung ist also auf demselben semantischen Level wie „Caesar ist eine Primzahl“ oder „Rasumpti plifti hapta hapta“.

Was aus diesem Verifikationskriterium allerdings folgt, ist, dass zweitausend Jahre Philosophiegeschichte (inklusive Metaphysik und Ethik) damit fast durchgehend für sinnlos befunden werden muss. Auch klassische Fragen wie die nach der Wahrheit werden durch das Verifikationskriterium eliminiert. Doch ganz ohne Qualitätsmerkmal ihrer Arbeit wollten diese wissenschaftlich eingestellten Menschen dann doch nicht auskommen und so wurde die „Wahrheit der wissenschaftlichen Aussage“ durch die „Rationalität der Methode“ ersetzt. Es war nun vor allem wichtig, dass die Methode, die zur Überprüfung der Hypothese eingesetzt wird, rational ist, das heißt, den anerkannten Regeln von Logik und Vernunft folgt (wie auch immer dies im Einzelnen ausformuliert wurde).

Außerdem wurden kulturelle Instanzen, die dem menschlichen Leben lange Zeit Bedeutung und Richtung gegeben haben – Theologie und Metaphysik – im Großen und Ganzen für sinnlos erklärt. Auch in dieser Hinsicht musste ein Nachfolger her. Der Wiener Kreis war schon in seinem Manifest Die Wissenschaftliche Weltauffassung darin eindeutig, dass Rationalität und Wissenschaft die neuen Leitsterne von Philosophie, Politik und dem Leben insgesamt sein sollten (hier gab es viele Überschneidungen mit dem Bauhaus).

Die Situation, die Feyerabend vorfand war also ungefähr diese: die Naturwissenschaften und ihre Methoden sind das Sinnbild der Rationalität. Rationalität besteht in der Anwendung genereller methodologischer Regeln auf empirische Einzelfälle, und wir sollten dieses Vorgehen zum Leitstern in jedem Aspekt unseres Lebens zu machen.

Anmerkung

Natürlich war das Bild im philosophischen Wien der Nachkriegszeit komplizierter, ich beschreibe vor allem das Soziotop Feyerabends. Im größeren Maßstab aber gilt: Die Vernunft wurde ins Ausland vertrieben, und sie kam nach dem Krieg kaum wieder. Am Wiener Philosophieinstitut war vor allem die metaphysische Ausrichtung vorherrschend, die von Altnazis bedient wurde, die nach 1945 allzu problematische Stellen aus ihren Texten entfernten, sie neu auflegten, und sich dann gegenseitig großes philosophisches Können bescheinigten. Nun, diese Behauptung wäre durch das Verifikationskriterium falsifiziert worden. Und nicht, dass diese Personen nicht auch untereinander Grabenkämpfe darum ausgefochten haben, wer Hegel nun richtiger interpretiert, aber sie alle waren vereint in ihrer Ablehnung von Rationalität und klarem Denken.

Das klingt doch nach einem guten Weg das menschliche Leben zu verbessern, so der Tenor damals. Doch Feyerabend war sich da nicht so sicher. Nach dem Krieg war er Mitglied im „Kraft Kreis“, der Viktor Krafts Versuch darstellte, den Wiener Kreis wiederzubeleben, nachdem seine Gründungsmitglieder durch die intellektuelle Barbarei der Nationalsozialisten (sprich der österreichischen Bevölkerung) in alle Winde zerstreut wurden. Später war er dann auch Assistent von Karl Popper, dessen Kritischen Rationalismus er zuerst propagierte, um sich dann später umso härter davon abzugrenzen.

Man kann Feyerabends Kritik an der vorherrschenden wissenschaftsaffinen Ansicht in zwei Teile unterscheiden: lokale Kritik und globale Kritik. Für den ersten Strang liefert sein Against Method ein hervorragendes Beispiel. Hier zeigt Feyerabend mit vielen historischen Beispielen, dass Galileo Galilei bei seiner Verteidigung des heliozentrischen Weltbildes weder wissenschaftlich noch rational im oben erklärten Sinne vorging. Viel mehr tat Galileo, was auch immer nötig war, um seinen Punkt durchzusetzen, er griff zu politischen Mitteln um seine wissenschaftlichen Ansichten voranzutreiben, fügte ad hoc Hypothesen hinzu wenn es argumentativ eng wurde und verlies sich auf das Teleskop, welches zu diesem Zeitpunkt weder theoretisch verstanden noch ohne weiteres zugänglich war. Alles in allem zeigt uns Feyerabend das Bild eines irrationalen, unwissenschaftlichen Opportunisten - zumindest wenn man die üblichen Regeln von Wissenschaftlichkeit und Rationalität anwendet. Wie er es später in „Wissenschaft als Kunst“ ausdrückt: „Die Vernunft ist nur selten vernünftig“ (Feyerabend 1984, 49).

Doch, so Feyerabend, das ist keine schlechte Sache. Wir sollten eher unsere philosophisch-methodologischen Ansichten darüber ändern, was es heißt „wissenschaftlich“ und „rational“ zu sein. Denn Fortschritt ist nur durch ein Vorgehen möglich, wie Galileo es uns vorführt. Wie Feyerabends Zeitgenosse Friedrich Waismann es ausdrückte: „Kein großer Entdecker ist je nach dem Grundsatz vorgegangen ‚Alles was sich sagen lässt, lässt sich klar sagen‘.“ (Waismann 1968) . Anders gesagt sollten wir nicht versuchen, jede konkrete empirische Situation so zu bearbeiten, dass sie zu unseren vorher angefertigten, allgemeinen Methoden passt. Besser wäre es, ein Vorgehen rational zu nennen, dass die Methoden an die Erfordernisse der konkreten empirischen Situation anpasst.

Die lokale Kritik besagt also, dass die von Wissenschaftsphilosophen vorgeschlagenen methodologischen Regeln der Rationalität von den Wissenschaftlerinnen selber nicht eingehalten werden. Daraus folgt, dass die tatsächliche Wissenschaft laut Wissenschaftsphilosophen leider irrational und unwissenschaftlich ist. Und es ist wohl klar, wer sein Vorgehen in dieser Situation ändern muss.

Die globale Kritik, die Feyerabend vor allem in Science in a Free Society formuliert hat, lautet, dass Wissenschaft eine kulturelle Unternehmung neben anderen ist. Feyerabend nennt solche Unternehmungen „Traditionen“ und „Wissenschaft“ sei eine solche Tradition unter anderen. Aber Menschen leben Traditionen und nicht umgekehrt – so lässt sich Feyerabends Kritik vielleicht zusammenfassen. Oder anders: es gibt Traditionen, so wie „Wissenschaft“, die die Tendenz haben, sich zur einzig möglichen Tradition zu erklären. Das passiert oft dann, wenn man von der Tradition eine Art von Sinngebung erwartet. Und, so Feyerabend, dieser Verabsolutierung muss Einhalt geboten werden, da sie das menschliche Leben einengt und ärmlicher macht.

Anmerkung

Ich denke, dieser Begriff der "Tradition" kann ähnlich verstanden werden wie Wittgensteins "Sprachspiele", Kuhns "Paradigmen", Flecks "Denkkollektive", Lyotards "Diskursarten" und Malewitschs "Normalität".

Hier wird Feyerabend fast dekonstruktiv – er zeigt nicht, dass mit der Tradition „Wissenschaft“ im Vergleich zu anderen Traditionen etwas nicht stimmt, sondern, dass es auch andere Traditionen gibt, die zu anderen Ergebnissen kommen und die ebenso valide sind wie „Wissenschaft“.

Jedenfalls ist alle Kritik anderer Traditionen im Namen der „Wissenschaftlichkeit“ immer mit dem methodologischen Mitteln, die aus dieser Tradition stammen, formuliert. Und ja, wenn wir uns in der Tradition „Wissenschaft“ befinden, dann können wir diese methodologischen Mitteln akzeptieren (oder auch nicht, wie im Fall von Galileo). Aber wenn wir uns in einer anderen Tradition befinden, ist es schwer einzusehen, warum uns die methodologischen Regeln einer anderen Tradition derart herumschubsen können. Können sie auch nicht, sagt uns Feyerabend.

Die globale Kritik besagt also, dass die methodologischen Regeln einer Tradition immer nur innerhalb der Tradition wirken können (wenn überhaupt) aber dass man andere Traditionen damit nicht als besser oder schlechter herausstellen kann. Traditionen sind nicht schlechter oder besser, sie existieren einfach, wie Feyerabend sagt. Und jeder Versuch, eine zu verabsolutieren, muss kritisiert und abgeschwächt werden.

Aber was bedeutet das für unsere Eingangsfrage? Warum ist das relevant für uns, vor allem wenn wir nicht so tief in die Wissenschaftsphilosophie eingetaucht sind? Ich denke darum: Feyerabend ist am stärksten, wenn er Positionen anderer kritisiert und zeigt, dass sie nicht das letzte Wort haben, auch wenn sie sich so inszenieren. Aber wir sollten Feyerabend nicht so interpretieren, dass er über diese Kritik hinaus selber eine positive Theorie vorbringen will. Es ist hilfreicher, Feyerabend als kritischen, als bildenden Philosoph zu sehen, der das Gespür dafür am Leben hält, dass kein Versuch einer Verabsolutierung das letzte Wort haben wird.

Im Andenken an Feyerabend sollten wir also jedes Mal, wenn jemand einen Geltungsanspruch anmeldet, der auf alle Mitglieder einer philosophischen Richtung, einer Tradition oder Menschen ganz allgemein zutreffen soll, innehalten und unsere dahingehende Skepsis lokal und global kund tun. Und ich denke, dieser permanente Aufstand gegen Verabsolutierungen ist heute so aktuell wie je.





Kann man sagen, es gibt einen Hunger, der dich krankhungrig macht. Der immer noch hungriger dazukommt, zu dem Hunger, den man schon hat. Der immer neue Hunger, der unersättlich wächst und in den ewig alten, mühsam gezähmten Hunger hineinspringt.

Herta Müller - Atemschaukel




Als ich ihm folgte, in das Vorhaus hinaus, wo ich stehenblieb, hörte ich durch die offene, halb eingefrorene Gasthaustür das langgezogene Heulen der Hunde. Und das Gebell. Das unendlich langgezogene Heulen, in das das Gebell hineinbiß.

Thomas Bernhard - Frost

Der (Noch-nicht)Ort der Philosophie

11.04.2024

Der Vorwurf der Nutzlosigkeit wird schon seit je her an die Philosophie herangetragen. Bereits Aristoteles muss sich die ihm angehängte Geschichte gefallen lassen, dass er in einen Brunnen fiel, weil er nur den Himmel im Blick hatte und sich so den Spott einer thrakischen Magd zuzog. Viel später, 1905, schlug William James in eine ähnliche Kerbe. Er bemängelte

the gray-plaster temperament of our bald-headed young Ph.D.’s, boring each other at seminaries, writing those direful reports of literature in the Philosophical Review and elsewhere, fed on “books of reference”, and never confounding “Ästhetik” with “Erkenntnistheorie”. (James 1920, 228f).

Diese Linie der Kritik, weniger Spott als Ausdruck der Verbitterung, hat auch Richard Rorty aufgenommen, wenn er in seinem Spiegel der Natur feststellte, dass sich der Elfenbeinturm für die Philosophie als kulturelle Sackgasse herausgestellt hat. Die Philosophie schien in ihrer

hergebrachten Anmaßung um so absurder, je „wissenschaftlicher“ und „strenger“ sie wurde. Versuche von seiten der analytischen Philosophen und der Phänomenologen, dies zu „begründen“ oder jenes zu „kritisieren“, stießen bei den Betroffenen, deren Tätigkeiten vermeintlich begründet oder kritisiert wurden, auf bloßes Achselzucken. (Rorty 1981, 15).

Ich stimme der thrakischen Magd nicht darin zu, dass Philosophie lächerlich oder per se nutzlos sei, ganz im Gegenteil. Doch ich stimme James und Rorty zu, dass universitäre Philosophie kulturell irrelevant geworden ist. Und ich gehe weiter, wenn ich sage, dass Universitäten nutzlos sind, wenn sie vorgeben Philosophie zu lehren. Ich denke, die Philosophie sollte weiterziehen, raus aus den Universitäten – doch warum? und wohin? Die Antwort darauf hat zwei Teile – Analyse der Situation und Vorschlag einer Verbesserung.

Analyse. Universitäten, wie sie nun betrieben werden, sind der kapitalistischen Logik unterworfen. Es wird beforscht, was Geld einbringt. Texte und Bücher werden veröffentlicht, weil das Institut eine bestimmte Publikationsquote erfüllen muss. Philosophie gebärdet sich wie eine Naturwissenschaft weil naturwissenschaftliche Institute besser gefördert werden. Die eingereichten Forschungsprojekte handeln von derartigen Nischenthemen, dass sie nicht einmal alle Projektmitarbeiter interessieren - die Hauptsache ist, dass der Projektantrag und damit die Finanzierung bewilligt wird. Vortragende und Professoren werden nicht nach Befähigung eingestellt, sondern danach, ob sie den anderen Mitgliedern des Instituts gefallen.

Anmerkung

"Gefallen" kann hier vieles bedeuten. Sie können gefallen weil sie harmlos sind und keinen institutspolitischen Widerstand leisten, weil sie vorher schon Freundschaften mit Mitgliedern des Instituts geschlossen haben, weil sie viele Projekte und Geld mitbringen, weil sie Prestige bringen, weil sie der „richtigen“ philosophischen Schule angehören und vieles mehr.

Menschen werden für Vorträge und Konferenzen rund um den Globus geflogen, damit sie Werbung für sich und ihr Institut machen können. Diskussionsrunden werden als intellektueller Schaulauf benutzt um zu zeigen wie Schlagfertig (und damit Förderungswürdig) man ist. Die Mitglieder der Institute sind (oft aus Neid) untereinander zerstritten und versuchen sich gegenseitig zu blockieren. Das Reviewsystem für Zeitschriften simuliert nicht einmal, dass es um Qualität geht sondern um soziale Reproduktion und damit finanzielles Monopol. Zeitschriften und Fachbücher müssen um horrende Preise angeschafft werden, damit sie dann in den Universitätsbibliotheken nicht gelesen werden. Konferenzen und Vorträge haben oft teure Gebühren, und auch Reise und Unterkunft müssen bezahlt werden. Diese Liste lässt sich fortsetzen.

Kurz, die universitäre Philosophie wird von sehr vielen externen Faktoren (oft kapitalistischer Natur) bestimmt. Man kann eine große Menge dieser Faktoren zusammenfassen und sagen, dass Universitäten, als geographische Orte, all jenen Einschränkungen unterworfen sind, die für geographische Orte nunmal gelten: man kann kontrollieren wer den Ort betreten kann und wer nicht, man kann kontrollieren, wer an Machtpositionen ist, man kann kontrollieren wohin wie viel Geld fließt, man kann die Inhalte kontrollieren die weitergegeben werden können und dergleichen mehr. Wenn man den „Ort der Philosophie“ als „geographischen Ort“ deutet, dann unterwirft man die Philosophie den Beschränkungen der ausgedehnten Körper. Anders gesagt, die philosophischen Ideen sind dann gefangen im gekerbten Raum der Universitäten.

Ideen kommen nur so weit, wie sie sich durch den Raum ausbreiten können. Vor der Schrift waren Ideen also sehr direkt an die Menschen gebunden, die sie hatten. Durch die Schrift konnten sich Ideen von ihren Urhebern entfernen, und das im geographischen wie auch im zwischenmenschlichen Sinn. Ich kann heute die Texte von Platon lesen, ohne zu wissen, was er wohl für ein Menschen war und ohne über die politischen Ränkelspiele zu wissen, die in seiner Akademie vor sich gingen. Durch den Buchdruck wurde der Geschwindigkeit der Ideen noch einmal erhöht. (Ich klinge ein wenig wie Paul Virilio.)

Philosophischen Bücher, die darin enthaltenen Ideen und die Menschen die sie lernen wollen haben sich also um geographischen Gravitationszentren herum gruppiert – den Universitäten. Bücher sind letztlich immernoch ausgedehnte physikalische Gegenstände und unterliegen daher prinzipiell denselben Einschränkungen wie Menschen und Steintafeln. Und dadurch, dass einige wenige Menschen die Möglichkeit haben, über diese Gravitationszentren zu bestimmen, kommt es zu all den Problemen, die ich gerade angeführt habe. Machtpolitische Kalküle übernehmen die Ordnung der philosophischen Diskurse, irrelevante Themen werden von wenig befähigten Individuen beforscht die ihre soziale und intellektuelle Reproduktion durch Geld sicherstellen.

Vorschlag. Sind Texte - und der sprachliche Ausdruck von Ideen im allgemeinen - noch derart an physikalische Objekte (Bücher, Stimmbänder) gebunden, so, dass es diese Einschränkungen durch Universitäten rechtfertigen würde? Ich denke nicht. Durch das Internet haben sich das geschriebene und das gesprochene Wort von ihren physikalischen Trägern gelöst. Wir können daher versuchen, das Internet zum "Ort der Philosophie" zu machen und so die Universitäten zu ersetzen. Die Bewegung hat vielleicht schon begonnen, wir können (und sollten) sie beschleunigen.

Zum ersten Mal wäre dieser Ort dann nicht geographisch verstanden und das ist das Neue daran (so gesehen ist dieser Vorschlag utopisch, weil sie auf einen Nicht-Ort referiert). Im Internet kann niemand derart despotisch über die angebotenen Themen herrschen wie auf Universitäten. Niemand kann den Austausch regulieren. Niemand kann durch Institutspolitk bestimmen, wer das Wort ergreifen darf, oder wer schon im Keim erstickt wird, bevor sie überhaupt die Möglichkeit hat, ein eigenes Wort zu entwickeln. Niemand muss horrende Summen bezahlen um Texte und Beiträge an die Öffentlichkeit zu bringen oder sie zu konsumieren. Man könnte all die unnötigen Konferenzen abschaffen, für die Menschen für Unsummen rund um den Planeten transportiert werden nur um sich gegenseitig mit schlechten Vorträgen zu langweilen oder um sich in Diskussionen (durch die Blumen) vorzuwerfen, dass sie vom Themengebiet keine Ahnung hätten.

Man sollte die Diskursmacht also aus den Universtäten abziehen und sie den Leuten geben, die sich für die Sache begeistern. Wenn man sich mit Philosophie beschäftigt, sollte man nicht hoffen, ein Studium mit einem Titel abzuschließen. Man sollte nicht zum Ziel haben „Universitätsprofessor für Philosophie“ zu werden oder die Texte, die einem etwas bedeuten, an engstirnigen Reviewern vorbeizuschleusen. Man sollte keine Menschen dafür bezahlen, damit sie die Diskursmacht der Universitäten absichern. Man sollte nicht versuchen, die übrige Kultur aus den Universitäten heraus zu fundieren oder zu beschränken, wer was über wen wo lernen darf.

Stattdessen sollte man es zum Ziel haben, neue interessante Dinge zu hören, zu lesen, zu sagen und zu schreiben und man sollte versuchen, seine Ich-Geschichte morgen reichhaltiger zu gestalten als heute.





White on White (Malevich, 1918)


Pragmatists think that if something makes no difference to practice, it should make no difference to philosophy. This conviction makes them suspicious of the distinction between justification and truth, for that difference makes no difference to my decisions about what to do. If I have concrete, specific doubts about whether one of my beliefs is true, I can resolve those doubts by asking whether it is adequately justified - by finding and assessing additional reasons pro and con. I cannot bypass justification and confine my attention to truth; assessment of truth and assessment of justification are, when the question is about what I should believe now, the same activity.

Richard Rorty - Is Truth a Goal of Inquiry? Donald Davidson vs. Crispin Wright.




Entitäten

A: Momentan halte ich das für eine hilfreiche Idee: Man kann die Welt (im weitesten Sinne des Wortes) auf verschiedene Weisen in Entitäten aufteilen. "Entität" übernehme ich hier von Katharina Neges. Eine Entität ist alles, dem man Eigenschaften zuschreiben kann und eine Entität besteht aus diesen Eigenschaften. Diese Darstellung akzeptiert die zentrale Idee von Josef Mitterers nicht-dualisierenden Redeweise - nämlich, dass eine ontologische Trennung von "Sprache" und "Welt" nicht sonderlich hilfreich ist. Statt mit einer grundlegenden Dualität zu beginnen, bilden Entitäten die einheitliche Basis unserer Versuche, mit der Welt umzugehen. Damit sind physische Objekte Entitäten, aber auch Prozesse, sprachliche Äusserungen, Begriffe, mentale Zustände, Erinnerungen, Ideen, übernatürliche Geschehnisse, logische Operationen, und alle Arten von vergangenen oder zukünftigen Vorgängen. Je nachdem, mit welcher Art von Entität man es zu tun hat - beispielsweise mit einem Prozess, einem physischen Objekt, einem transzendenten Wesen, einem Tier, einem Menschen oder einem zukünftigen Vorgang - kann man dann andere Dinge im Sprachspiel damit tun. Zukünftigen Entitäten kann man zum Beispiel weniger Sicherheit beilegen, als einer Entität, die physisch vor mir liegt; von anderen Entitäten erwarten wir, dass wir sie berühren können, bei wieder anderen würde das den Witz der Entität zerstören (beispielsweise bei transzendenten Vorgängen oder bei Qualia).

Anmerkung

Josef Mitterer hat für seinen Non-Dualismus an dieser Stelle den Begriff "Beschreibung" verwendet. Aber, wie Katharina Neges betont hat, ist dieser Begriff sehr missverständlich, da er suggeriert, dass der Dualismus von Welt und Sprache in Richtung zur Sprache aufgelöst wird (weil Beschreibung einen sprachlichen Vorgang darstellt). Deswegen stellen dann dadurch verwirrte Menschen Fragen wie "Fahren wir dann mit der Beschreibung des Autos zur Arbeit?" oder "Beiße ich in die Beschreibung des Apfels?". Interessanterweise hat Mitterer selbst in seiner Dissertation, die die fast unveränderte Grundlage für Das Jenseits der Philosophie bildet, noch von einer "objektierenden Sprechweise" gesprochen. Mir scheint "Entität" hier jedoch hilfreicher als "Beschreibung".

Eine Entität setzt sich dabei aus anderen Entitäten zusammen, man kann sich das vielleicht wie ein Fraktal vorstellen. Aus welchen Arten von Entitäten kann eine Entität bestehen? Im Prinzip aus allen, es kommt auf die Zusammensetzung an. Hierin unterscheiden sich Entitäten von "Begriffen" wie wir sie üblicherweise verstehen, denn alle Elemente eines Begriffes sind selber begrifflich strukturiert. Meiner Idee nach sind Begriffe eine Teilmenge der Entitäten. Wenn ich diesen Unterschied klar darstellen möchte, werde ich Entität in einer anderen Schriftart schreiben und Anführungszeichen verwenden, um einen "Begriff" anzuzeigen. Natürlich, letztlich müsste ich alles in dieser Schriftart schreiben, da sich ja alles aus Entitäten zusammensetzt. Damit aber die Funktion der Hervorhebung gewahrt bleibt, werde ich diese Schriftart nur für die Entitäten verwenden, die gerade das Thema sind.

Anmerkung

Die Wahl für eine andere Schriftart als Kennzeichnung für Entitäten hat Vorteile aber auch Nachteile. Diese Kennzeichnung ist optisch weniger ablenkend als die "Ausführungszeichen", die Mitterer verwendet hat um Beschreibungen zu kennzeichnen. Auf der anderen Seite legt es die Darstellungsweise doch wieder auf Buchstaben, das heißt begriffliche Entitäten fest. Eine Farbcodierung wäre hier eine andere Option, weil man auch Bilder oder Fotos farblich hervorheben kann, zum Beispiel durch eine Hintergrundfarbe. Jedoch habe ich hier schon einige Farben verwendet und sie kennzeichnen ansonsten eher eine Interaktionsmöglichkeit, daher wollte ich nicht noch eine weitere Farbe einführen.

Einige Beispiele

Nehmen wir als erstes Beispiel eine Entität, einen Tisch. Solche Startpunkte können wir "minimale Entitäten" nennen, Mitterer nennt das "Angabebeschreibung", beides will auf dasselbe hinaus, denke ich: man hat nach der Einführung in den Diskurs ein neues Element, das man dann verwenden kann. Den Tisch können wir in verschiedene Richtungen weiterentwickeln, je nachdem, mit welchen anderen Entitäten wir diese minimale Entität verbinden. Aber zu Beginn hat so eine minimale Entität relativ wenig Eigenschaften (Konturen?) die dann nach und nach durch Verwendung dazukommen. Je länger man also eine Entität verwendet, desto umfangreicher wird sie.

Wir können den Tisch also auf verschiedene Weisen mit anderen Entitäten verbinden. Er kann ein physikalisches Objekt sein (wenn ich ihn gerade als Schreibtisch benutze) oder auch ein vorgestelltes Objekt (wenn ihn eine Romanfigur als Schreibtisch benutzt).

Sagen wir, es geht um einen physikalischen Tisch.
Diesen Tisch farbig lackieren oder Diesen Tisch zu zerkratzen fügt der Entität ebenso etwas hinzu, wie zu in seiner Gegenwart zu sagen "Dieser Tisch ist hässlich" oder "Ich schenke dir diesen Tisch". Danach ist die Entität Dein grüner Tisch mit Kratzern der früher mir gehört hat, davor war sie Mein gelber Tisch, den ich hässlich finde.
Sagen wir, es geht um einen vorgestellten Tisch.
Vielleicht um den Sekretär, den Victor Eremita zu Beginn von Søren Kierkegaards Entweder - Oder kauft. Dieser Tisch, der ein Sekretär ist, übt eine unwiderstehliche Anziehung auf Eremita aus, sodass er in schließlich kauft. Und dann finden wir heraus, dass es auch der Tisch ist, der die Schriften des Ästheten A und des Ethikers B enthält, die den Inhalt dieses Buches bilden.

Sagen wir, es geht um einen physikalischen Tisch.
Diesen Tisch farbig lackieren oder Diesen Tisch zu zerkratzen fügt der Entität ebenso etwas hinzu, wie zu in seiner Gegenwart zu sagen "Dieser Tisch ist hässlich" oder "Ich schenke dir diesen Tisch". Danach ist die Entität Dein grüner Tisch mit Kratzern der früher mir gehört hat, davor war sie Mein gelber Tisch, den ich hässlich finde.

Oder sagen wir, es geht um einen vorgestellten Tisch.
Vielleicht um den Sekretär, den Victor Eremita zu Beginn von Søren Kierkegaards Entweder - Oder kauft. Dieser Tisch, der ein Sekretär ist, übt eine unwiderstehliche Anziehung auf Eremita aus, sodass er in schließlich kauft. Und dann finden wir heraus, dass es auch der Tisch ist, der die Schriften des Ästheten A und des Ethikers B enthält, die den Inhalt dieses Buches bilden.

Vielleicht helfen hier einige weitere Beispiele. Ludwik Fleck zeigt uns im bezug auf die Syphilis, wie sich historisch gesehen eine neue Entität bildet. Ein Haufen verstreuter Aspekte - andere Entitäten - wurden hier in einer neuen Entität, einer distinkten Krankheit mit distinktem Namen, zusammengefasst, da die Entität Syphilis mehr Erfolg in der Vorhersage vom verhalten anderer Entitäten geliefert hat, zum Beispiel das Verhalten und die Zustände der Entitäten, von denen man dann sagen konnte, sie hätten diese Krankheit. Da Syphilis gewinnbringend eingesetzt werden konnte, gewann diese Entität an Relevanz und Festigkeit. "Sie setzte sich durch" wie man ontologisch agnostisch sagen kann ("Es gibt diese Krankeit wirklich" würden Realisten nun sagen.)

Andere Entität verlieren irgendwann ihre Relevanz, man sagt dann sie sind nicht wirklich. Früher war in bestimmten Kulturen eine Entität namens Osiris in Gebrauch, und Nilüberflutung war ein Aspekt, der dieser Entität zugeschrieben war, neben allerhand anderer physischer und mentaler Zustände und vielen Praktiken, um mit dieser Entität in Kontakt zu treten. Heute ist Nilüberflutung üblicherwiese doch eher an die Entität Schneeschmelze geknüpft und so auch in Gebrauch. Ebenso versuchen auch nur mehr die wenigsten, mittels religiöser Rituale mit dieser Entität Kontakt aufzunehmen. Osiris wird heute nur noch von historisch interessierten Personen oder in Videospielen oder Literatur verwendet, aber nicht mehr um Vorgänge des alltäglichen Lebens zu beschreiben. Anders gesagt, die Entität Osiris wurde mit erfunden verknüpft.

Ein aktuelles Beispiel, wo gerade öffentlich zur Diskussion steht, was alles Teil der Entität sein soll, ist gender. Lange Zeit war es Teil von gender, dass es biologisch vorgegeben ist, dass bestimmte natürliche Wesensmerkmale darunterfallen, dass durch diese biologischen Vorgaben bestimmte Rollen in der Kultur einhergehen und so weiter. Durch feministische Strömungen, besonders aber durch die Arbeiten von Judith Butler, haben wir die Möglichkeit bekommen, die Entität neu zu verstehen. Gender als etwas, dass man aktiv mitbestimmen kann, das vor allem eine kulturelle Entität ist, das auch Auswirkungen auf die Biologie hat und nicht umgekehrt. So wird aus einer Entität, die durch biologische Faktoren bestimmt wird, eine Entität bei der menschliche und kulturelle Entscheidungen eine wesentliche Rolle spielen. Oder besser: würde, denn die Debatte ist noch nicht abgeschlossen.

Wir sehen an diesen Beispielen, dass Entitäten aus sprachlichen und nichtsprachlichen Entitäten gleichermaßen bestehen können; aber auch aus vorgestellten, physikalischen, oder mentalen Entitäten und natürlich jeder möglichen Kombination (es verzerrt hier die ganze Sache, dass alle diese Erklärung in einer bestimmten Art von Entitäten verfasst sind - in begrifflichen Entitäten). Wir haben ja vom Non-Dualismus gelernt, dass diese ontologisch aufgeladene Trennung zwischen Sprache und Welt optional ist. So kann ich beispielsweise jedes Mal, wenn ich Sätze bilde, in denen eine Hand vorkommt, meine Hand heben, statt „Hand“ zu sagen. Oder einen Zettel hochhalten, auf dem „Hand“ steht. In diesem Fall sieht man leicht, dass man Sprachsituationen so beschreiben kann, dass sie keine interessante Unterscheidung zwischen Sprache und Nicht-Sprache machen. Eine ähnliche Geschichte lässt sich laut Davidson über die Trennung von Schema und Inhalt sagen. Oder über mentale Zuständen und Gehirnzustände erzählen, wie wir von Rortys Antipoden gelernt haben. Dasselbe gilt von der Unterscheidung zwischen analytischen und synthetischen Urteilen, wie wir von Waismann und Quine gelernt haben. Mit seiner non-dualistischen Kritik reiht sich Mitterer also in eine sprachphilosophische Tradition ein, die gegenüber jedweder ontologischen Trennung skeptisch ist und sie für optional erklärt.

Diskussion

B: Ich weiß nicht genau, was das heißen soll – ist man denn in der Beschreibung der Entitäten nicht sozusagen der Wirklichkeit Rechenschaft schuldig? Gibt es nicht deshalb bestimmte Entitäten, weil wir sie in der Welt vorfinden und daher beschreiben können und andere nicht? Wir haben doch gute Gründe von Syphilis und Schneeschmelze zu reden, immerhin bezeichnen diese Lautfolgen Entitäten die es wirklich gibt während es Osiris oder Hexenzauber nicht gibt? Du hast gesagt, die Entität Syphilis zu benutzen bringt Erfolg in der Vorhersage – aber was ermöglicht denn diesen Erfolg wenn nicht, dass diese Entität tatsächlich existiert?

C: Aber fällst Du damit nicht hinter Rorty und Mitterer zurück? Denn was du nun sagst ist, dass Entitäten aus „Welt-teilen“ zusammensgetzt werden. Analog dazu kann man sich aus einem Haufen Legosteinen die herauspicken, die man zu einem Haus, oder irgendeiner anderen Lego-entität, zusammenbauen möchte. Aber die Steine gab es zuvor bereits, sie werden nur neu strukturiert. Waren Rorty und Mitterer hier nicht weiter, wenn sie gesagt haben, man solle sich die Sprache nicht so vorstellen als würde sie die Welt ordnen sondern so als wäre sie ein weiterer Vorgang in der Welt, neben anderen?

A: Ja, die Entität Wirklichkeit ist alles in allem sehr wirkmächtig, und wirklich sein kann man ebenfalls vielen Entitäten beilegen. Welchen Entitäten man wirklich sein zuschreibt und welchen nicht ist allerdings eine historisch gewachsene und ideosynkratische Sache, die viel vom Kontext abhängt, in dem man sich befinden – Kuhn nennt es „Paradigma“, Fleck „Denkkollektiv“, Malewitsch die "normale Situation". Die antiken Ägypter legten Wirklichkeit vielen göttlichen Wesen bei, Katholiken heute wenden es nur auf ein göttliches Wesen an, Athestien auf keines, dafür wenden die allermeisten Menschen momentan Wirklichkeit auf allerhand andere unbeobachtbare Entitäten an, wie Atome, Wellen und Kraftfelder und nicht auf Flüche oder Verwünschungen.

B: Aber mein Punkt war doch, dass man sich nicht aussuchen kann, auf welche Entitäten man Wirklichkeit anwenden möchte, sondern, dass das dem Menschen vorgegeben ist?

A: So spielt man Sprachspiele mit der Entität Wirklichkeit, ja. Vielleicht ist das eine gute Zusammenfassung des Disputes zwischen „Realisten“ und „Nicht-Realisten“. Die erste Gruppe meint, dass eine vom Menschen unabhängige Welt eine wichtige Rolle spielt in unseren intellektuellen Bestrebungen. Die andere Gruppe meint, dass diese „unabhängige Welt“ ein Versuch neben anderen ist, sich zurechtzufinden und das geistige Leben zu ordnen. Wie auch immer wir dazu stehen, es muss uns klar sein, dass es keine Argumente geben wird, die die Richtigkeit einer der beiden Positionen logisch stringent herleitbar macht. Argumentation benötigt einen geteilten Hintergrund, alle beteiligten Seiten müssen darüber einig sein, wie logisches Schließen funktioniert, was Schlüssigkeit ist, was als rationales Ergebnis gilt, und so weiter. Aber im Disput „Ralismus – Nicht-Realismus“ gibt es im Großen und Ganzen keinen geteilten Hintergrund. Man ist sich vielleicht über das ein oder andere logische Muster einig, aber man teilt sich zum Beispiel keinen Begriff der "Rationalität". Daher wird eine Seite bestimmte Ergebnisse und Zwischenkonklusionen als rational vertretbar annehmen, die andere Seite allerdings nicht. Das selbe Problem tritt auch bei der Disksussion zwischen religiösen und wissenschaftlichen Weltauffassungen auf. Eindeutig stehe ich hier auf Seiten der „Nicht-Realisten“, ich denke, Wirklichkeit ist der Versuch Erlebnisse zu strukturieren und sie in eine bestimmte sprachliche Form zu bringen, die vorhersehbar und autoritativ ist. Aber sie ist nicht der erste Versuch und wird auch nicht der letzte gewesen sein. Aber es ist ein Versuch, der sich sehr elegant gegen Kritik immunisiert, ebenso wie sich „Gottes Wege sind wunderbar“ gegen jeden Zweifel zu immunisieren versucht. Wenn man Gott kritisieren möchte, dann hat man nur nicht verstanden, was eigentlich abgeht. Das selbe mit der Wirklichkeit – wenn man diesen Begriff und seine Verwendung kritisieren möchte, dann muss man wohl verrückt geworden sein, wer könnte denn bezweifeln, dass es die Wirklichkeit gibt? Hier muss man sich aber vor Augen halten, dass es zwei verschiedene Ebenen gibt: Innerhalb von Sprachspielen in denen Wirklichkeit eingesetzt wird, wäre es tatsächlich verrückt, zu sagen, es gäbe keine Wirklichkeit. Oder es ist zumindest eine wilde Aussage die viel Erklärung bedarf. Doch mein Punkt ist auf einer Metaebene. Ich sage nicht, es gibt keine Wirklichkeit, ich sage dass die Entität und die damit verbundenen Sprachspiele nun in spezifischen Situationen hilfreich sind. Der Realist wird nun replizieren, dass ich es mir nicht Aussuchen kann, welche Begriffe ich verwende, weil sie durch etwas nicht-menschliches vorgegeben werden. Ich entgegne, dass sich die Wirklichkeit noch nie derart bei mir gemeldet hat. Alles, was sich gemeldet hat, waren andere Menschen, die im Namen der Wirklichkeit gesprochen haben...
A: Ich bin mir nicht sicher, ob ich „zurückfallen“ sagen würde, aber jedenfalls würde ich sagen, dass ich eine leicht abgewandelte Formulierung für plausibel halte. Aber ich würde nicht sagen, dass ich in meiner Darstellung auf „zuvor unbeschriebene“ Legosteine zurückgreife. Denn die Teile die man zu Entitäten hinzufügen kann, sind ja selbst Entitäten und damit schon zusammengesetzt. Aber, man kann eine Entität als unbeschrieben beschreiben und das zum Teil dieser Entität machen. Man versteht die Entität physikalischer Gegenstand nur richtig, wenn man sagt, dass sie auch exisiteren, wenn keiner hinsieht. Dinosaurier haben vor Jahrmillionen existiert, vor allen Menschen, die sie beschreiben oder als Entitäterfassen hätten können. Aber es ist Teil der Entität Dinosaurier dass sie Lebewesen sind, und als solche zu den physikalischen Gegenständen gehören (ausser man ist zum Beispiel Kreationist, dann wird man sagen Dinosaurier sind Fabelwesen und als solche nicht wirklich). Daher kann man dann sagen, dass sie schon vor allen Menschen existiert haben. Wer an dieser Stelle sagt, dass die Existenz von Dinosauriern von Menschen abhängt, der hat entweder das Sprachspiel nicht verstanden, kennt die Entität Dinosaurier nicht oder glaubt nicht an ihre wirkliche Existenz. Aber das sagt nichts über zuvor schon existierende Aspekte einer unbeschriebenen Welt aus, sondern nur darüber, wie man bestimmte Entitäten regelkonform benutzt.

C: Gut, Entitäten bestehen aus anderen Entitäten und man kann hier vielleicht ein holistisches Bild zeichnen, wie diese Entitäten sich gegenseitig ergänzen, stützen und zusammenspielen. Und Du hast gesagt, dass es für verschiedene Entitäten verschiedene Regeln gibt, wie man sie richtig benutzt und dass man nur „über dasselbe“ redet, wenn man dieselben Regeln verwendet. Aber müsstest Du nach dieser Logik nicht zuallererst damit beginnen, den skaptischen Zweifel zu widerlegen? Denn, wenn man dieses Spiel richtig spielt, scheint es als würde die Möglichkeit, dass uns ein böser Dämon jederzeit betrügt all unsere epistemologischen Bemühungen zunichte zu machen?

A: Auch beim skeptischen Zweifel gilt: ich denke nicht, dass es ein Argument dagegen gibt, denn ein Argument ist die Rückführung der Konklusion auf die basaleren Prämissen. Wenn nun die Konklusion des Arguments sein soll, dass die Aussenwelt existiert, dann fällt mir keine Möglichkeit ein, eine basalere Prämisse zu finden – was könnte noch grundlegender sein, als dass die Welt existiert? In diesem Sinne haben manche auch G.E. Moores „Beweis der Aussenwelt“ interpretiert – nicht als Antwort auf den Skeptiker, sondern als Zurückweisung der Frage. Ich möchte einen ähnlichen Weg gehen – ich denke nicht, dass der skeptische Zweifel etwas ist, das wir beantworten sollten, sondern wir sollten ihn als uninteressant einfach ignorieren. Der skeptische Zweifel gehört letztlich zu realistischen Paradigmen und tritt nur in diesen als Problem auf. Aber wir müssen uns nicht mit alten Problemen herumschlagen, die aus anderen Sprachspielen kommen. Es ist einer der großen Vorteile meiner Ansicht über Entitäten, dass es uns jederzeit freisteht, neue Entitäten zu erschaffen, wenn wir das für nötig erachten. Und mit neuen Entitäten gehen neue Probleme einher, andere werden uninteressant. Wahrheit, Wirklichkeit und skeptischer Zweifel sind drei Probleme die mit alten Entitäten und ihrem Umgang verbunden sind. Ich möchte sie also nicht lösen sondern ignorieren. Ich sage aber nicht es gäbe diese Entitäten und ihre Probleme nicht – ich sage nur, dass es nicht meine Probleme sind.

Ein möglicher Gesprächsverlauf:

B: Ich weiß nicht genau, was das heißen soll – ist man denn in der Beschreibung der Entitäten nicht sozusagen der Wirklichkeit Rechenschaft schuldig? Gibt es nicht deshalb bestimmte Entitäten, weil wir sie in der Welt vorfinden und daher beschreiben können und andere nicht? Wir haben doch gute Gründe von Syphilis und Schneeschmelze zu reden, immerhin bezeichnen diese Lautfolgen Entitäten die es wirklich gibt während es Osiris oder Hexenzauber nicht gibt? Du hast gesagt, die Entität „Syphilis“ zu benutzen bringt Erfolg in der Vorhersage – aber was ermöglicht denn diesen Erfolg wenn nicht, dass diese Entität tatsächlich existiert?

A: Ja, die Entität „Wirklichkeit“ ist alles in allem sehr wirkmächtig, und „wirklich sein“ kann man ebenfalls vielen Entitäten beilegen. Welchen Entitäten man „wirklich sein“ zuschreibt und welchen nicht ist allerdings eine sehr historisch gewachsene und ideosynkratische Sache, die viel vom Kontext abhängt, in dem man sich befinden – Kuhn nennt es „Paradigma“, Fleck „Denkkollektiv“, Malewitsch die normale Situation. Die antiken Ägypter legten „Wirklichkeit“ vielen göttlichen Wesen bei, Katholiken heute wenden es nur auf ein göttliches Wesen an, Athestien auf keines, dafür wenden die allermeisten Menschen momentan „Wirklichkeit“ auf allerhand andere unbeobachtbare Entitäten an, wie Atome, Wellen und Kraftfelder und nicht auf Flüche oder Verwünschungen.

B: Aber mein Punkt war doch, dass man sich nicht aussuchen kann, auf welche Entitäten man „Wirklichkeit“ anwenden möchte, sondern, dass das dem Menschen vorgegeben ist?

A: So spielt man Sprachspiele mit der Entität „Wirklichkeit“, ja. Vielleicht ist das eine gute Zusammenfassung des Disputes zwischen „Realisten“ und „Nicht-Realisten“. Die erste Gruppe meint, dass eine vom Menschen unabhängige Welt eine wichtige Rolle spielt in unseren intellektuellen Bestrebungen. Die andere Gruppe meint, dass diese „unabhängige Welt“ ein Versuch neben anderen ist, sich zurechtzufinden und das geistige Leben zu ordnen. Wie auch immer wir dazu stehen, es muss uns klar sein, dass es keine Argumente geben wird, die die Richtigkeit einer der beiden Positionen logisch stringent herleitbar macht. Argumentation benötigt einen geteilten Hintergrund, alle beteiligten Seiten müssen darüber einig sein, wie logisches Schließen funktioniert, was Schlüssigkeit ist, was als rationales Ergebnis gilt, und so weiter. Aber im Disput „Ralismus – Nicht-Realismus“ gibt es im Großen und Ganzen keinen keinen geteilten Hintergrund. Man ist sich vielleicht über das ein oder andere logische Muster einig, aber man teilt sich zum Beispiel keinen Begriff der Rationalität. Daher wird eine Seite bestimmte Ergebnisse und Zwischenkonklusionen als rational vertretbar annehmen, die andere Seite allerdings nicht. Das selbe Problem tritt auch bei der Disksussion zwischen religiösen und wissenschaftlichen Weltauffassungen auf. Eindeutig stehe ich hier auf Seiten der „Nicht-Realisten“, ich denke, die „Wirklichkeit“ ist der Versuch Erlebnisse zu strukturieren und sie auf eine bestimmte sprachliche Form zu bringen. Aber sie ist nicht der erste Versuch und wird auch nicht der letzte gewesen sein. Aber es ist ein Versuch, der sich sehr elegant gegen Kritik immunisiert, ebenso wie sich „Gottes Wege sind wunderbar“ gegen jeden Zweifel zu immunisieren versucht. Wenn man Gott kritisieren möchte, dann hat man nur nicht verstanden, was eigentlich abgeht. Das selbe mit der Wirklichkeit – wenn man diesen Begriff und seine Verwendung kritisieren möchte, dann muss man wohl verrückt geworden sein, wer könnte denn bezweifeln, dass es die Wirklichkeit gibt? Hier muss man sich aber vor Augen halten, dass es zwei verschiedene Ebenen gibt: Innerhalb des Sprachspieles der „Wirklichkeit“ wäre es tatsächlich verrückt, zu sagen, es gäbe keine Wirklichkeit. Oder es ist zumindest eine wilde Aussage die viel Erklärung bedarf. Doch meine Kritik ist auf einer Metaebene. Ich sage nicht, es gibt keine „Wirklichkeit“, ich sage dass die Entität und die damit verbundenen Sprachspiele nicht hilfreich sind. Der Realist wird nun replizieren, dass ich es mir nicht Aussuchen kann, welche Begriffe ich verwende, weil sie durch etwas nicht-menschliches vorgegeben werden. Ich entgegne, dass sich die Wirklichkeit noch nie derart bei mir gemeldet hat. Alles, was sich gemeldet hat, waren andere Menschen, die im Namen der Wirklichkeit gesprochen haben...

Ein anderer möglicher Gesprächsverlauf:

C: Aber fällst Du damit nicht hinter Rorty und Mitterer zurück? Denn was du nun sagst ist, dass Begriffe Entitäten erfassen, und dass diese Entitäten aus „Welt-teilen“ zusammensgetzt werden. Analog dazu kann man sich aus einem Haufen Legosteinen die herauspicken, die man zu einem Haus, oder irgendeiner anderen Lego-entität, zusammenbauen möchte. Aber die Steine gab es zuvor bereits, sie werden nur neu strukturiert. Waren Rorty und Mitterer hier nicht weiter, wenn sie gesagt haben, man solle sich die Sprache nicht so vorstellen als würde sie die Welt ordnen sondern so als wäre sie ein weiterer Vorgang in der Welt, neben anderen?

A: Ich bin mir nicht sicher, ob ich „zurückfallen“ sagen würde, aber jedenfalls würde ich sagen, dass ich eine leicht abgewandelte Formulierung für plausibel halte. Aber ich würde nicht sagen, dass ich in meiner Darstellung auf „zuvor unbeschriebene“ Legosteine zurückgreife. Denn die Teile die man zu Entitäten hinzufügen kann, sind ja selbst Entitäten und Begriffe und damit schon zusammengesetzt. Aber, man kann Dinge als unbeschrieben beschreiben und das zum Teil einer Entität machen. Man versteht die Entität „physikalischer Gegenstand“ nur richtig, wenn man sagt, dass sie auch exisiteren, wenn keiner hinsieht. Dinosaurier haben vor Jahrmillionen existiert, vor allen Menschen, die sie beschreiben hätten können. Aber Dinosaurier sind physikalische Gegenstände gewesen, daher kann man an dieser Stelle sagen, dass sie damals schon existiert haben. Wer an dieser Stelle sagt, dass die Existenz von Dinosauriern von Menschen abhängt, der hat entweder das Sprachspiel nicht verstanden, oder kennt den Begriff „Dinosaurier“ nicht. Aber das sagt nichts über zuvor schon existierende Aspekte einer unbeschriebenen Welt aus, sondern nur darüber, wie man bestimmte Entitäten regelkonform benutzt.

C: Gut, Entitäten bestehen aus anderen Entitäten und man kann hier vielleicht ein holistisches Bild zeichnen, wie diese Entitäten sich gegenseitig ergänzen, stützen und zusammenspielen. Und Du hast gesagt, dass es für verschiedene Entitäten verschiedene Regeln gibt, wie man sie richtig benutzt und dass man nur „über dasselbe“ redet, wenn man dieselben Regeln verwendet. Aber müsstest Du nach dieser Logik nicht zuallererst damit beginnen, den skaptischen Zweifel zu widerlegen? Denn, wenn man dieses Spiel richtig spielt, scheint es als würde die Möglichkeit, dass uns ein böser Dämon jederzeit betrügt all unsere epistemologischen Bemühungen zunichte zu machen?

A: Auch beim skeptischen Zweifel gilt: ich denke nicht, dass es ein Argument dagegen gibt, denn ein Argument ist die Rückführung der Konklusion auf die basaleren Prämissen. Wenn nun die Konklusion des Arguments sein soll, dass die Aussenwelt existiert, dann fällt mir keine Möglichkeit ein, eine basalere Prämisse zu finden – was könnte noch grundlegender sein, als dass die Welt existiert? In diesem Sinne haben manche auch G.E. Moores „Beweis der Aussenwelt“ interpretiert – nicht als Antwort auf den Skeptiker, sondern als Zurückweisung der Frage. Ich möchte einen ähnlichen Weg gehen – ich denke nicht, dass der skeptische Zweifel etwas ist, das wir beantworten sollten, sondern wir sollten ihn als uninteressant einfach ignorieren. Der skeptische Zweifel gehört letztlich zu realistischen Paradigmen und tritt nur in diesen als Problem auf. Aber wir müssen uns nicht mit alten Problemen herumschlagen, die aus anderen Sprachspielen kommen. Es ist einer der großen Vorteile meiner Ansicht über Entitäten, dass es uns jederzeit freisteht, neue Entitäten zu erschaffen, wenn wir das für nötig erachten. Und mit neuen Entitäten gehen neue Probleme einher, andere werden uninteressant. Wahrheit, Wirklichkeit und skeptischer Zweifel sind drei Probleme die mit alten Entitäten und ihrem Umgang verbunden sind. Ich möchte sie also nicht lösen sondern ignorieren. Ich sage aber nicht es gäbe diese Entitäten und ihre Probleme nicht – ich sage nur, dass es nicht meine Probleme sind.

Entitäten sind persönlich und nie abgeschlossen

Bei Mitterer finden wir die Trennung von Beschreibungen so far und from now on. Das heißt Beschreibungen, die wir bis zu diesem Zeitpunkt angefertigt haben, und die wir nun anpassen um von nun an mit dieser angepassten Beschreibung weiterzumachen. Eine ähnliche Trennung finden wir bei Donald Davidson, der zwischen Ausgangstheorie und Übergangstheorie unterscheidet. Für Davidson (vgl. Davidson 1986) beginnen wir jede Situation in der wir (sprachliches) Verhalten interpretieren mit einer Ausgangstheorie, die alle Annahmen beinhaltet, die wir bis jetzt über solche Situationen angesammelt haben. Diese Ausgangstheorie wird dann in jedem Fall dem Gegenüber angepasst und um neue Annahmen erweitert oder es werden welche gestrichen – mit dieser Übergangstheorie interpretiert man von nun an weiter.

Beide Ideen haben zwei Dinge gemeinsam. Erstens, die Betonung der Prozesshaftigkeit. Beschreibungen oder Interpretationstheorien anfertigen sind Vorgänge, die nicht aufhören, die nicht an ein Ziel gelangen, die nie zufrieden stellend abgeschlossen sind. Denn wir können die zukünftigen Situationen und ihre Anforderungen nicht vorhersehen und müssen also immer von unserem Hier und jetzt aus vorarbeiten.

Zweitens, die persönliche, subjektive Idiosynkrasie dieser Prozesse. Das Set an Beschreibungen so far und die Ausgangstheorie basieren auf den bisher gemachten, subjektiven Erfahrungen einer einzelnen Person. Auch ihre Anpassung in den Beschreibungen from now on und der Übergangstheorie passiert nach idiosynkratischen Regeln, die bei jeder Person individuell sind. Jede Person hat ihr ganz eigenes spezielles Set an Beschreibungen oder Theorien und ihre ganz eigene Art, sie zu erweitern.

Beides gefällt mir und ich versuche also einen Ähnlichen Zugang zu Entitäten. Ganz allgemein: Sprachspiele kann man als Verbindungen von Entitäten verstehen, die nach definierten Regeln in Verbindung gebracht werden können. Je nach Sprachspiel können es unterschiedliche Entitäten sein und auch unterschiedliche Regeln. Ein Selbst verstehe ich als ein Sprachspiel, das zunächst aus den Entitäten besteht, die man als Kind von seiner Umgebung mitbekommen hat. Je länger man lebt desto mehr Entitäten fügt man auf seine ganz eigene Weise hinzu. Durch die Mannigfaltigen persönlichen Entscheidungen die in diesem Prozess vorkommen, unterscheiden sich die Entitäten die in so einem Selbst vorkommen ebenso, wie ihr konkreter Umfang. Eine Entität, die für mein Selbstbild zentral ist - Philosophie beispielsweise - kann für andere Personen völlig bedeutungslos sein; oder sie kann einen völlig anderen Umfang haben – beispielsweise bei mir und einer Phänomenologin.

Anders gesagt, jeder Mensch hat sein ganz eigenes, idiosynkratisches Set an Entitäten. Im Bezug auf die Entitäten und wie man sie versteht, arbeitet man also immer mit einer Ausgangstheorie, die man nach und nach adaptiert. Und so ändern sich auch die Entitäten ständig, die man benutzt um sich zurechtzufinden. Damit ändern man sich Selbst und die Welt ebenso ständig.





2. Jener philosophische Begriff der Bedeutung ist in einer primitiven Vorstellung von der Art und Weise, wie die Sprache funktioniert, zu Hause. Man kann aber auch sagen, es sei die Vorstellung einer primitiveren Sprache als der unsern.
Denken wir uns eine Sprache, für die die Beschreibung, wie Augustinus sie gegeben hat, stimmt: Die Sprache soll der Verständigung eines Bauenden A mit einem Gehilfen B dienen. A führt einen Bau auf aus Bausteinen; es sind Würfel, Säulen, Platten und Balken vorhanden. B hat ihm die Bausteine zuzureichen, und zwar nach der Reihe, wie A sie braucht. Zu dem Zweck bedienen sie sich einer Sprache, bestehend aus den Wörtern: “Würfel”, “Säule”, “Platte”, “Balken”. A ruft sie aus; – B bringt den Stein, den er gelernt hat, auf diesen Ruf zu bringen. – Fasse dies als vollständige primitive Sprache auf.

[…]

7. In der Praxis des Gebrauchs der Sprache [aus §2] ruft der eine Teil die Wörter, der andere handelt nach ihnen; im Unterricht der Sprache aber wird sich dieser Vorgang finden: Der Lernende benennt die Gegenstände. D.h. er spricht das Wort, wenn der Lehrer auf den Stein zeigt. – Ja, es wird sich hier die noch einfachere Übung finden: der Schüler spricht die Worte nach, die der Lehrer ihm vorsagt – beides sprachähnliche Vorgänge. Wir können uns auch denken, daß der ganze Vorgang des Gebrauchs der Worte in [§2] eines jener Spiele ist, mittels welcher Kinder ihre Muttersprache erlernen. Ich will diese Spiele “Sprachspiele” nennen, und von einer primitiven Sprache manchmal als einem Sprachspiel reden.
Und man könnte die Vorgänge des Benennens der Steine und des Nachsprechens des vorgesagten Wortes auch Sprachspiele nennen. Denke an manchen Gebrauch, der von Worten in Reigenspielen gemacht wird.
Ich werde auch das Ganze: der Sprache und der Tätigkeiten, mit denen sie verwoben ist, das “Sprachspiel” nennen.

Ludwig Wittgenstein - Philosophische Untersuchungen


Non-dualism as Antirepresentationalism

The following is what Josef Mitterer in his The Beyond of Philosophy calls a “non-dualizing mode of discourse”. He begins his project by discussing Wittgenstein’s views on aspect seeing. Take the following triangle:

We can imagine that two different people see different aspects of it, A sees it as an arrow, B sees it as a body. It seems intuitive to say that there is one thing, the triangle that can be seen under different aspects. This sounds harmless but leads into the heart of the matter since it imposes on us a specific view of how our language works. Namely that those different aspects all have their foundation in a real triangle which is then seen in a certain light – the light metaphor is very instructive.

Let's change the focus. Which of the two descriptions of the triangle can be justified? How can something be part of such a justification at all? Here a dualist - who assumes a categorical difference between undescribed world and the language we use to talk about the world - grants the undescribed, language-different object, such as the triangle itself, the central place. We are justified in our description of the object if our description matches the undescribed, real object. But, as Mitterer points out, it is already a description if something is described as undescribed and being language different or real. Even a dualist has to provide us with a rudimentary description of the triangle, a minimal starting point in a given situation, in order to make the triangle a part of her justification.

Here then is the problem for the dualist: If the triangle shall be the part of the undescribed world which gives rise to different descriptions, the triangle is either already given as a rudimentary description (otherwise it cannot enter our justificatory practice) or it is a Kantian thing-in-itself (which can by definition never enter our justificatory practices). “The attempt to distinguish the indicated object from the rudimentary description releases an infinite regress that always leads to further rudimentary descriptions, but not to the object ‘itself’.” (Mitterer 1992, §57, my translation) This infinite regress bewitches every attempt of dualizing (and hence representational) speech (see Weber 2013). A language-independent object must remain unrecognized and cannot play any role in justification. The dualizing mode of discourse - and thus representationalism - slides into deep problems on its own terms.

As an alternative Mitterer proposes to replace the spatial metaphors surrounding our understanding of language with temporal metaphors. Where dualism uses the dichotomy between world and language, he proposes to understand the ‘object of description’ and the ‘description of the object’ as an ever-changing ensemble (in my words - an "entity"): “The object of description is not description- or 'language-independent' but the part of the description that has been already carried out. The description is not directed at the object but emanates from the object of description; it continues the already made description, it is the continuation of the previously available description.” (Mitterer 1992, §13, original emphasis, this is my translation but see the official one here) In the non dualizing mode of discourse the term "object of description" is replaced by the "description so far" and the "description of the object" by "description from now on" (see also Mitterer 1999, §140).

Given this, imagine A and B starting a discussion over how to proceed concerning the triangle given above. The description so far is relatively meager and consist of everything relevant that is in their shared portion of descriptions, their starting basis or introductory description (The German original reads “Angabebeschreibung” which is difficult to translate in all its meanings) with which /the object/ is introduced into discourse, in our case /that triangle/. Both acknowledge this as the description so far, as a starting point for further inquiries. Then A says “That triangle is an arrow” and B says “No, that triangle is a body”. Now we have two different descriptions from now on, the triangle as arrow or as body. A tries to mediate and says “But it can be both, a body and an arrow?!” and B agrees. Structurally the following happened: At t1 we started with an agreement, a description so far, /x1/. At t2 this description so far was continued in two different ways in two different descriptions from now on, /Ax/ and /Bx/. Then, at t3, A and B both agreed to accept a mediatory description which turned into the new description so far, /x2/. This new description so far can again fall prey to doubt. If this happens the discussants search for the last shared agreement and evaluate how and why their descriptions began to diverge. But at no point a beyond of discourse which is said to contain the things as they really are and which dictates what the right or true descriptions are, will be used to stop the conversation. Descriptions will follow descriptions and at the outset introduced /object/ gains contour as the conversation goes on.

Remark

Maybe here we have another way of putting it. I found this image here:



For our purposes we might redescribe it to look like this:

At this point a flabbergasted dualist will exclaim emphatically that the triangle is in a certain way which licenses some descriptions but not others. To say otherwise would amount to language idealism, to the idea that things are nothing but descriptions (for this kind of criticism see for example Kügler 2016). This view has the absurd consequence that we cannot distinguish between our descriptions and the things as they are independent of our description. But there is a fundamental distinction because we aren’t driving to work with our description of a car but with the car itself! And dinosaurs dominated life on earth billions of years before the first human could describe them. Dinosaurs as well as apples and tables are resistant to our descriptions, they are causally independent of them; they are as they are even if we do not describe them! Usually this is also the part of the discussion in which a dualist will hit the table to show that here we have an ontologically different relation to the table as when we describe it as ugly (see Rorty 1990, 55f). Therefore, non-dualism (and also anti representationalism) is wrong because of such absurd consequences.

We find a helpful way of putting the problem and its answer in the following quote:

Once you describe something as a dinosaur, its skin color and sex life are causally independent of your having so described it. But before you describe it as a dinosaur, or as anything else, there is no sense to the claim that it is ‘out there’ having properties. What is out there? The thing-in-itself? The world? Tell us more. Describe it in more detail. Once you have done so, but only then, are we in a position to tell you which of its features are causally independent of having been described and which are not. If you describe it as a dinosaur, then we can tell you that the feature of being oviparous is causally independent of our description of it, but the feature of being an animal whose existence has been suspected only in recent centuries is not. (Rorty 1998, 87f, original emphasis)

Interestingly enough these are Rorty's words. He too emphasizes that to describe something as undescribed (or as causally independent) is already a description. Only in a language game we can determine if it is part of the description of something to be causally independent. Causal independence is a part of a description and after we accepted it, we will use the description in specific ways (for this point see also Rorty 1990, 56). For example, a piece of wood is not a bishop before it was put in the context of chess. Specific pieces of wood do not carry the intrinsic feature of being bishops while others are rooks and so on. Only after we described chess pieces, cars or dinosaurs, but only then, it makes sense to say that their behavior is in certain respects causally independent to the existence of human beings – wood can be burned – while in other respects it is not – you must move a bishop diagonally. If a keen constructivist argues that the existence of dinosaurs is causally dependent on there being humans, she is not able to use the concept of dinosaurs in our language game and she will have severe problems of justifying her claims concerning dinosaurs.

But if this is the case, if descriptions are part of our world in the same way as anything else is, then it becomes unclear what it means for dinosaurs or apples to exist independent of our descriptions in the ‘thick’ sense assumed by the dualist (see Rorty 1990, 55f and 1998, 98ff). The only possible way to substantiate this claim is to state that dinosaurs have an intrinsic, non-descriptional core which dictates what they really are, apart from being described by us. But this only means to dig in heels and insist on the dualist presupposition. In other words the situation then is that the non-dualist proposes to not make a categorical difference between world and descriptions and the dualist answers “But I want to make such a distinction, therefore your proposal has absurd consequences” (see Neges 2013 for discussion of this unsatisfactory dialectic).

Remark

This text is part of my paper "Who Wants to Be a Non-Dualist and Why?"







zauberwald
Zauberwald








Metaphern für "Wahrheit"

Es folgen einige Metaphern von denen ich glaube, dass sie unser Verständnis des Begriffes "Wahrheit" (bewusst und unbewusst) lenken:


"Wahrheit" als Erzählerperspektive

In literarischen Texten wird oft mit einer allwissenden Erzählerperspektive gearbeitet, die den Rahmen der Geschichte setzt und die die Leserin durch den Text führt.

Anmerkung

Vielleicht – aber da muss ich noch darüber nachdenken – möchte ich auch wissenschaftliche Texte so beschreiben. Hier wird die scheinbar allwissende Erzählerperspektive vom wissenschaftlichen Autor eingenommen, das Subjekt ist der beschriebene “Wirklichkeitsausschnitt”. Es wird in dieser Textgattung nicht explizit gemacht, aber das heißt ja nicht, dass man die Situation nicht trotz allem so beschreiben kann.

Die im Text beschriebenen Subjekte selbst wissen nicht um alle Aspekte der Situation, in der sie sich befinden, sie haben alle ihre begrenzten menschlichen Perspektiven. Aber die Erzählperspektive ist auf einer Metaebene und blickt quasi von oben auf all die begrenzten Perspektiven, kennt alle Hintergründe zu allen Perspektiven und kann sie in Relation zueinander setzen, um so zu erklären, was “wirklich vorgeht”. In solchen Situationen kommen die handelnden Subjekte oft zu irrigen Meinungen, da sie nicht alle Umstände kennen und wir als Leserinnen – geleitet vom allmächtigen Erzähler – wissen um die Fehlentscheidungen aus mangelnden Daten, weil wir quasi übe die Schulter des Erzählers blicken.

Das ist eine gute Metapher, um zu erklären, was sich Menschen, die mit der Entität Wahrheit operieren, erhoffen – sie hoffen auf die allwissende Erzählperspektive. Wie Subjekte in einem Roman hängen wir unseren subjektiven, begrenzen Perspektiven nach und treffen durch sie und in ihnen unsere (potenziell irrigen) Entscheidungen. Aber die Hoffnung ist, dass wir auf die Metaebene des allwissenden Erzählers unseres Lebens kommen. Eine Ebene, die uns helfen würde, die Dinge so zu sehen, wie sie „wirklich“ sind und dadurch informiert die “richtigen” Entscheidungen zu treffen.

Jedoch – die Perspektive des allwissenden Erzählers ist selbst Teil der Geschichte…



In den Zauberwald der Sprache gehen die Dichter voller Absicht hinein, um sich darin zu verlaufen und sich an der Verirrung zu berauschen, um nach den Wegkreuzungen der Bedeutung zu suchen, nach unerwarteten Echos, nach seltsamen Begegnungen; dabei fürchten sie weder Umwege noch Überraschungen, noch Finsternisse - der Jäger hingegen, der in Erregung gerät über die Hetzjagd nach der “Wahrheit”, über die Verfolgung eines einzigen und ununterbrochenen Weges, bei dem jeder Wegteil der einzige zu sein hat, den er einschlagen muß, damit er weder vom Weg abkommt noch etwas vom zurückgelegten Weg verliert, läuft Gefahr, daß er am Ende nur seinen eigenen Schatten erhascht. Riesig zuweilen, dieser Schatten, aber eben doch nur ein Schatten.

Paul Valéry - Rede über die Ästhetik, 224f



"Wahrheit" als Kriminalgeschichte

Manche Krimis – beispielsweise in der Serie Columbo – haben die Form, dass wir als Zuseher oder Leserinnen schon von vorneherein wissen, wer der Mörder ist und wie sich das Verbrechen zugetragen hat. Wir sind dann Zeugen, wie die Polizei oder der Detektiv das Rätsel lösen, indem sie aus Hinweisen und Indizien eine Situation rekonstruieren, zu der sie selbst keinen direkten Zugang hatten. Wir, die mehr wissen als Polizei oder Detektiv, können dann bewerten, ob die Schlüsse richtig sind oder falsch, weil wir sie mit dem, was wir zuvor mitbekommen haben, vergleichen können.

Auch diese Metapher arbeitet damit, dass es eine Perspektive gibt, die man einnehmen kann und bei der man über mehr Wissen verfügt als die handelnden Personen. In diesem Fall stimmen wir von unserer „Außenperspektive“ die Überzeugungen und Handlungen der Personen mit dem Wissensvorsprung ab, die wir zu Beginn der Geschichte erhalten haben. Dadurch wissen wir, „was wirklich passiert ist“. Auch mit dieser Metapher können wir eine Perspektive einnehmen, die über die menschlichen Perspektiven innerhalb der Handlung hinausgeht, eine Metaposition, die er uns ermöglicht, allzumenschliche Zusammenhänge zu transzendieren.

Aber auch hier stellt sich ein ähnliches Problem: wir, die wir durch das Setting des Narrativs diese transzendierende Metaposition zur Kriminalgeschichte einnehmen, sind immer noch Teil dieses allzumenschlichen Narrativs…

A note on linguistic intuitions

At least since Edmund Gettier, it can be said that testing our linguistic intuitions plays a vital role as a method of analytic epistemology and that this method is central for the self-understanding of most (analytic) philosophers. It holds philosophical significance what "we intuitively would say" when we consider, for example, the classic Gettier examples. Take the following case which is modeled along the lines of Gettiers original case:

(COINS) Jones and Smith both apply for the same job. After both were interviewed, Jones is thirsty and heads for the vending machine. She wants to know if she has enough money for a soda, and therefore she counts the coins in her pocket. She counts one dollar and ten single pennies. She takes the dollar and thinks how useless it is to have ten of those practically worthless coins in the pocket and that she shall put them out at home. While she is drinking her soda, she wanders around the building and overhears the interviewer saying to a secretary that now after all of the interviews are completed it is clear that Jones has got the job. Jones is very happy about this information and in euphoria she thinks in the tone of voice of a public announcer, "Jones got the job! Yes! The woman with ten coins in her pocket got the job!" Unfortunately, unbeknown to Jones the interviewer made a mistake, as she meant to say that Smith has got the job. Moreover, also unbeknown to Jones, by pure coincidence Smith also has ten coins in her pocket.

What Gettier wants us to acknowledge is that Jones has a justified true belief, namely "The woman with ten coins in her pocket got the job", which intuitively does not amount to knowledge and thereby counters our standard analysis of "knowledge". The belief is true since Smith is also a woman with ten coins in her pocket, Jones holds this very belief, and she is also justified in believing it because existential generalizations confer justification. Nonetheless, Gettier claims that intuitively we would not say that Jones knows that "The woman with ten coins in her pocket got the job".

Most philosophers agree that this outcome is intuitive. But what such intuitions actually are and whether they are a credible source of belief and even knowledge is a topic of lively debate. Some philosophers argue that applying and explicating intuitions is the philosophical method and our only way of acquiring a priori knowledge like that "2+2=4" (see for example Sosa 2007 44ff, Bealer 1998). The other extreme is to say that there is no such thing as intuitions at all and hence the frequent use of this concept in epistemology is a grave methodological mistake (Cappelen 2012). Of course, many proposals are to be found in between these two extremes and there is no agreement in sight. Taking this back and forth as a point of departure, some philosophers have set out to empirically test whether the intuitions proposed by epistemologists are indeed as intuitive as they hope. The project of testing intuitions of laypeople and experts gave rise to what has been called "experimental philosophy" (see Knobe/Nichols 2008 and Alexander 2012). For some philosophers, experimental philosophy provides devastating results because - as was found out - incidental aspects concerning the presentation of the cases - like the font or the order in which cases are presented - make a significant difference in terms of how the cases are evaluated. It therefore seems that far from being a source of a priori knowledge, our "intuitive evaluation" is epistemically speaking fleeting and irrational, making the method of intuitive evaluation of cases practically worthless. Others are not alarmed by the fact that laypeople are unreliable concerning their intuitions. They argue that only the intuitions of an exclusive group of people, of course, that of trained philosophers, is relevant. This has been called the "expert defense of intuitions" (Williamson 2011). Only the intuitive evaluation of cases by philosophers who are trained in counterfactual thinking and making correct inferences is relevant. It is unclear whether this proposal improves our situation since the intuitions of philosophers on a given case like (COINS) also widely diverge.

As I take it, intuitions indeed hold importance for our philosophical, this is, conceptual work. Speaking a language means possessing rules of recognizing whether a specific assertion is aptly used in a situation and if given case falls under a concept or not. As a community of speakers, we have learned to use concepts like "truth", "knowledge" and "arts" or "science" in our everyday situations and their rules of application were developed for and in such situations. This is why we agree - at least after brief discussion - that the following case is not a case of knowledge and usually we also agree why this is the case:

(YANKEES) Sandy believes that his favorite baseball team - the Yankees - won their game yesterday. He has no information about the result of the game; rather, his belief stems solely from his being a frenetic fan of the Yankees. Nonetheless, the Yankees indeed won their game yesterday.

Ascribing knowledge to a subject in everyday life usually involves her being able to provide a reason for the belief that she holds. In this respect, (YANKEES) is close to everyday situations and we immediately see that this condition is not fulfilled, hence - no knowledge is present in this case. Moreover, we can easily imagine how failures like this emerge and how best to react to them. These and similar cases can be used to show in a relatively uncontroversial manner what is part of our concepts of "knowledge" or "justification" as we have used them thus far. Accordingly, the rules of how to apply those concepts that are implied in our everyday usage can be made explicit.

Gettier cases like (COINS) are more remote, they are considerably different to our usual everyday situations and this is why it is often difficult to point out the purpose of Gettier cases; for example, in introductory courses to epistemology. Given a certain linguistic ability, people hesitate to give an answer, or their answers fundamentally diverge. This is because in such cases the concepts that we learned and ascribe in our everyday situations are applied to new situations that we never thought about before. What we can do in such situations is ask ourselves what we should say, given how we have used the concept thus far. For example, if until now "justification" means being able to provide a good reason for a belief, we have to ask what "good reason" shall mean in the case of (COINS). Does it involve making no use of false lemmas? The possession of positive evidence or the reliability of the belief-forming processes involved? Is our concept to be refined or does our past use already imply a strategy to answer such cases, albeit perhaps only implicitly? The post-Gettier literature has tried (and still tries) to figure this out.

After all, (COINS) and other Gettier examples are usually comparatively close to our actual world, at least compared to so-called "freak cases" that are also used to trigger intuitions (for example, Hilary Putnam's well-known "Twin-Earth", Putnam 1985, 223ff; or Jennifer Lackey's "Alien", Lackey 2008, 168f). Here is one famous example:

(SWAMPMAN) Donald goes hiking in the swamp, is struck and killed by a lightning bolt. At the same time, nearby in the swamp another lightning bolt spontaneously rearranges a bunch of molecules such that - by pure coincidence - they take on exactly the same form that Donald's body had at the moment of his untimely death. This swampman - let us call him "Swonald" - has a brain structurally identical to that which Donald had, and will thus presumably behave exactly as Donald would have. Swonald will walk out of the swamp, return to Donald's home, do his job, and interact with all of Donald's friends and family, and so forth. Swonald would continue to lead Donald's life without anyone noticing it.

Donald Davidson - who invented this case - tells us that intuitively there would nevertheless be a difference between Donald and Swonald. For example, Swonald's words would not refer to anything, nor would he have contentful mental states (see Davidson 1987). Unfortunately (for Davidson), the same case was used to argue for many different conclusions; for example, that Swonald indeed has contentful mental states (see, for example, Millikan 1996). This contrariness comes as no surprise since those cases are very remote from the everyday contexts in which our concepts originated. What remote cases like (COINS) and freak cases like (SWAMPMAN) first and foremost show us is that our concepts have - as Friedrich Waismann called it - an "open texture" (Waismann 1945).

By introducing this notion, Waismann wanted to point out that "it is not possible to define a concept [...] with absolute precision, i.e. in such a way that every nook and cranny is blocked against entry or doubt" (Waismann 1945, 123). To make this vivid, Waismann enumerates some examples, plausibly to be called freak cases: resurrecting cats, frequently vanishing and reappearing friends ("vanishing" in the sense of "spontaneously physically disappearing"), and immortal kings. One of his examples is as follows: "Suppose I come across a being that looks like a man, speaks like a man, behaves like a man, and is only one span tall - shall I say it is a man?" (Waismann 1945, 122). Our concept of "man" has not emerged with the possibility of such cases in mind and therefore our previous use provides no rules to definitely determine whether the concept is to be applied in such a case. With respect to one span tall beings the concept of "man" is open textured. We can and have to decide how we wish to proceed.

Likewise, we can ask what we shall say in the case of Swonald: does he have contentful mental states and do his sentences refer? What a case like this shows is that our concept of "mental state" and "reference" was open textured in this respect, nothing in our previous uses decides how to proceed in this case. In such a situation, we can decide what we want to say from now on to fill this gap in our concept. At this point, it is possible to draw Davidson's conclusions (for example, with reference to heavenly messengers like angels and how it is said that they come into existence) but also a conclusion to the contrary (for example, with the hint that no being in the natural world emerges this way) and for both arguments and counter arguments can be adduced. What I want to emphasize is that such conclusions and the connected arguments were not already implied in our concepts or how we have used them thus far. Our concepts of "reference" and "mental state" were not intended to be applied to such situations; rather, they were open textured in this respect. Remote possibilities such as Gettier or freak cases do not bring something to the surface that was already implied in a concept and its rules of application, but rather it shows that there are no rules determining how to use the concept in such situations. There is a gap that can now be filled in different ways. We are paving a way, so to speak, not discovering one.

Even so, the consideration of cases of different grades of remoteness triggers certain ideas of how to proceed. These ideas are fueled by how we have applied our concepts thus far, and this is what we call "intuitions". They are "linguistic feelings" guiding our evaluation of new cases. They are "educated guesses" of how to apply a familiar concept to a new, unfamiliar situation, given the background and mastery of our language. Intuitions are a first idea concerning how to proceed in the case of recognizing the open texture of a concept given how we have used it and connected concepts thus far.

Therefore, in cases like (SWAMPMAN) there is strictly speaking no correct answer already indicated. We must decide and try to make it as plausible as possible given our purposes and linguistic background. Simply stating that "...here we all would intuitively say that..." is an improper shortcut, an attempt to make necessary further argumentation to appear superfluous. On such occasions, "philosophy is not a theory but an activity" (Schlick 1967, 52), not a theoretical analysis of implications of a concept but the practical activity of showing possible ways of how to proceed from here against the backdrop of open texture.

Furthermore, it is clear that such linguistic intuitions are highly contextual, they depend on a community of speakers who have hitherto used certain concepts according to specific rules. Hence, intuitions may vary with culture and time. Consequently, our intuitive evaluation is always our evaluation here and now. Intuitions are first hints concerning where to search, not conclusive results. From this, it follows that intuitions do not have the final authority when it comes to conceptual understanding. We can decide to drop an intuition - for example - if we recognize that it emerges from a linguistic background that is outworn. We currently do not have an intuition concerning the question of whether a catastrophe happened due to the wrath of Osiris or not, or if it is part of the concept of "catastrophe" to be something triggered by Osiris. We lack the whole background for answering such questions.

To conclude, remote cases like (COINS) or (SWAMPMAN) help us to recognize the open texture of our concepts and we have to decide whether we want to use such concepts similar to the ways in which we used them before or if we want to reform them. Hence, philosophers can do two things in such situations: first, they can make the implications of our previous use of a concept as perspicuous as possible for making the decision easier; and second, they can propose how it should be used in the future, given our goals and purposes. The first aspect is descriptive, the second is prescriptive and - as I take it - philosophical conceptual work comprises both.

Anmerkung

This text stems originally from my dissertation but still might be correct somewhow.



The education toward the truth is always at the same time an education toward the truth of the educator. The dualistic striving for truth that is imparted to us through this education is a striving for monism in argumentation: There is only one truth and one reality. The aim is to reduce the plurality of opinions in the direction of the one and only truth. False opinions are supposed to be eliminated from discourse and to be replaced by the sole remaining true opinion, where this true opinion is guaranteed by a counterpart in the beyond of all discourses - in other words, in reality.

Josef Mitterer - The Beyond of Philosophy, Introduction









Eine spannende "Definition" von "Wirklichkeit", die ich bei Canetti gefunden habe: "Nun hieß es plötzlich 'Wirklichkeit', sie meinte damit, was ich noch nicht erfahren hatte und wovon ich nichts wissen konnte." (Canetti 1977, 273).

Aber vergleich dazu, die eher klassische Idee, die ich bei Lyotard gefunden habe:

"Ein Ding ist wirklich, meinen wir, wenn es existiert, selbst wenn niemand seine Existenz verifizieren kann; so nennen wir etwa einen Tisch wirklich, wenn er immer da ist, auch wenn sich keine Zeugen am entsprechenden Ort aufhalten. - Oder stellen Sie sich einen Staffellauf vor. Die Wirklichkeit wäre der Gegenstand namens “Staffelstab”, den die Läufer einander übergeben. Der Gegenstand wird nicht durch die Staffel der Läufer wirklich gemacht. Ebensowenig machen die Sprecher den Gegenstand, über den sie reden, durch ihre Beweisführung wirklich." (Lyotard 1989, §47)

Und ein wenig später: "Die Wirklichkeit: ein Schwarm von Bedeutungen läßt sich auf einem Feld nieder, das von der Welt abgesteckt wird." (Lyotard 1989, §82) und "Unter Welt verstehe ich ein Netz von Eigennamen." (Lyotard 1989, §133)





Normale und revolutionäre Diskurse

Eine Philosophie die versucht, Wissenschaft als paradigmatische Tätigkeit zu betrachten, wird laut Richard Rorty annehmen, dass der Erkenntnisfähigkeit des Menschen eine besondere philosophische und kulturelle Rolle zukommt. Der Mensch als Vernunftwesen zeichnet sich dann durch eine besondere Fähigkeit vor den anderen Lebewesen aus. Irgendwo zwischen Tintenfisch und Mensch muss es demnach eine Art qualitativen Sprung gegeben haben, irgendwo wurde eine Schwelle überschritten zwischen „kommt mit der Welt zurecht“ und „bildet die Welt richtig ab“, ein Übergang von ungelenker praxis zur vernunftgesteuerten theoria (vgl. Rorty/Davidson 2005, 210f). Für Rorty ist diese Idee solch eines „qualitativen Sprungs“ seit Charles Darwin allerdings sehr viel schwerer durchzuhalten. Natürlich gibt es nach wie vor Philosophen, die Darwin mit Kant in Einklang zu bringen versuchen, doch Rorty ist kein Anhänger dieser Idee. Deshalb versucht er nicht, Descartes und Kant mit Darwin und seinem Helden John Dewey zu vereinen, sondern Descartes und Kant zu streichen und zu sehen, wie weit man philosophisch mit Dewey und Darwin kommt. Daraus resultiert seine Abkehr von einem Philosophieren, das einer exakten Wissenschaft gleichen soll.

Für eine Darstellung von Rortys Selbstverständnis ist der dritte Teil seines Der Spiegel der Natur ein guter Ausgangspunkt. In diesem Teil, der den Titel „Philosophie“ trägt, skizziert Rorty eine Art von Gegenprogramm, eine Philosophie ohne Spiegel, ohne Abbildungsideal. Auch wenn er Teile seiner damaligen Skizze in der weiteren Folge revidiert, umbenennt oder einfach nicht mehr erwähnt, ist dieser Alternativentwurf von dem, was Philosophie noch heißen kann, durch Rortys weiteres Schaffen hindurch sein Leitmotiv. In Kontingenz, Ironie und Solidarität nennt er diesen Entwurf dann „liberal“ anstatt „bildend“. Doch seine Position bleibt, wie ich behaupten möchte, in den meisten Punkten dieselbe (vgl. Rorty 1992, 96). Ich werde allerdings die Bezeichnung „bildende Philosophie“ beibehalten, da eine „liberale Gesinnung“ für mich aus Bildung folgt, und letztere daher grundlegender ist.

Rorty beginnt diesen dritten Teil seines Buches, indem er dem gewohnten Begriff der "Erkenntnistheorie" sein Verständnis von "Hermeneutik" entgegensetzt. Die Erkenntnistheorie wird in einer kurzen Zusammenfassung wie folgt beschrieben: Sie entstammt der Hoffnung nach Fundamenten, auf denen die Menschen guten Gewissens aufbauen können (Rorty 1981, 343). Sie geht davon aus – und darauf legt Rorty hier den Fokus – dass alle Beiträge zu einem bestimmten Diskurs kommensurabel gemacht werden können (Rorty, 1981, 344). „Kommensurabel“ bedeutet für Rorty, „dass etwas unter eine Regelmenge gebracht werden kann, die uns angibt, wie sich ein vernünftiger Konsensus darüber erzielen lässt, was für ein Lösungsvorschlag die jeweilige Streitfrage an allen Stellen beilegen würde, an denen konfligierende Aussagen aufzutreten scheinen.“ (Rorty 1981, 344) Anders gesagt: Es gibt einen allgemeinen Rahmen, in dem alle Beiträge zu einem Diskurs verortet werden können, gleichsam ein gemeinsames Koordinatensystem. Mittels dieses Koordinatensystems lassen sich alle Beiträge (oder auch ganze „Begriffsschemata“) vor demselben Hintergrund bewerten und vergleichen. Wieder anders gewendet: die Erkenntnistheorie ist Ausdruck der Hoffnung, dass es keinen Widerstreit geben kann. Denn die Erkenntnistheorie geht davon aus, dass man mit anderen Menschen zu einer Übereinstimmung kommen können muss, um wirklich rational und wirklich menschlich zu sein. (Rorty 1981, 344 und vgl. Rorty 1988, 13f).

Den Begriff der Hermeneutik, den Rorty dem entgegensetzen möchte, stammt von Hans Georg Gadamers Wahrheit und Methode. Als Erklärung, wieso er gerade diesen Begriff gewählt hat, verweist er auf eine enge Verwandtschaft seiner holistischen Methode mit dem hermeneutischen Zirkel. Das holistische Argument, auf das sich Rortys Philosophieren stützt, besagt nämlich in etwa dasselbe wie der hermeneutische Zirkel: dass sich basale Elemente – Entitäten - erst dann isolieren lassen, wenn man zuerst mit der Gesamtstruktur vertraut ist. Der Vollzug einer Praxis lässt sich daher nicht auf genaue Darstellung von Elementen reduzieren. Unsere Auswahl, welche Entitäten wir isolieren, wird von der Gesamtstruktur im Hintergrund vorgegeben. Es ist nicht so, dass die „rationale Rekonstruktion“ der Basiselemente unsere Praxis im Nachhinein legitimiert (vgl. Rorty 1981, 347). Ohne größeren Hintergrund bleibt der hermeneutische Zirkel stecken, und auch die holistische Methode gerät ins Stocken.

Rorty ist der Ansicht, dass die Hermeneutik der Hoffnung entstammt, dass das Ideal der Erkenntnistheorie nicht das Zentrum unserer Kultur darstellt und dass diese Stelle nach dem Abgang der Erkenntnistheorie leer bleibt. Rorty will also keine simple Beerbungslogik installieren, in der es heißt: „Der Traum der Erkenntnistheorie ist falsch, ich erkläre nun: die Hermeneutik kann das leisten, was wir uns von der Erkenntnistheorie erhofft haben“. Rorty hofft im Gegenteil, dass die Hermeneutik Ausdruck einer Kultur würde, in der man das Verlangen nach solchen notwendigen Rahmen oder Fundamenten nicht mehr verspürt. Auch wenn er später den Begriff "Hermeneutik" nicht mehr verwendet, drückt sich doch genau diese Hoffnung weiterhin in seinem Werk aus, wie man beispielsweise im Vorwort zu einem Sammelband, der den passenden Titel Eine Kultur ohne Zentrum trägt, lesen kann. Es geht ihm auch hier darum „alle Bereiche der Kultur nicht als Autoritäten, sondern als Werkzeuge zu sehen: als Hilfsmittel zur Neubeschreibung und Neugestaltung unseres Ichs und unserer Umwelt.“ (Rorty 1993, 11)

Die Ansicht, dass die Kultur als Fundament eine Erkenntnistheorie oder eine andere derartige Kommensuration benötigt, erfasst für Rorty das Verhältnis zweier Rollen falsch, die die Philosophie in der Kultur beide spielen kann:

(1) Sie kann die Rolle des „informierten Dilettanten“ spielen (Rorty 1981, 345). Sie kann als sokratischer Vermittler verschiedener Diskurse auftreten. Wenn sie das tut, löst sie hermetische Denker gewissermaßen aus ihren jeweiligen abgeschlossenen Kontexten heraus und setzt sie zueinander in Beziehung. Dies ist die Rolle der Hermeneutik.

(2) Sie kann die Rolle des platonischen Philosophenkönigs spielen (Rorty 1981, 346). Hier versteht sich der Philosoph als eine Art „Kulturinspektor“, der etwas über die zugrundeliegenden Rahmen weiß und daher die übrigen kulturellen Praktiken bewerten kann. Dies ist die Rolle der Erkenntnistheorie.

Philosophen, die vom metaphysischen Bild beherrscht sind, ignorieren Ebene (1) oder sprechen ihr nur eine untergeordnete Rolle zu, während sie versuchen (2) zu verabsolutieren. Wo die Erkenntnistheorie hofft, dass ein einzelnes, basales Begriffsschema gefunden werden kann, vor dem sich alle Aussagen bewerten lassen, hofft die Hermeneutik auf eine Inkommensurabilität. Inkommensurabilität heißt hier allerdings nicht „totale Unverständlichkeit“ beziehungsweise „totale Unübersetzbarkeit“. Nur weil Ausdrücke im Moment unübersetzbar sind, kann ich trotzdem den Kontext erlernen, in dem diese Worte verwendet werden. Man kann einwandfrei verstehen, welche Rolle „Phlogiston“ oder „Äther“ einmal in der Physik gespielt haben, auch wenn diese Begriffe sich zu unserem heutigen Verständnis von Physik inkommensurabel verhalten. Ich kann sie allerdings nicht derart übersetzen, dass sie anschließend in unserer heutigen hysik sinnvoll verwendet werden können. Dass es für Rorty in dieser Situation nicht weiterhilft, zu sagen „Äther gibt es eben nicht, während es die in der aktuellen Physik postulierten Entitäten wirklich gibt“, ist offensichtlich. Das wäre ein Rückfall zu der Idee das wir „theoretischen Fortschritt“ als „Annäherung an die zutreffende Weltbeschreibung“ verstehen sollten. Begriffe können sich zu unseren momentan bevorzugten Begriffen inkommensurabel verhalten, aber wir können sie trotzdem verstehen – indem wir den Kontext erlernen, in dem diese Begriffe sinnvoll verwendet werden können. Wenn ich erlernt habe, wie das System der aristotelischen Physik oder der galileischen Himmelsmechanik funktioniert, dann habe ich einen Kontext erlernt, in dem ich Begriffe verwenden kann, die sich zu meinen ursprünglichen Ansichten inkommensurabel verhalten. Die Hoffnung, dass beide von mir erlernten Sprachspiele wiederum auf einen gemeinsamen Nenner gebracht werden können – dass es für beide einen Rahmen gibt, vor dem ich beide bewerten kann – wäre wiederum die Hoffnung der Erkenntnistheorie, dass es eine wirkliche Welt gibt, die uns in unserem Sprechen Vorgaben macht.

Hermeneutik möchte „Rationalität“ nicht als einen derartigen, dem Menschen vorgegebenen Rahmen deuten. Später, in Kontingenz, Ironie und Solidarität wird Rorty diesen Gedanken weiterführen, indem er sagt, dass der Begriff „Rationalität“ nur innerhalb von Vokabularen erfolgversprechend benutzt werden kann, nicht aber vokabularübergreifend (vgl Rorty 1992, 44). Denn wenn Rationalität ein Vermögen wäre, das vokabularübergreifend einen gemeinsamen Bezugsrahmen herstellen könnte, vor dem man einzelne Vokabulare im Bezug auf ihre Richtigkeit oder Falschheit beurteilen könnte, wäre man wiederum bei einer Erkenntnistheorie. Rorty scheint daher die Rationalität aufs Spiel setzen zu wollen. Er scheint relativistisch zu argumentieren, da er nicht auf der Suche nach Kommensurabilität ist. „Bestreiten wir, dass es ein Fundament gibt, das die gemeinsame Grundlage aller Wissensansprüche abgeben könnte, so scheinen wir den Gedanken vom Philosophen als dem Hüter der Rationalität zu bedrohen.“ (Rorty 1981, 345) Daraus erklärt er auch die weit verbreitete Abwehrreaktion gegen als „relativistisch“ wahrgenommene Autoren wie Thomas Kuhn und Paul Feyerabend. Man sagt, ihre Ideen würden letztlich zur Anwendung von Gewalt anstelle von Überredung führen, da sie letztlich die Wirkung der Vernunft verneinen. „Holistische Theorien scheinen es jedermann zu gestatten, sein eigenes kleines Ganzes zu konstruieren – sein eigenes kleines Paradigma, sein eigenes Stückchen Praxis, sein eigenes Sprachspiel – und sich dann hineinzukuscheln.“ (Rorty 1981, 345) Aber Rorty macht klar, dass weder er, noch Kuhn, noch Feyerabend Gewalt anstelle von Überredung setzen wollen. Keiner von ihnen will sagen, dass es rationale Auseinandersetzung zwischen verschiedenen Meinungen nicht geben kann. Rorty will nur sagen, dass „Rationalität“ keinen allgemeinen Begründungsrahmen abgibt, wie er in der Erkenntnistheorie gesucht wird. Anders gesagt können Begriffe wie „Rationalität“ oder „Wahrheit“ die normative Ebene unseres Sprechens nicht begründen oder absichern. Zu erklären, dass man bestimmte Regeln befolgen muss, weil sie rational sind, heißt wenig mehr zu sagen, als dass man bestimmte Regeln befolgen soll, weil diese im gegenwärtigen Kulturkreis anerkannt sind. Dazu ein zusammenfassendes Zitat:

Rational zu sein, bedeutet für die Hermeneutik, gewillt zu sein, Erkenntnistheorie zu unterlassen – nicht zu meinen, alle Beiträge zum Gespräch seien in eine bestimmte Begrifflichkeit zu pressen – und gewillt zu sein, den Jargon des Gesprächspartners verstehen und verwenden zu lernen. Statt ihn in den eigenen zu übersetzen; für die Erkenntnistheorie bedeutet es, die richtiger Terminologie zu finden, in die sämtliche Beträge zu übersetzen sind, damit Übereinstimmung möglich werde. Jedes Gespräch ist für die Erkenntnistheorie implizit ein Forschungsbeitrag. Umgekehrt ist Wissenschaft für die Hermeneutik routinemäßiges Gespräch. (Rorty 1981, 346)

Die Hermeneutik, die Rorty vor Augen hat, ist holistisch, antifundamentalistisch und pragmatistisch. Von zentraler Bedeutung ist dabei, dass Rorty auf den Begriff „Gespräch“ fokussiert. Er bewegt sich damit weg von den seit Platon so beliebten Augen- und Sehmetaphern der Erkenntnis und distanziert sich damit letztlich auch von Exaktheitsidealen einer wissenschaftlich gewordenen Philosophie. Für Rorty ist Verstehen – und das ist an dieser Stelle ganz zentral – „eher wie das Kennenlernen einer Person als wie das Durchlaufen eines Beweisganges.“ (Rorty 1981, 347) Demgegenüber wird das Verhältnis von Hermeneutik und Erkenntnistheorie üblicherweise allerdings eher folgendermaßen beschrieben: Die Erkenntnistheorie befasst sich mit den harten Fakten, mit der wirklichen Wirklichkeit, dem strengen und wichtigen kognitiven Bereich, der Rationalität. Die Hermeneutik befasse sich mit den übrigen Bereichen, mit solchen Bereichen, wo Interpretation eine zentrale Rolle spielt.

Rortys pragmatische Herangehensweise empfiehlt eine andere Trennung. Rorty benutzt Kuhns berühmten Unterscheidung zwischen „normaler“ und der „revolutionärer“ Wissenschaft indem er diese Begriffe auf Diskurse anwendet. Daraus ergibt sich folgendes Bild. „Normale“ Diskurse kommen dem erkenntnistheoretischen Rationalitätsbegriffes so nahe wie nur möglich. Hier ist sehr genau festgelegt, was als Antwort auf eine Frage gilt, hier hat man ein gewohntes Bewertungssystem. „Normaler Diskurs ist genau das, was sich in einem allgemein anerkannten System von Konventionen abspielt, die festlegen, was als relevanter Beitrag gilt, als Beantwortung einer Frage als gute Kritik dieser Antwort oder als gutes Argument für sie.“ (Rorty 1981, 348f) Anders gesagt: Hier treten nur Gesprächssituationen auf, in denen man weiß, was zu tun ist. Man kennt sich aus.

Rorty meint, dass der „revolutionäre“ oder „nichtnormale“ Diskurs dann auftritt, wenn jemand die Konventionen des normalen Diskurses nicht kennt oder sie bewusst ignoriert. Alles – vom Unsinn bis zu einem Geniestreich – kann Teil eines revolutionären Diskurses sein. Die Hermeneutik ist dann

das Studium des nichtnormalen Diskurses vom Standpunkt des normalen – der Versuch, mit dem einen guten Sinn zu verbinden, was in einem Stadium vor sich geht, in dem wir noch zu unsicher sind, um es geradewegs beschreiben zu können, und hierdurch eine erkenntnistheoretische Aufklärung des Phänomens zu unternehmen. (Rorty 1981, 349)

So gesehen ist der Unterschied zwischen Hermeneutik und Erkenntnistheorie nur einer der Vertrautheit. Dieses Schema soll veranschaulichen, was bei Diskussionen und Gesprächen vor sich geht. Es ist einfach nicht der Fall, dass alle Gesprächspartner immer denselben Hintergrund teilen oder teilen wollen. Wenn man von diesem Umstand ausgeht, dann sind Erklärung, Interpretation und Überredung hilfreicher als das Beharren auf Erkenntnis und Kontexttranszendenz. Durch diese Erklärung erscheint es plausibel, dass die Erkenntnistheorie die Rationalität für sich beansprucht hat, denn in revolutionären Diskursen ist „Rationalität“ schlicht kein hilfreiches Werkzeug. Hier wird eher Phantasie und interpretatorische Feinfühligkeit gefragt sein. Vorgehensweisen, die wiederum in der Erkenntnistheorie schlechte Werkzeuge darstellen.

Diese Fokussierung auf Gespräch und Diskurs hat enorme Auswirkungen darauf, wie man interpretiert, was die wissenschaftliche und die philosophische Praxis ausmacht. In diesem Licht besteht die Besonderheit der Philosophie nicht mehr darin, dass man es hier irgendwie aus dem menschlichen Bewusstsein herausgeschafft hat und auf einem sicheren Boden steht, auf dem man nun das Tribunal der reinen Vernunft errichten kann. Philosophen wie Wissenschaftler stehen ebenso in menschlichen Bezügen wie Politiker, Priester oder Künstler. Deswegen kann man bei Rorty des Öfteren lesen, dass „objektiv“, „kognitiv“ und auch „wahr“ Ehrentitel für diejenigen Aussagen sind, die eine hohe Zustimmungsquote erhalten. Denn worauf sollten sich diese Begriffe in hermeneutischen Diskursen sonst beziehen? Eine „unabhängige Faktenlage“ spielt hier im Gegensatz zur Erkenntnistheorie eine sehr untergeordnete Rolle. Zentral ist das Verhältnis zur eigenen „community of investigators“, nicht das besondere Verhältnis zur wirklichen Wirklichkeit. Im Spiegel der Natur, wie auch später, vor allem in Hoffnung statt Erkenntnis, reinterpretiert Rorty die Begriffe „objektiv“ und „wahr“ unter hermeneutischen Vorzeichen. Von „Objektivität als Methode“ und „Erkenntnis als Ziel“ zu sprechen macht in normalen Diskursen Sinn, in revolutionären Diskursen jedoch weniger. Rortys Philosophie nach Der Spiegel der Natur dreht sich meines Erachtens vor allem darum, auf diesen Unterschied aufmerksam zu machen.

Die problematische Voraussetzung, die sich „Platoniker, Kantianer und Positivsten teilen“, ist, „dass der Mensch ein Wesen hat, nämlich das, das Wesen der Dinge zu entdecken.“ (Rorty 1981, 387) Wenn man dieses Bild teilt, wird man zu der Vorstellung gelangen, dass wir Menschen durch Erkenntnis zu einer "höchsten" Sprache gelangen können, die uns ein allen gemeinsames Koordinatensystem bereitstellt, da alle Menschen nun mal in derselben Wirklichkeit leben. Wenn man zum Ziel hat, solch ein "Wesen des Menschen" auszuformulieren, ist der normale Diskurs natürlich extrem wichtig, da sich hier das Wesen von Wirklichkeit und Mensch gleichsam algorithmisch erfassen lässt. Rorty weist aber darauf hin, dass Erkenntnis deshalb nicht das zentrale und wichtigste Ziel des Menschen sein kann, weil es mehr gibt als den bloßen normalen Diskurs. Wenn es nur normale Diskurse gäbe, oder wenn es am Fundament überhaupt nur einen einzelnen normalen Diskurs geben sollte, dann sind Menschen nicht mehr als Roboter, die ein Programm abspielen. Das wird den Menschen jedoch schon alleine deshalb nicht gerecht, da sich auch die Regeln der normalen Diskurse selbst ändern. Es ändert sich stetig, was als normaler Diskurs gilt. Wenn es tatsächlich nur ein einzelnes, normales Vokabular am Fundament der Wirklichkeit gäbe, würde dies das Ende des kulturellen Gespräches bedeuten. Wissenschaftler oder Metaphysiker stünden (vielleicht nach langer Suche, aber prinzipiell irgendwann) mit der wahren Wirklichkeit in Kontakt und würden uns diese Wahrheit mitteilen. Menschen, die sich mit den „weichen Bereiche der Kultur“ befassen, wie Künstler beispielsweise, würden dann tatsächlich nur subjektive Befindlichkeitsäußerungen austauschen.

In Rortys Deutung ist die Erkenntnistheorie ein routinemäßiges Gespräch. Zu versuchen, Erkenntnistheorie als Fundamentaldisziplin zu betreiben, ist also der Versuch, einen routinemäßigen Gesprächsmodus zum Fundament zu erklären, sodass nichts mehr Neues und Unvorhergesehenes die Ordnung stört. Rorty ist dem gegenüber der Ansicht, dass an der „existenzialistische Intuition“ etwas dran ist, dass wir die wichtige Aufgabe haben, uns als Mensch immer wieder auf unvorhersehbar neue Weisen zu beschreiben. (Rorty 1981, 389) Das ist für Rorty lediglich die etwas pathetische Beschreibung des Umstandes, dass Lesen, Schreiben und Kommunizieren und die daraus resultierenden Veränderungen für uns oft größere Bedeutung haben als die Veränderungen, die beispielsweise durch Nahrungsaufnahme oder auch gesteigertes Einkommen auftreten.

Was uns Neues und Interessantes über uns selbst sagen lässt, gehört in diesem unmetaphysischen Sinne in höherem Maße zu unserem „Wesen“ (zumindest gilt dies für uns relativ begüterte Intellektuelle in den stabilen und wohlhabenden Teilen der Welt), als die Ereignisse, die unser körperliches Aussehen und unsere Lebensweise verändern (durch die wir uns also in einem weniger „geistigen“ Sinne „reproduzieren“). (Rorty 1981, 389)

Eine Philosophie, die diese „existenzialistische Intuition“ ernst nimmt – die Hermeneutik im Sinne Rortys – ersetzt daher den Erkenntnisbegriff durch den Begriff der Bildung. Rorty nennt dieses Projekt die „Suche nach neuen, besseren, interessanteren und ereignisreicheren Beschreibungsweisen“ für uns selbst und unsere Kultur (Rorty 1981, 390). Einer solchen Philosophie, die Bildung und nicht Erkenntnis als Zentrum hat, ist der revolutionäre Diskurs natürlich wichtiger als der Erkenntnistheorie. Deswegen kann Rorty auch sagen, dass die Hermeneutik die Hoffnung darauf ist, dass die Stelle im Zentrum der Kultur gerade nicht nachbesetzt werden wird. Denn diese Besetzung würde durch einen normalen Diskurs geschehen, der sich zu verabsolutieren versucht.

Die Hermeneutik will ihrerseits keinen normalen Diskurs derart verabsolutieren, sondern sich mit revolutionären Diskursen beschäftigen und diese fruchtbar machen. Auf der anderen Seite will sie aber natürlich nicht jeglichen normalen Diskurs abschaffen oder verneinen, sie muss ja selbst aus einem normalen Diskurs heraus agieren. Rorty will daher nicht – wie oft suggeriert wird – die Philosophie abschaffen oder die bisherigen Bemühungen für falsch und nichtig erklären. Viel mehr will Rorty der Erkenntnistheorie, dem normalen Diskurs, eine Ergänzung zur Seite stellen. Denn nur so kann man der gefährlichen Tendenz vorbeugen, einen normalen Diskurs als absolut gültig hinstellen zu wollen. Diese Tendenz zeigt sich zum Beispiel in der Suche nach Wahrheit und Fundamenten genauso wie darin, den Willen Gottes tun zu wollen.

Darin drückt sich für Rorty der recht banale Umstand aus, dass auch die größten Revolutionäre und Propheten erst in einer bestimmten kulturellen Umgebung aufgewachsen und erzogen werden mussten, bevor sie ihre revolutionären Ideen entwickeln konnten. Der revolutionäre Diskurs verhält sich also immer „parasitär“ zu einem normalen, die Hermeneutik benötigt die Erkenntnistheorie. Der Prozess der Bildung muss immer von dem Material ausgehen, das die Gegenwartskultur, also normale Diskurse im Umfeld, bieten. Einen freischwebenden revolutionären Diskurs zu beginnen, ohne damit einen normalen Diskurs gleichsam zu kommentieren, nennt Rorty bloße Verrücktheit.

Sich auch dort auf einen hermeneutischen Standpunkt zu stellen, wo Erkenntnistheorie ausreichend wäre – sich außerstande zu setzen, normale Diskurse hinsichtlich ihrer eigenen Motive zu betrachten und sie bloß noch aus der Innenperspektive seines eigenen nichtnormalen Diskurses sehen zu können – ist zwar nicht Verrücktheit, zeigt jedoch einen Mangel an Bildung. (Rorty 1981, 396f)

Die von Rorty vorgeschlagene Denkrichtung ist also im Wesentlichen reaktiv, sie kommentiert und positioniert sich in Opposition zur Tradition aufgrund der Hoffnung, Neues und Spannenderes über uns selbst sagen zu können.

Systematische und bildende Philosophie

Vor diesem Hintergrund verallgemeinert Rorty die Gegenüberstellung von Erkenntnistheorie und Hermeneutik und wendet sie so auf einem metaphilosophischen Level an. Auf der einen Seite steht dann die "systematische Philosophie" (Rorty 1981, 397). In jeder Kultur, die ein gewisses Maß an Reflektion hinter sich hat, wird es laut Rorty Bemühungen geben, ein System von Praktiken zum Paradigma menschlicher Tätigkeit zu erheben. Man wird dann zeigen wollen, wie die übrige Kultur davon profitiert, wenn man den herausgegriffenen Komplex aus Praktiken zum Fundament dieser Kultur erklärt. Für den Hauptstrom der westlichen Philosophie war dieses Paradigma das der Erkenntnis im Sinne der Metaphysik. Neue Großtaten in diesem Hauptstrom der Philosophie wurden von Denkern hervorgebracht, die von neusten kognitiven Errungenschaften begeistert waren. Diese neusten kognitiven Errungenschaften – Rorty nennt hier die Wiederentdeckung der aristotelischen Schriften, die galiläische Mechanik, die Entwicklung der selbstbewussten Geschichtsschreibung im 19. Jahrhundert, Darwin und die mathematische Logik – sollten in den Rang eines solchen Modells gehoben werden, dem die übrige Kultur nachzubilden ist. Hier sollte ein einzelnes System aufgebaut werden, das alle wahren Aussagen erfassen kann und die Philosophie „in den sicheren Gang einer Wissenschaft“ bringen kann. Alle Beiträge zu einem Gespräch sollen als Forschungsbeiträge gesehen werden – sie sollen mit einem einzelnen normalen Diskurs kommensurabel gemacht werden.

Doch das ist nicht die ganze Geschichte. Diesen systematischen Philosophen traten einige Autoren entgegen, die keine geschlossene Tradition bildeten. Diese Opponenten der systematischen Philosophie nennt Rorty "bildende Philosophen" (Rorty 1981, 398). Ihnen gemeinsam ist vielleicht nur, dass sie dem metaphysischen Bild vom Menschen als erkennendem Wesen und der Überbetonung von Exaktheitsidealen misstrauisch gegenüberstehen. Sie formulieren zumeist historisch informierte Einwände gegen solche Bilder, die das Wesen des Menschen wiedergeben sollten. Hier nennt Rorty solche Denker wie Kierkegaard, Goethe, William James, und auch seine drei „Helden“: Dewey, den späten Wittgenstein und den späten Heidegger (ich würde noch Feyerabend und Nietzsche hinzufügen). Diese Denker hielten das Gespür dafür am Leben, dass sich die Vielfalt des Lebens trotz der neuesten (zumeist wissenschaftlichen) Errungenschaften nicht auf einen Nenner bringen lassen wird. Die bildenden Philosophen verhalten sich peripher zum Hauptstrom der systematischen Philosophie, sie verhalten sich auf einer metaphilosophischen Ebene wie der revolutionäre Diskurs zum normalen. Rorty schreibt: „Große systematische Philosophen sind konstruktiv und liefern Argumente. Große bildende Philosophen reagieren und schreiben Satiren, Parodien und Aphorismen.“ (Rorty 1981, 400) Systematische Philosophen sind solche, die die Philosophie auf den sicheren Pfad einer Wissenschaft führen wollen und die um der Wahrheit willen denken. Bildende Philosophen sind solche, die um ihrer eigenen Generation willen zertrümmern und die das Gespräch der Philosophie in Gang halten. Systematische Philosophen tun alles, um einen normalen Diskurs als Fundament der Kultur und des Menschen zu platzieren. Bildende Philosophen tun alles dafür, um dem Staunen darüber, dass es immer noch Neues gibt, einen Platz zu erhalten.

Natürlich verhält es sich bei dieser Unterscheidung wie bei der von normalen und revolutionären Diskursen: wer sich nur in revolutionären Diskursen aufhält, ist verrückt. Ebenso kann man sich nicht nur in einer bildenden Philosophie aufhalten. Die Hermeneutik benötigt die Erkenntnistheorie, und die bildende Philosophin benötigt die systematische Philosophie. Für das Gespräch, das die bildende Philosophin im Sinn hat, benötigt man stets auch einen Gesprächspartner, ansonsten ist es einfach kein Gespräch. Auch die größten von Rorty genannten bildenden Philosophen hatten ihre konstruktiven Momente, in denen sie Systementwürfe vortrugen, und auch die größten Systematiker konnten sich zynische Anmerkungen nicht immer verkneifen. Und natürlich trägt auch der gerade nachgezeichnete Entwurf von Rorty systematische Züge – aber diese Ebene ist eben nicht alles.

Es wird, so meint Rorty, oft argumentiert, dass die Denker in der „bildenden Philosophie“ keine echten Philosophen wären. Denn Platon setzte in einer weithin anerkannten Art und Weise die Philosophen den Dichtern entgegen, und die bildende Philosophie in der von Rorty beschriebenen Art kommt einer Dichtung schon zum Verwechseln nahe. Die Bezeichnung „Kein echter Philosoph“ wird schon im kleineren Rahmen von Verfechtern eines „normalen Diskurses“ gegen die Vertreter eines „revolutionären Diskurses“ vorgebracht. Hier bedeutet es aber nur, dass die revolutionäre Idee sich zum bisherigen bequemen Professionalismus inkommensurabel (im oben erklärten Sinne) verhält. Auf der allgemeineren Ebene von systematischer und bildender Philosophie hat der Vorwurf „Kein echter Philosoph“ aber mehr Schlagkraft, denn Philosophen sollen Argumente bringen, was in diesem Fall aber nur schwer möglich ist, da die Rahmen fehlen, um Argumente überhaupt erst zu bewerten.

Rorty meint, dass bildende Philosophen auf einer Metaebene revolutionär oder nichtnormal sind. Dadurch unterscheiden sie sich von revolutionären systematischen Philosophen. Um noch einmal zu wiederholen: Rorty beschreibt das Verhältnis von Erkenntnistheorie und Hermeneutik als eine Trennung in normale und revolutionäre Diskurse. In der Philosophie sind normale Diskurse beispielsweise „Positivismus“ und „Pragmatismus“. Sie verhalten sich allerdings zueinander revolutionär oder – hier passender – nichtnormal, da ihre fundamentalen Annahmen inkommensurabel sind (aber nicht im Sinne von „totaler Unübersetzbarkeit“). Für sich genommen können aber beide Diskurse als normal verstanden werden, da in ihnen gewohnte Konventionen herrschen. Sie haben aber außerdem zumindest ein Bild, ein Paradigma, gemeinsam. Nämlich eine Ansicht darüber, was es ausmacht, ein Philosoph zu sein oder was zu erreichen für menschliche Wesen zentral ist. Und es hat sich, laut Rorty, geschichtlich ergeben, dass sie sich eben ein metaphysisches Bild teilen. Ein systematischer Philosoph, könnte sich also auf die Suche nach einem gemeinsamen Bezugsrahmen für diese nichtnormalen Diskurse machen. Systematische Philosophie drückt die Hoffnung aus, dass es einen solchen, ganz grundlegenden Rahmen gibt, der einen allgemeinen Hintergrund für alle nichtnormal scheinenden Diskurse bietet.

Im größeren Zusammenhang sind bildende Philosophen auf einer Metaebene revolutionär. Sie verletzen die Regel „nach der man Regeln nur verändern darf, wenn man erkannt hat, dass sie dem Gegenstand nicht gerecht werden, der Wirklichkeit nicht angemessen sind, die Lösung der zeitlosen Probleme behindern“ (Rorty 1981, 401). Bildende Philosophen weigern sich, sich als Denkerinnen zu inszenieren, die eine genaue Darstellung davon liefern, wie die Dinge sich verhalten. Sie sind der Ansicht, dass die ganze Idee der genauen Darstellung selbst nicht hilfreich ist. Bildende Philosophen sind quasi sehr anspruchsvolle Revolutionäre. Sie müssen die Idee, eine Theorie zu haben, in ihrer Wichtigkeit so stark herabsetzen, so dass sie nicht gezwungen sind, „eine Theorie über das Haben von Theorien zu haben“ (Rorty 1981 402).

Die systematischen Philosophen stößt dies natürlich vor den Kopf. Als Beispiel möchte ich einen verbreiteten Umgang mit Friedrich Nietzsche anführen. Dieser vermerkte in Der Wille zur Macht, dass der aristotelische Satz vom ausgeschlossenen Widerspruch lediglich ein Gesetz des menschlichen Denkens sei und daher nichts über die Wirklichkeit an sich aussagt, da wir aus dem menschlichen Denken niemals herauskämen (Nietzsche 1906, 243). Systematische Philosophen erwidern darauf, dass Nietzsche hier einen simplen Fehler begangen habe, denn seine Aussage ist selber eine Aussage über die Wirklichkeit und nicht nur über das menschliche Denken. Bildende Philosophen antworten, dass Nietzsche hier auf etwas anderes hinaus wollte. Kurz, sie leugnen die These, dass man aus der Metaphysik schon deshalb nicht so leicht herauskommen könne, da jede Verneinung einer metaphysischen Aussage ebenso eine metaphysische Aussage sei. Das ist die letzte Verteidigungslinie der Metaphysik, die aufzeigen soll, dass sich manche Probleme aufdrängen, sobald man zu reflektieren beginnt. Rorty antwortet dem gegenüber, dass große bildende Philosophen wie der späte Wittgenstein und der späte Heidegger nicht der Meinung sind, dass man notwendig eine Theorie über etwas vorbringt, nur weil man eine Theorie kritisiert. „Unter Umständen sagt man einfach etwas – man leistet keinen Forschungsbeitrag, sondern partizipiert an einem Gespräch. Etwas sagen heißt vielleicht nicht immer, sagen, wie Etwas ist.“ (Rorty 1981, 402) Das ist wohl mit ein Grund, warum beispielsweise Wittgensteins späte Schriften so schwer einzuordnen sind – weil das ganze System, um sie einzuordnen, von Wittgenstein selbst angegriffen wird.

Die Unterscheidung von systematischer und bildender Philosophie wird Rorty später nicht mehr erwähnen, aber sie wird den Hintergrund für die Unterscheidung zwischen liberalen Metaphysikern und liberalen Ironikerinnen bieten (Rorty 1992, 11ff). Auch bei Rortys Verhalten in der Realismus/Antirealismus Debatte steht diese Trennung im Hintergrund. Rorty kritisiert hier, dass die beiden normalen Diskurse „Realismus“ und „Antirealismus“, die sich nichtnormal zueinander verhalten, dasselbe Bild teilen, und zwar, dass es wichtig ist zu erkennen, welche Begriffe die Wirklichkeit akkurat wiedergeben und welche nicht (Rorty 1991, 2ff). Rorty tritt hier und in anderen Debatten stets als bildender Philosoph auf. Er ist auf einer Metaebene revolutionär, er möchte gegen den Repräsentationalismus mobilisieren, der beiden Ansichten zugrunde liegt.

Anmerkung

Dieser Text war Teil meiner Diplomarbeit, und in der hier leicht umgeschriebenen Form zeigt er immernoch einen sehr wichtigen Aspekt meiner philosophischen Selbsteinschätzung.









Die Philosophie ist nothwendig auch Philosophie der Philosophie, und selbst nichts anders als Wissenschaft der Wissenschaften. Ihr ganzes Wesen bestehet darin, die Kraft und den Geist, den sie zuerst den einzelnen Wissenschaften einhauchte, wechselweise einzusaugen, und mächtiger auszuströmen, damit sie reicher wiederkehren. Man muß also alles wissen um etwas zu wissen, und man versteht keinen Philosophen wenn man nicht alle versteht. Eben daraus siehst Du aber auch, daß die Philosophie unendlich ist, und nie vollendet werden kann.

Friedrich Schlegel - Über die Philosophie (1800)





Es ist nur die Zeit gekommen, uns zu fragen, was Philosophie sei. Und wir haben dies schon früher unablässig getan und die stets gleiche Antwort gegeben: Die Philosophie ist die Kunst der Bildung, Erfindung, Herstellung von Begriffen. Die Antwort mußte allerdings nicht nur die Frage einholen, sie mußte auch eine Stunde, eine Gelegenheit, Umstände, Landschaften und Personen bestimmen, Bedingungen und Unbekannte der Frage. Man mußte sie unter Freunden stellen können, vertraulich oder vertrauensvoll, oder als eine Herausforderung dem Feind gegenüber, und gleichzeitig jene Stunde der Dämmerung erreichen, in der man selbst dem Freund mißtraut.”

Gilles Deleuze & Felix Guattari - Was ist Philosophie? (1996)

Jede Wissenschaft [...] ist ein System von Erkenntnissen, d.h. von wahren Erfahrungssätzen; und die Gesamtheit der Wissenschaften, mit Einschluß der Aussagen des täglichen Lebens, ist das System der Erkenntnisse; es gibt nicht außerhalb seiner noch ein Gebiet "philosophischer" Wahrheiten, die Philosophie ist nicht ein System von Sätzen, sie ist keine Wissenschaft.
Was ist sie aber dann? Nun, zwar keine Wissenschaft, aber doch etwas so Bedeutsames und Großes, daß sie auch fürder, wie einst, als die Königin der Wissenschaften verehrt werden darf; denn es steht ja nirgends geschrieben, daß die Königin der Wissenschaften selbst auch eine Wissenschaft sein müßte. Wir erkennen jetzt in ihr - und damit ist die große Wendung in der Gegenwart positiv gekennzeichnet - anstatt eines Systems von Erkenntnissen ein System von Akten; sie ist nämlich diejenige Tätigkeit, durch welche der Sinn der Aussagen festgestellt oder aufgedeckt wird. Durch die Philosophie werden Sätze geklärt, durch die Wissenschaften verifiziert.

Moritz Schlick - Die Wende der Philosophie (1930)



Das weite Unternehmen der Philosophie besteht, wenn man es im Kernpunkt des Philosophen selber betrachtet, im wesentlichen in dem Versuch einer Umwandlung von all dem, was wir wissen, in das, was wir wissen möchten; und zwar wird für dieses Unternehmen gefordert, daß es sich in einer gewissen Ordnung vollzieht oder zumindest darbietet.

Paul Valéry - Leonardo und die Philosophen (1929)
Sofern der Mensch existiert, geschieht in gewisser Weise das Philosophieren. Philosophie - was wir so nennen - ist das In-Gang-bringen der Metaphysik, in der sie zu sich selbst und ihren ausdrücklichen Aufgaben kommt. Die Philosophie kommt nur in Gang durch einen eigentümlichen Einsprung der eigenen Existenz in die Grundmöglichkeiten des Daseins im Ganzen. Für diesen Einsprung ist entscheidend: einmal das Raumgeben für das Seiende im Ganzen; sodann das Sichloslassen in das Nichts, d. h. das Freiwerden von den Götzen, die jeder hat und zu denen er sich wegzuschleichen pflegt; zuletzt das Ausschwingenlassen dieses Schwebens, auf daß es ständig zurückschwinge in die Grundfrage der Metaphysik, die das Nichts selbst erzwingt: Warum ist überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts?

Martin Heidegger - Was ist Metaphysik? (1929)


Philosophie ist, ohne Zweifel, für verschiedene Leute Verschiedenes. Für die meisten von uns ist Philosophie in ihrem Kern Ontologie und Metaphysik, d.h. die Suche nach den allgemeinsten und durchdringendsten Strukturen der Realität, und die Suche nach den allgemeinsten und konstitutiven Formen der verschiedenen Typen von Erfahrung - perzeptiver, theoretischer, ästhetischer, moralischer, politischer, religiöser -, den Formen, die unabhängig von den besonderen und speziellen Inhalten die wesentlichen Typen der Erfahrung auszeichnen. Solche Strukturen und Formen können wir als ontisch bezeichnen. Wir werden uns hier mit den allerallgemeinsten Strukturen der Welt beschäftigen, wie sie in unserer Erfahrung erscheint. Unser Hauptziel ist es, eine umfassende, zusammenhängende und einheitliche Darstellung der durchdringendsten Strukturen von allen zu liefern, die aller Erfahrung zugrundeliegen.

Hector-Neri Castañeda - Sprache und Erfahrung (1982)







Kunst

Ich würde gerne ein anderes Vorbild, ein anderes Paradigma, eine andere Normalität, ein anderes Nest von Metaphern dafür haben, wie wir die Entität Philosophie verstehen.

Momentan können wir, denke ich, verallgemeinern, dass (Natur)wissenschaft das Paradigma für unsere philosophische Tätigkeit liefert: zentral ist der Einsatz von Vernunft und Rationalität, um etwas über die Wirklichkeit oder die dahinterliegenden Strukturen herauszufinden. Deswegen versucht man in der Philosophie alles als Beitrag zur Bildung einer Theorie oder der Kritik an einer solchen zu interpretieren, als Versuch, Hypothesen vorzubringen und sie argumentativ zu überprüfen (natürlich kann man, wie immer bei einer Verallgemeinerung, Ausnahmen finden).

Einige Philosophinnen haben allerdings Zweifel angemeldet, ob das die beste Sichtweise ist. Vielleicht ist es hilfreicher, wenn man die Philosophie - die ja irgendwie eine Antwort auf die Frage "Und was bedeutet das jetzt alles eigentlich?" geben möchte - nicht derart auf rationale Methoden einschränkt. Vielleicht gehört mehr zu einem bedeutsamen Leben als das. Ja aber wo sollen wir denn dann nach "Bedeutung" suchen? Meine idiosynkratische Antwort: versuchen wir es einmal mit "Kunst".

Momentan ist das meine liebste Definition von Kunst: Kunst ist der Versuch, eine Spur von Individualität in der Welt zu hinterlassen. Meine Idee ist es, eine so verstandene Kunst als paradigmatische Tätigkeit für Philosophie zu verstehen, den Ausdruck von Erleben und Erschaffen als Leitstern zu haben. Mit diesem Vorbild können wir zu verstehen versuchen, was wir tun, wenn wir philosophieren. Wie genau das aussehen kann… nun…






Ankündigung

Spätestens seit dem linguistic turn ist die Sprache ins Zentrum der philosophischen Aufmerksamkeit gerückt. Wo vormals die Vernunft das Verhältnis von Subjekt und Objekt geregelt hat, besteht nun die Möglichkeit, dieses Verhältnis semantisch zu deuten. Aber wie genau sieht dieses "semantische Verhältnis" aus? Bilden wir Subjekte mit unserer Sprache die Objekte und ihre Relationen ab? Wie funktioniert diese linguistische Repräsentation der Welt genau? Haben alle Sprachen dahingehend letztlich dieselben, fundamentalen Strukturen? Werden wir irgendwann in der Lage sein, eine universale, ideale Sprache zu konstruieren?

Sobald man ein wenig über diese und ähnliche Fragen nachdenkt, verschwimmen Begriffe wie “Sprache”, “Welt” und “Repräsentation”. Vielleicht - und das ist die Idee, die alle unsere Vortragenden in der ein oder anderen Form nachgegangen sind - sollte man im Angesicht dieser Undeutlichkeit sagen, dass es "die Sprache" nicht gibt. Vielleicht wäre es besser, stattdessen von verschiedenen Reglementierungen zu sprechen, die Bedeutungen erzeugen, gruppieren und überwachen und dadurch unser Denken, Sprechen und Leben zutiefst beeinflussen.

Für unser imaginäres Symposium Macht Sprache Welt haben wir unsere Gäste gebeten, ihre Sicht der philosophischen Lage zu schildern, zur Diskussion zu stellen und zu verbinden.




"Worüber man nicht sprechen kann, darüber muss man schreiben"

1. Eine gewisse unmögliche Möglichkeit von der Freiheit zu sprechen

Meines Erachtens ist es weder hilfreich noch interessant, zu versuchen, Freiheit in der Form von "Freiheit ist das und das" zu definieren. Ich möchte daher einen Umgang mit dem philosophischen Begriff von Freiheit vorschlagen, der strukturell einiges mit dem gemein hat, was Jacques Derrida das "Ereignis" nennt.

Derridas grundlegende Annahme, dass es kein Bedeutungszentrum von Texten gibt, erklärt seine besondere Schreibweise, "die zugleich beharrlich und elliptisch ist, die [...] auch das aufnimmt, was ausgestrichen ist, die jeden Begriff in eine unendliche Kette von Differenzen hineinzieht, die sich mit derart vielen Vorsichtsmaßnahmen, Referenzen, Anmerkungen, Zitaten, Zusammengeklebtem, Zusätzen umgibt oder belastet" (Derrida 2009, 36f). Dieses Vorgehen ist auch in Derridas Vortrag "Eine gewisse unmögliche Möglichkeit, vom Ereignis zu sprechen" spürbar, in dem er versucht, sich dem Begriff "Ereignis" zu nähern. Für Derrida bricht ein Ereignis immer unvorhersehbar und unkontrollierbar in unsere gewohnte Ordnung ein. Deswegen ist das Sprechen vom Ereignis, der Versuch ein Wissen darüber mitzuteilen, problematisch. Denn die Sprache ist eben jene gewohnte Ordnung, die vom Ereignis gestört wird. Derrida schreibt, dass das Sprechen als strukturierter und strukturierender Vorgang hier immer zu spät kommt und kommen muss. Durch die prinzipielle Iterabilität von Zeichen ist es der Sprache nicht möglich, die Singularität, die ein Ereignis ausmacht, in Wissen, das heißt in einen wiederholbaren Ausdruck, zu verwandeln. Das Sprechen setzt immer erst ein, wenn das Ereignis schon verschwunden ist, wenn man sich daran macht, die Störung in die Ordnung zu integrieren. Und die Identifikation des Ereignisses als "Störung" einer Ordnung ist dazu der erste Schritt. Derrida schreibt deshalb: "Das Ereignis, wenn es das gibt, besteht darin, das Unmögliche zu tun. Wenn aber jemand das Unmögliche tut, wenn er es wirklich tut, dann ist niemand, angefangen beim Urheber einer solchen Handlung, imstande, diesem Ereignis eine ihrer selbst gewisse theoretische Aussage anzumessen, des Typs: Dies und das hat stattgefunden" (Derrida 2003, 30).

Kommentar

S: Könnte man dann nicht das Ereignis als eine "Lücke" benutzen, um sich dem Unsagbaren zu nähern? Und wäre es nicht auch eine Anlaufstelle für das Philosophieren als Ausdruck der Identität? -- was wenn wir uns nicht nur Kunst, sondern so ein beschriebenes Ereignis als Paradigma nehmen? Was wenn wir philosophieren als eine Analogie zu Ereignissen sehen? Geht das? Doch wie kommen wir dann zu dem Punkt, um theoretische Aussage treffen zu können; wollen wir das überhaupt? Aber könnte man nicht sagen, dass da philosophieren eine gewisse "Störung" der Ordnung ist, in dem Sinn, dass Philosophie versucht Perspektivwechsel zu erzeugen (Insofern man das annehmen möchte). Wenn philosophiert wird, so erzeugt man - wie ein Ereignis - etwas Unvorhergesehenes oder zumindest ein Herausholen aus der bisherigen Ordnung (natürlich ist Derridas Punkt auf einer höheren Metaebene als das hier, glaube ich zumindest) und wenn wir darauf eine Aussage treffen wollen, und eventuell auch eine theoretische Aussage treffen wollen, dann ist das immer "danach". Sollte man und kann man eine Trennung erzeugen zwischen der Philosophie als Ereignis und der Philosophie als Ausdruck der ( )?

Das Ereignis als Vorbild für unser Philosophieren - ich versuche das zu verstehen. In gewisser Weise kann man den Gedanken dann vielleicht so darstellen: Freiheit ist das Ereignis, das Kunst möglich macht (das ist ungefähr der Punkt dieses Textes). Kunst ist das Paradigma der Philosophie (oder sollte es sein, laut meiner Idee). Doch das zieht einen Zwischenschritt ein. Laut meiner Idee soll das Vorbild der Philosophie der künstlerische Versuch sein, als Individuum gegen die Welt zu bestehen. Laut Deiner Idee ist es dann -- der Versuch, das Unsagbare, dass jedem Sagbaren seinen Sinn gibt, in der Aufmerksamkeit zu halten?

Ich würde sagen, es stellt sich bei "Freiheit" ein ähnliches Problem. Man kann ihr nicht so leicht beikommen, vor allem nicht in Aussagesätzen, die ein Wissen transportieren sollen. Denn sobald man versucht, sich der "Freiheit" mit Worten zu nähern, ist sie schon in eine vorhersehbare Ordnung integriert und alles ist entschieden. Derrida meint also, dass es unmöglich sein wird, den Sinnmittelpunkt aller Texte ausfindig zu machen. Es ist eher so, dass wir immer Begriffe ausschließen, indem wir bestimmte andere Begriffe für unser System als zentral festlegen. Derrida spricht daher von der Gewalt einer Deutung (siehe Derrida 1991, 23f). Ein Sprechen ist immer das Aufrechterhalten und das Festlegen einer gewohnten Ordnung, ein Gewaltakt gegen eine Freiheit. Denn wo eine Gewalt herrscht, auch wenn es sich um eine legitimierte Gewalt handelt, ist Freiheit verschwunden. Sprechen ist so gesehen kein Abbilden der wahren Wirklichkeit, sondern immer ein Deuten, ein Ordnen, ein Reduzieren von vielen Möglichkeiten auf eine Wirklichkeit. Gefährlich wird das, wenn ich dann sage, dass meine Wirklichkeit die einzige Möglichkeit ist. Das passiert beispielsweise, wenn man unter dem Banner von Freiheit und Gerechtigkeit politisch agiert oder wenn man versucht, das "Wesen der Freiheit" philosophisch zu explizieren. Hier herrscht die (möglicherweise durchaus legitime) "Gewalt einer Deutung", aber keine "Freiheit".

Kommentar

S: Titel - Utobiographie - Kunst als Paradigma für philosophieren? Ich gehe durch den Wald und betrachte, wie sich das schwache Abendlicht seinen Weg durch eine größere Lücke zwischen den Tannen zu meinem Gesicht bahnte. Es war Winter, doch die Luft war feucht, fast schon nebelig und für den Winter ungewöhnlich warm. Ich sah die dunklen Tannen, davor das helle Grün der Gräser des Weges und die leicht gelblich orange Verfärbung in den sonst grauen Wolken. „Mystisch“ dachte ich mir. Und so begann sich in mir die Überlegung auszubreiten, wie faszinierend Titel sein konnten. Ich dachte dabei zunächst an eigene Bilder, denen ich in meinen Gedanken ab und zu Titel gab, und dann an Bilder von anderen die sie betitelten. Ich begann mich daran zu erinnern, wie es ist, wenn man durch Kunstaustellungen läuft, sich die Kunstwerke anaschaut und dann die Titel liest oder sich vielleicht sogar eigene dazu ausdenkt. Schon witzig wie viel ein Titel ausmachen kann. Beim Buchverkauf ist er mit dem Cover der Ersteindruck. Ist er gut, kann er catchen. Dabei musste ich an Michel Foucault denken, der mal in einem Interview sagte, er möchte Bücher schreiben, die wie Bomben einschlagen (Foucault 2003, 608). Ein guter Titel lädt Leser und Leserinnen ein. Oder erschreckt sie, weckt sie auf. Vielleicht sind sie auch ein Ereignis? Titel scheinen wichtig zu sein, egal ob in der Kunst, der Literatur, der Philosophie oder klassischerweise bei den Nachrichten. Doch was macht einen guten Titel aus? Wie wichtig ist er? Und gibt es eine Anleitung für den perfekten Titel? Kann man Titelvergabe erlernen? Bei diesen Fragen schweiften meine Gedanken zu einer Idee. Was wäre, wenn man ein Buch über den perfekten Titel schreibt? Eine Anleitung zum perfekten Titel, die auf alle Bereiche anwendbar ist? Sehr schnell kam mir dann der Gedanke, dass ich wohl intuitiv beim Schreiben eines solchen Buches zu der Ansicht käme, das dies ein unmögliches Unterfangen sei (ein Ereignis). Doch wäre es nicht fantastisch, dieses Buch zu betitelten mit “404 Error. Not found”

Ich knüpfe deshalb an Derrida an, wenn ich sage, dass Freiheit nicht direkt thematisiert werden kann. Ich kann nicht endgültig festlegen "Freiheit ist das und das", wenn ich ihr philosophisch gerecht werden möchte. Freiheit muss den Aussagesätzen und dem Wissen Widerstand leisten. Auf der anderen Seite machen weder Philosophie noch Literatur ohne die Annahme von Freiheit viel Sinn. Sie machen wenig Sinn, wenn man nicht annimmt, dass man sich für etwas entscheiden kann, dass sich etwas Neues ereignen kann. Man hat hier das Problem, dass man etwas in Worte fassen möchte, das sich so vielleicht nicht sagen lässt.

Ich möchte also den Gewaltakt einer These wagen. Sie lautet, dass man vielleicht nicht direkt über Freiheit sprechen kann, aber dass sich Freiheit zeigen kann, und zwar in (literarischen) Versuchen, neue Sprechweisen zu erfinden. Um es mit Derrida zu sagen, dass eine konstative Ebene der Sprache hier um eine performative Ebene ergänzt werden sollte (vgl. Derrida 2003, 18ff).

Um das zu veranschaulichen, möchte ich auf eine Unterscheidung des amerikanischen Neopragmatisten Richard Rorty eingehen. In Anlehnung an Thomas Kuhn nennt er unsere alltäglichen Sprechsituationen "normale Diskurse". Für Rorty ist ein normaler Diskurs der, der sich in einem allgemein anerkannten System von existierenden Konventionen abspielt (vgl. Rorty 1981, 348f). Man versucht nichts aufregend Neues zu sagen, man hat bekannte Maßstäbe der Bewertung, um Aussagen zu deuten. Anders ausgedrückt: man hat eine gewohnte Ordnung, eine gewohnte Sprache. Doch dieses Bewegen innerhalb eines Systems von bekannten Konventionen kann nicht alles sein. Das Befolgen eines normalen Diskurses ist wenig mehr, als wenn eine Maschine ein Programm abspielt. Das wird Menschen philosophisch gesehen nicht gerecht, schließlich ändern sich auch die Konventionen, die Bewertungsrahmen. Rorty ergänzt daher unsere normalen Diskurse, wiederum in Anlehnung an Kuhn, um den "revolutionären Diskurs". Um einen revolutionären Diskurs handelt es sich, wenn etwas nicht mit den herkömmlichen Bewertungsmaßstäben erfasst werden kann, wenn etwas die gewohnte Ordnung stört. Es mag sein, dass es sich nur um einen Verrückten handelt, den die normale Ordnung nicht erfassen kann. Es kann sich aber auch im ein Genie handeln, das etwas bis dahin Undenkbares gedacht hat. Bei diesen unvorhersehbaren Einbrüchen müssen Maschinen, die ein Programm abspielen, ihre Tätigkeit einstellen. Hier wird man als Mensch aktiv werden müssen, man die Maßstäbe der Bewertung überdenken, man wird handeln müssen.

An dieser (letztlich nicht überschreitbaren) Schwelle zum revolutionären Diskurs ist aber auch der Punkt, an dem die Gewalttat der Deutung für ein philosophisches Sprechen über Freiheit zum Problem wird. Denn sobald man eine Störung als revolutionären Diskurs deutet, befindet man sich bereits in einem normalen Diskurs. Man kann einen revolutionären Diskurs immer nur vom Standpunkt eines normalen Diskurses aus untersuchen, denn man wird versuchen, sich auch dort zurechtzufinden, wo man noch nicht versteht, was vor sich geht. Man wird also die Störung deuten und damit tut man der Freiheit schon eine Gewalt an, man integriert die Störung in eine Ordnung, das Sprechen kommt zu spät, um diese Freiheit zu erfassen.

Das ist einerseits gerechtfertigt, denn würde man nicht versuchen, sich zu orientieren, könnte niemals etwas gesagt werden, die Vorstellung einer Sprache wäre sinnlos. Andererseits sollte man sich beim Philosophieren darüber im Klaren sein, dass sich der momentanen Deutung immer Vieles entzieht. Wenn man sich in der Philosophie im Besitz eines Wissens über Freiheit wähnt, versucht man eher den eigenen normalen Diskurs zu verabsolutieren, als dass man sich um ein philosophisches Forschen bemüht, das sich laut Derrida eigentlich im Modus des Fragens abspielen sollte (vgl. Derrida 2003, 10f).

Da man sich als Sprechender immer in einer geregelten Ordnung befindet, ist es also ein Problem, über eine Freiheit zu sprechen, die diese geregelte Ordnung prinzipiell übersteigen soll. Wie oben bereits erwähnt, besteht das Ereignis darin, das Unmögliche zu tun. Denn das Ereignis wird und muss, genau wie "Freiheit", aus der normalen Ordnung als unmöglich erscheinen. Denn würde ich das bloß Mögliche aktualisieren, würde sich nichts ereignen, ich würde wiederum wie eine Maschine einfach ein Programm abspielen und in diesem Rahmen den verschiedenen Wegen folgen, die mir der normale Diskurs vorgibt. Auch die Bezeichnung revolutionärer Diskurs stammt schon aus einem normalen Diskurs und damit bin ich auch schon zu spät gekommen, bewege mich im Rahmen bloßer Möglichkeiten. Ich habe die das Ereignis schon als Störung gedeutet und kann über diese sprechen. Aber auch diese gedeutete Störung veranlasst uns manchmal, die Regeln des normalen Diskurses zu modifizieren. Es scheint, als ob die prinzipielle Offenheit für einen unmöglichen, revolutionären Diskurs, der über unseren normalen Diskurs hereinbricht, eine radikale Freiheit geltend macht. Ich meine damit, dass sich die Regeln unseres normalen Diskurses auf unvorhersehbare Weise ändern. Aufgrund dieser Unvorhersehbarkeit kann Freiheit von den transparenten Konventionen des normalen Diskurses nicht erfasst werden. Sie bleibt immer unmöglich, widersetzt sich der Festlegung in Aussagesätzen. Daher müssen auch diese, meine Sätze letztlich scheitern. Aber vielleicht gibt es literarische Anzeichen dieser unaussprechlichen Freiheit?

2. Die armen Verwandten richtiger Worte

Auch wenn die folgende Aussage von dem bisher Gesagten letztlich als falsch entlarvt wird, möchte ich vermuten, dass sich vielleicht dort eine Freiheit zeigt, wo Menschen neue Sprechweisen erfinden, um etwas bis dahin Unmögliches zu sagen. Das Sprechen kommt zwar auch hier immer zu spät, aber das Gefühl, dass das bisher Gesagte nicht alles sein kann, verschwindet nicht.

Dieses Gefühl hegt auch Cincinnatus C., der Hauptcharakter von Vladimir Nabokovs Roman Einladung zur Enthauptung. Dieses Werk beginnt damit, dass ebenjener Cincinnatus zum Tode verurteilt und in eine Festung gebracht wird. Auf den ersten Blick ist er nun ein Gefangener, der auf seine Hinrichtung wartet. Es zeigt sich aber, dass er Zeit seines Lebens ein Gefangener war, die Festung wird wiederholt mit seinem täglichen Leben assoziiert. In einer Traumsequenz kann Cincinnatus die Festung verlassen und spaziert nach Hause, und als er seine Wohnungstüre öffnet, steht er wieder in seiner Zelle. In einer anderen Situation wird auch sein Brustkasten mit einem Kerker verglichen (Nabokov 2003, 34f). Sein wahres Gefängnis ist das routinierte Leben der Menschen, das inhaltslose Gerede seiner Umgebung, die gespielte Freundlichkeit - ein normaler Diskurs, eine gewohnte Ordnung.

Nabokovs Biograph Brian Boyd, schreibt, dass Cincinnatus in einem "Gefängnis der Sprache" sitzt (Boyd 1999, 664). Ich möchte diesen Aspekt gegenüber den politischen Deutungen des Romans hervorheben. Der Text handelt an vielen wichtigen Stellen von Sprache und ihrer Anwendung. Das Todesurteil wird als Metapher formuliert und im Flüsterton mitgeteilt. An anderer Stelle kann man lesen, dass Cincinnatus wegen des "Tons seiner Stimme" hingerichtet wird. Sein Verbrechen ist, dass er für die anderen Menschen nicht transparent ist, nicht durchsichtig, nicht vorhersehbar. Diese Transparenz wird an seiner Sprache festgemacht, denn die Menschen in Cincinnatus' Welt verstehen einander nach dem ersten Wort. Denn ihre Worte haben keine unbekannten oder neuen Bedeutungen. Wie Cincinnatus feststellt: "Was unbenannt ist, existiert nicht" und Nabokov fügt als Erzähler resignierend hinzu: "Leider war alles benannt" (Nabokov 2003, 27).

Auch schreibt Cincinnatus sehr viel in seiner Zelle, unter anderem, dass es keinen einzigen Menschen in dieser Welt gibt, der seine Sprache spricht, was für ihn bedeutet, dass es überhaupt keinen einzigen Menschen gibt. Das normale Leben um ihn herum ist für ihn nicht mehr als eine Horde Gespenster und Attrappen, die auf einer schlecht gezimmerten Bühne eine Farce aufführen.

Die "transparenten Menschen" in diesem Roman kann man als Sinnbild für den Versuch sehen, einen normalen Diskurs zu verabsolutieren. Sie gleichen Maschinen, die ein Programm abspielen. Sie haben alles benannt, was existiert. Alles, was sie nicht benannt haben, existiert für sie einfach nicht. Die Menschen in dieser Welt haben Angst davor, dass sich etwas Unvorhersehbares ereignen könnte, für das sie keine fertige Handlungsregel haben. Jeder Versuch, von Freiheit Gebrauch zu machen, jeder Versuch, bis dahin Unsagbares zu sagen, wird als ein Verbrechen verurteilt. Cincinnatus irritiert seine Umgebung, er stört mit seinem Wortgebrauch die gewohnte Ordnung und wird mit Gewalt zum Schweigen gebracht. Oft schreibt Cincinnatus in seiner Zelle, dass ihm die Worte fehlen, um zu sagen, was gesagt werden müsste. So schreibt er: "Alle meine besten Worte sind Deserteure und antworten nicht auf das Trompetensignal, und die übrigen sind Krüppel" (Nabokov 2003, 231f).

Im Laufe des Romans versuchen verschiedene Personen, Cincinnatus zum Widerruf zu bewegen. Unter anderem seine Frau, die bei ihrem Besuch ihr ganzes tägliches Leben in Form der Wohnungseinrichtung - den ganzen normalen Diskurs - mitbringt. Wenn er nur transparent würde, so beschwören sie ihn, müsste er auch nicht eingesperrt oder hingerichtet werden. Doch Cincinnatus weigert sich beharrlich, auch wenn er Angst vor dem Tod hat. Denn vor der Oberflächlichkeit seiner Umgebung graut ihm noch mehr. Diese Oberflächlichkeiten werden besonders an seinen Bewachern und an seinem Henker M'sieur Pierre offensichtlich. Dieser ist auch die Gestalt, die dem traditionellen Philosophen sehr nahekommt. So beschwatzt er Cincinnatus einmal mit platonischem Pathos mit einer philosophischen Explikation zum Thema Genuss. Ein anderes Mal kündigt er an, ein Theaterstück aufzuführen mit dem Titel "Mach dich klein, Sokratlein" (vgl. Nabokov 2003, 250). Man erkennt, so möchte ich behaupten, wiederholt inhaltliche ähnlichkeiten von Einladung zur Enthauptung und dem platonischen Dialog Phaidon (siehe Platon 2006). In diesem Dialog werden die letzten Stunden des zum Tode verurteilten Sokrates beschrieben. Dieser philosophiert im Kerker bis zum Schluss über die Seele, deren Unsterblichkeit und warum der Philosoph keine Angst vor dem Tod haben darf. Ohne Angst leert er sodann den Schierlingsbecher und stirbt. Anders als Cincinnatus allerdings, verspürt Sokrates nicht den Hauch von Furcht.

Die Einladung zur Enthauptung wie der Phaidon beschreiben Menschen, die eingesperrt werden, weil sie unverständliche und verstörende Dinge sagen. In der Situation von Sokrates und Cincinnatus zeigt sich meines Erachtens eine unmögliche Freiheit gerade in dem Verlangen, bis dahin Unmögliches zu sagen. Die zu seiner Zeit neuen Ideen des platonischen Sokrates verändern die Regeln eines normalen Diskurses auf sehr nachhaltige Weise. Doch auch dieser neue normale Diskurs wird nun verabsolutiert. Gegen solche Versuche möchte wiederum Cincinnatus eine unsagbare Freiheit geltend machen. Ich möchte behaupten, dass Gestalten wie Sokrates und Cincinnatus gar nicht vorstellbar wären, wenn es nur den normalen Diskurs gäbe. Oder sie müssten als verrückte Verbrecher erscheinen, die man einsperren muss.

Im Gegensatz zu den Menschen ihrer jeweiligen Narrative, kommen uns weder die Gestalt des Cincinnatus noch die des Sokrates verrückt oder verbrecherisch vor. Eher erzeugen sie Sympathie oder nötigen uns doch zumindest einen gewissen Respekt ab. Man hat das Gefühl, dass sie in einer Welt voller Maschinen die Menschlichkeit verteidigen.

Doch Cincinnatus wird, wie auch Sokrates, am Ende hingerichtet - sein unmöglicher Versuch, etwas Unsagbares auszudrücken, ist Opfer einer sehr buchstäblichen Deutungsgewalt geworden. Die Störung der Ordnung wurde scheinbar beseitigt. Aber die Gewalt der Deutung kann das Gefühl für Freiheit, das Gefühl, dass Worte fehlen, um wichtige Dinge zu sagen, nie endgültig bändigen. Die normale Ordnung kann das unmögliche Ereignis nicht kontrollieren und so endet auch das Leben von Cincinnatus trotz der Enthauptung nicht. Er sucht die Sprache als unmögliche Möglichkeit weiter heim. Die Attrappen, die Cincinnatus umgeben, sind darüber gar nicht begeistert. Es war doch unmöglich, dass Cincinnatus die Enthauptung überleben würde?

Die Situation, in der sich Cincinnatus befindet, ist meiner Ansicht nach der Situation einer Philosophin ähnlich, die ernsthaft über Freiheit sprechen möchte. Beide können ihrer Situation begrifflich nicht beikommen und fühlen sich in einem normalen Diskurs eingesperrt. Beiden - Cincinnatus wie der Philosophin - fehlen die Worte, obwohl sie das Gefühl haben, dass hier etwas Wichtiges gesagt werden müsste. Sie versuchen trotz der Aussichtslosigkeit, das Unmögliche in neue Worte zu fassen und erscheinen weltfremd und unverständlich. Nachdem es in Worte gefasst wurde, ist es natürlich nicht mehr unmöglich, die Bezeichnung "revolutionärer Diskurs" (oder "Ketzer!") ist schon eine Deutung der Störung. Das, was die gewohnte Ordnung gestört hat, unterliegt nun schon der Gewalt der Deutung und vieles hat sich schon entzogen. Freiheit ist damit schon verschwunden. Aber die Worte, die fügsam auf das "Trompetensignal der Aussage" hören, fühlen sich nur an wie "die armen Verwandten richtiger Worte." (Nabokov 2008, 96). Mit diesen Worten kann noch nicht alles gesagt worden sein.

Ich meine, um zu meiner These zurückzukommen: Literarische Perspektiven können unser Gespür für eine unmögliche Freiheit schärfen. Sie können dafür empfänglich machen, dass wichtige Dinge noch nicht gesagt wurden, weil die Worte dazu fehlen. Und dass es wichtig ist, dass immer noch etwas zu sagen bleiben wird und das wir nicht versuchen sollten, unsere liebgewonnenen Konventionen dogmatisch zu verabsolutieren. Der menschliche, allzumenschliche Versuch, neue Sprechweisen zu erfinden, könnte also ein Ausdruck einer gefühlten, sich der Gewalt der Deutung entziehenden, Freiheit sein.

So schreibt auch Rorty, dass die Einzigartigkeit des Menschen nicht darin besteht, alles in ein einzelnes, vernünftiges System einordnen zu können, sondern in dem poetischen Vermögen, einzigartige und dunkle Dinge zu sagen, neue und überraschende Dinge. Neues bricht unvorhersehbar in unsere gewohnte Ordnung ein und wir müssen darauf reagieren, indem wir unsere Ordnung anpassen. Menschsein wird sich daher nie auf einen Begriff bringen lassen und deswegen ist auch die Philosophie auf die Offenheit der Literatur angewiesen. Denn auch meine Worte kommen zu spät.

Anmerkung

Dieser Text ist bereits in einer früheren Fassung unter meinem früheren Nachnamen erschienen in (Ebel/Lembcke 2010, 20-26)




[D]enn der Stil ist für den Schriftsteller wie die Farbe für den Maler nicht eine Frage der Technik, sondern der Anschauung. Er bedeutete die durch direkte und bewußte Mittel unmöglich zu erlangende Offenbarung der qualitativen Verschiedenheit der Weise, wie uns die Welt erscheint, einer Verschiedenheit, die ohne die Kunst das ewige Geheimnis jedes einzelnen bliebe. Durch die Kunst nur vermögen wir aus uns herauszutreten und uns bewußt zu werden, wie ein anderer das Universum sieht, das für ihn nicht das gleiche ist wie für uns und dessen Landschaften uns sonst ebenso unbekannt geblieben wären wie die, die es möglicherweise auf dem Mond gibt. Dank der Kunst sehen wir nicht nur eine einzige Welt, nämlich die unsere, sondern eine Vielzahl von Welten; so viele wahre Künstler es gibt, so viele Welten stehen uns offen: eine von der anderen stärker verschieden als jene, die im Universum kreisen, senden sie uns Jahrhunderte noch, nachdem der Fokus erloschen ist, von dem es ausging, ob er nun Rembrandt oder Vermeer hieß, ihr spezifisches Licht.

Marcel Proust - Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 7: Die wiedergefundene Zeit.




Imaginärer Vortrag: Melancholische Maschinen


Abstract

Für viele Autorinnen der Neuzeit ist Melancholie ein zentraler Topos ihres Schaffens, sie beziehen Kreativität und Selbstbild aus ihrer melancholischen Haltung, man denke an Arthur Schopenhauer oder Søren Kierkegaard. Für andere ist Melancholie eine unglückliche Episode, die überwunden werden muss um zum kreativen Schaffen zurückzukehren – hier kann uns Michel de Montaigne als Beispiel dienen. Aber alle Positionen auf diesem Spektrum teilen sich eine Idee: Melancholie ist ein subjektiver Zustand und man muss ihm mit absichtsvollen, inneren Mitteln begegnen. Der Umgang mit Melancholie ist die persönliche, existenzielle Aufgabe jedes Einzelnen.

Slavoj Žižek erwähnt an verschiedenen Stellen den Einsatz von buddhistischen Gebetsmühlen. Das sind Maschinen, die vom Wasser eines Flusses angetrieben werden, in die man seine auf Zettel geschriebene Gebete steckt. Durch die Umdrehungen betet die Maschine für einen, Žižek nennt dies „objektives Beten“. Während die Maschine so für einen betet kann man sich anderen Dingen des Lebens zuwenden. Doch hätte man nicht vermutet, dass das eigene Seelenheil die persönliche, existenzielle Aufgabe jedes Einzelnen ist?

Ich möchte die Frage nach der Wirksamkeit von Gebeten für das eigene Seelenheil nicht weiter verfolgen, wohl aber die Frage, ob uns Maschinen persönliche, existenzielle Aufgaben abnehmen können. Genauer gesagt möchte ich diese Frage beantworten, indem ich sage, dass es literarische Texte gibt, die das im Bezug auf die Melancholie können. Diese „melancholischen Maschinen“ sind dann "objektiv melancholisch" und wir Menschen können uns dank ihrer Arbeit derweilen anderen Dingen zuwenden.

Noch genauer gesagt, möchte ich zeigen, dass die Texte von Thomas Bernhard derartige melancholische Maschinen sind. Indem er sie schrieb, sie konstruierte, hat er sein Ringen mit der Melancholie objektiviert und damit in das kulturelle Archiv gehoben, wo sie heute noch für uns wirksam sind – wir müssen seine Texte dazu nicht einmal gelesen haben, aber ihre Wirkung zeigt sich in der Kultur die uns umgibt. Wir können uns anderen Dingen zuwenden – wenn wir wollen. Aber wir müssen nicht.






Die turbulenten Umwälzungen seither haben nicht alle Städte gleich gut überstanden. In manchen haben Bomben oder politische Umstände dafür gesorgt, daß der eigenständige Charakter sich verdünnte, in anderen waren es ideen- und instinktlose Urbanisten. Obwohl, wie ich meine, der Reiz der modernen Großstadt gerade auf dem Nebeneinander inkongruenter Teile beruht, versucht man jetzt, mit einer alles niederwalzenden Nivellierung eine künstliche Einheitlichkeit zu schaffen, deren innere Leere man durch Gigantismus kaschieren muß. Ist das die Zukunft der europäischen Hauptstädte? Werden bald unsere Stadtkerne lebenslose museale Überbleibsel sein, in denen die Außenbewohner sonntags spazierengehen?

Georg Stefan Troller - Die Hauptstädte Europas, 5
Cities are no longer waiting for the arrival of the tourist - they too are starting to join global circulation, to reproduce themselves on a world scale and to expand in all directions. As they do so, their movement and proliferation are happening at a much faster pace than the individual romantic tourist was ever capable of. This fact prompts the widespread outcry that all cities now increasingly resemble one another and are beginning to homogenize, with the result that when a tourist arrives in a new city he ends up seeing the same things he encountered in all the other cities. This experience of similarity among all contemporary cities often misleads the observer to assume that the globalization process is erasing local cultural idiosyncrasies, identities, and differences. The truth is not that these distinctions have disappeared, but that they in turn have also embarked on a journey, started to reproduce themselves and to expand.

Boris Groys - “The City in the Age of Touristic Reproduction”, 105



Selbst















Die Logik ist zwar unerschütterlich, aber einem Menschen, der leben will, widersteht sie nicht.

Franz Kafka - Der Prozeß

Ich stelle mir das Selbst als ein Sprachspiel vor. Ein Sprachspiel kann aus Regeln und aus gruppierten Regeln, das heißt, anderen Sprachspielen bestehen. (Analogie dazu: man kann Mensch-ärgere-dich-nicht spielen und um herauszufinden, wer das Spiel beginnt, kann man Schere-Stein-Papier spielen.)

Manche Sprachspiele - in diesem Fall Menschen - wollen in eine argumentative Beziehung miteinander treten, vor allem in der Philosophie wird das des Öfteren vorkommen. Und oft sehen wir dabei, dass Argumente nur eine begrenzte Reichweite haben, beispielsweise wenn ein religiöses und ein wissenschaftliches Sprachspiel aufeinandertreffen. Was wir hier von Jean-François Lyotard lernen können ist, dass es Sprachspiele gibt, die bestimmte fundamentale Regeln nicht teilen und die daher nicht direkt in eine argumentative Beziehung treten können – der Fall, den Lyotard „Widerstreit“ nennt. Ein gutes Beispiel dafür scheint mir die berühmt-berüchtigte Diskussion zwischen Michel Foucault und Naom Chomsky zu sein (hier eine recht akkurate Darstellung ihres Widerstreits).

Dabei muss man den Begriff des "Widerstreits" nicht quasi-mystisch aufladen. Alles, was man für einen Widerstreit braucht sind zwei Sprachspiele die über dasselbe Themengebiet handeln aber Bedeutungen mittels Regeln konstruieren, die nicht kommensurabel sind. Das kann relativ leicht passieren, wie in Lyotards eigenem Beispiel, in dem zwei Rechtssysteme aufeinandertreffen, oder wenn sich zwei Menschen argumentativ begegnen, die einen sehr unterschiedlichen intellektuellen Hintergrund haben - wie eben Foucault und Chomsky. Auch Richard Rorty hat, denke ich, eine ähnliche Situation vor Augen, wenn er vom Verhältnis von "systematischer" und "bildender" Philosophie spricht.

Was also tun in einem Fall eines diskursiven Disputs? Eine übliche Antwort ist, dass man versucht, mittels Argumenten sein Gegenüber von der Rationalität oder Angemessenheit der eigenen Position zu überzeugen. Das funktioniert dann, wenn kein Widerstreit vorliegt, wenn anders gesagt alle involvierten Parteien sich über die fundamentalen Regeln einig sind, aber über deren Anwendung und Auswirkungen diskutieren. Lyotards Begriff dafür ist „Rechtsstreit“.

Wenn allerdings ein Widerstreit vorliegt, ist dieses Vorgehen nicht hilfreich, da gemeinsame Bewertungsmaßstäbe fehlen, die eine Einigkeit darüber ermöglichen, was denn eigentlich ein gutes Argument ist. Seltener wird ein Konsens über die Regeln der Logik fehlen, öfters wird man sich nicht darüber einigen können, was die plausiblen Prämissen des Arguments sind. Kurz: Im Falle eines Widerstreits verlieren Argumente ihre diskursive Kraft.

Lyotard selber gibt uns hier eine Idee, was man im Angesicht eines Widerstreites tun könnte

Der Widerstreit ist der instabile Zustand und der Moment der Sprache, in dem etwas, das in Sätze gebracht werden können muß, noch darauf wartet. Dieser Zustand enthält das Schweigen als negativen Satz, aber er appelliert auch an prinzipiell mögliche Sätze. Was diesen Zustand anzeigt, nennt man normalerweise Gefühl. “Man findet keine Worte” usw. Es bedarf einer angestrengten Suche, um die neuen Formations- und Verkettungsregeln für die Sätze aufzuspüren, die dem Widerstreit, der sich im Gefühl zu erkennen gibt, Ausdruck verleihen können, wenn man vermeiden will, daß dieser Widerstreit sogleich von einem Rechtsstreit erstickt wird und der Alarmruf des Gefühls nutzlos war. Für eine Literatur, eine Philosophie und vielleicht sogar eine Politik geht es darum, den Widerstreit auszudrücken, indem man ihm entsprechende Idiome verschafft. (Lyotard 1989, §22)

In meiner Terminologie sollte man versuchen, neue Regeln zu erfinden und sie in das Sprachspiel, das man sein Selbst nennt, zu inkorporieren, um damit das eigene Selbst Reichhaltiger zu machen. Das Ziel ist es dann nicht, den Widerstreit schlichtend nicht zu lösen, sondern aufzulösen.

Ein möglicher Weg einer derartigen „Auflösung eines Widerstreits“ wäre es, das Sprachspiel, das meinem Gegenüber als Hintergrund dient, zu erlernen, um dann das Gespräch vor diesem Hintergrund zu betrachten. Um die zentrale Idee von Mein Name sei Gantenbein anzupassen: „Ich probiere Sprachspiele an wie Kleider“.




It was Nietzsche who first explicitly suggested that we drop the whole idea of "knowing the truth." His definition of truth as a "mobile army of metaphors" amounted to saying that the whole idea of "representing reality" by means of language, and thus the idea of finding a single context for all human lives, should be abandoned. His perspectivism amounted to the claim that the universe had no lading-list to be known, no determinate length. He hoped that once we realized that Plato's "true world" was just a fable, we would seek consolation, at the moment of death, not in having transcended the animal condition but in being that peculiar sort of dying animal who, by describing himself in his own terms, had created himself. More exactly, he would have created the only part of himself that mattered by constructing his own mind. To create one's mind is to create one's own language, rather than to let the length of one's mind be set by the language other human beings have left behind.

Richard Rorty - Contingency, Irony, and Solidarity




Spur

Evidenz















Ein Künstler, der nicht imitiert, sondern schafft - bringt sich selbst zum Ausdruck; seine Werke sind keine Spiegelbilder der Natur, sondern neue Tatsächlichkeiten, die nicht weniger bedeutend sind als die Tatsächlichkeiten der Natur selbst.

Kasimir Malewitsch - Die gegenstandslose Welt




"Wie ich die Metaphilosophie sehe." Ein Versuch mit Friedrich Waismann

"Alles hat sich verändert, weil wir es verändert haben, die äußere Geographie hat sich genauso verändert wie die innere."

Thomas Bernhard - Meine Preise


1. Hinführung

Der letzte Essay Friedrich Waismanns der zu seinen Lebzeiten publiziert wird, 1965, ist eine Rückschau auf das Leben eines Philosophen. Er trägt den Titel "Wie ich die Philosophie sehe" und es tauchen darin zwei überraschende Ideen auf. Erstens endet dieser philosophische Text mit folgenden Worten: "Philosophie ist da, um gelebt zu werden. Was in Worte gefasst wird, stirbt, was in Werke gefasst wird, lebt." (Waismann 2008, 214) Zweitens vertritt er in diesem Text die Ansicht, dass noch kein Philosoph je etwas bewiesen habe. Denn immer, wenn jemand anhebt, etwas logisch stringent zu beweisen, werden Prämissen vorausgesetzt, die ihrerseits bezweifelt werden können. Die Philosophie lebt von dieser unaufhebbaren Spannung, zwischen Aussagen mit Wahrheitsanspruch und ihrer Anzweiflung. Wenn man sich die Geschichte der Philosophie ansieht, erlebt man mit, dass jeder Wahrheitsanspruch, der formuliert wurde, auch stichhaltig angezweifelt worden ist.

Doch versucht Waismann nicht ebenso, diese Ansicht mit Argumenten zu belegen - macht nicht auch er Wahrheitsansprüche geltend? Wenn ja, ist er damit nicht wieder mitten im Spiel des Gebens und Bezweifelns von Wahrheitsansprüchen? Ist eine Metaposition zu diesem Spiel unmöglich? Die Fragen, die am Beginn des Folgenden Textes standen lauten: Wie kann Waismann in einem philosophischen Text - in einem "in-Worte-fassen", bei dem ja stirbt, worum es geht - sagen, dass man Philosophie leben muss? Kann und möchte er als Prämisse benutzen, dass man keine Prämissen haben soll? Möchte er philosophisch beweisen, dass man in der Philosophie nichts beweisen kann? Und möchte er dies auch noch durch einen "toten Text" versuchen?

Die Antwort auf diese Fragen lautet meiner Ansicht nach: Waismann folgt Wittgenstein und Schlick in der Ansicht, dass die Philosophie kein Theoriegebäude sein soll; aber er modifiziert die Idee der "Philosophie als Tätigkeit" erheblich. Waismanns Ansicht nach, so werde ich plausibel machen, ist das Ziel der Philosophie die Ausbildung und Ausweitung des eigenen Selbst, nicht das Streben nach Klarheit oder Wahrheit. Um diese These plausibel erscheinen zu lassen wird im zweiten Abschnitt dargestellt, was Waismann in seinem Essay Wille und Motiv zum menschlichen Selbst zu sagen hat. Im dritten Abschnitt wird eine literarische Position ins Spiel gebracht. In einem weiteren Schritt wird dies dann mit seinen metaphilosophischen Überlegungen aus "Wie ich die Philosophie sehe" verbunden. Zum Abschluss soll dieser Verbindung von Waismanns Darstellungen ein neuer Aspekt abgerungen werden.

2. Innere Geographie

Im Lauf seiner Untersuchung des Begriffs des "Willens" in Wille und Motiv, die Waismann in den 1940er Jahren verfasst, stößt er in verschiedenen Varianten auf die enge Verbindung, die der "Wille" zum "Ich" hat. Eine Frage, die Waismann diskutiert ist, ob man mit seinem Willen den eigenen Willen bestimmen kann. Wenn ja, dann kann man mit dem Willen den eigenen Charakter bestimmen, weil man sich entscheiden kann, bestimmte Dinge zu wollen und andere nicht. Die Antwort fällt mehr oder weniger negativ aus, aber die Diskussion führt Waismann zu der folgenden Frage: Inwieweit ist das eigene Ich von außen bestimmt und inwieweit ist es das eigene Werk?

Anders gefragt: Ist ein "Ich" eher als eine feste, cartesische Einheit zu verstehen, eine res cogitans, auf die von außen die Umweltreize quasi niederregnen, aber auf der Oberfläche abperlen, oder verändern die Einflüsse der Welt das Ich fortwährend auf grundlegende Weise? Waismann führt drei Gründe an, die in Richtung der zweiten der eben gegebenen Möglichkeiten weisen. Er beschreibt Phänomene, die sich dem Menschen quasi aufdrängen, in ihn hineinragen und damit mehr als nur oberflächlich verändern. Das erste Beispiel nennt er das "Schirmbeispiel".

(Regenschirm) Unter Hypnose wird einer Person der Befehl gegeben, sie solle einen Regenschirm in einem geschlossenen Raum aufspannen, sobald ein bestimmtes Wort gesagt wird. Die Person weiß nichts von der Hypnose, sitzt nichts ahnend bei einer Tasse Kaffee; der Hypnotiseur betritt den Raum und sagt das Wort, vielleicht "Ist der Kaffee noch heiß?" Die hypnotisierte Person steht daraufhin auf und öffnet den Regenschirm, der auf der Couch liegt.

Die Person, die nun mit offenem Regenschirm im Raum steht, kann den richtigen Grund der Tat nicht angeben, wird aber nichtsdestoweniger etwas sagen, etwas wie "Ich wollte sehen, ob der Schirm ein Loch hat" oder ähnliches. Dieser Grund ist offensichtlich nicht der den wir nennen würden da wir die ganze Situation kennen. Aber der hypnotisierten Person fällt nicht auf, dass irgendetwas mit der Begründung nicht stimmt - woher auch? Aber das zeigt: die Angabe, dass eine Handlung dem eigenen Willen entspringt, kann sehr leicht eine Rationalisierung einer Handlung im Nachhinein sein, deren Ursprung man nicht genau angeben kann. In (Regenschirm) ist es zwar der Körper der Person, die die Handlung ausführt, aber der Wille stammt letztlich von woanders her. Es drängt sich hier gewissermaßen ein fremder Wille in den eigenen Willen.

Das zweite Beispiel ist diesem ersten ähnlich. Wenn ein fremder Wille derart in den eigenen ragen kann, kann man auch nicht ausschließen, dass dies in der Vergangenheit bereits passiert ist. Und eine Art, wie dies jedem Menschen passiert, ist unter anderem die Erziehung und das was Wittgenstein die "Abrichtung zur Sprache" genannt hat. Erziehung bedeutet gerade das der Wille so verändert wird, dass man die gelernten Benimmregeln derart verinnerlicht, dass man das Gefühl hat, sie kämen aus einem selber, sie entsprächen dem eigenen Willen (die Kulmnation dieser Idee ist Kants praktische Philosophie).

Das dritte Beispiel stammt aus einem anderen Text, der Wille und Motiv aber inhaltlich wie zeitlich nahe verwandt ist - es handelt sich um den 1953 veröffentlichten Essay "A Philosopher Looks at Kafka". In diesem Text findet sich die folgende Passage mit Bezug zu dem Gericht, das über K. im Prozess richtet oder dem Schloss, dass der Landvermesser zu erreichen versucht:

Conscious motives may exist, but even so they are unimportant; what decides the issues of life is something quite different and far stronger - it is everything which is symbolized by the Court or the Castle. These forces elude our efforts to describe them; all we can hope for is, here and there, to catch a glimpse of them. (Waismann 1953, 187)

Was durch das Gericht oder das Schloss in Kafkas Schriften ausgedrückt wird, ist für Waismann das Unterbewusste. Aus diesen dunklen Tiefen steigt etwas empor wie ein fremder Wille, der sich in den eigenen, bewussten Willen hineindrängt. Gegen diesen Einbruch des Fremden ins Eigene kann man sich nicht wehren, ja meistens kann man es nicht einmal erkennen. Alles, was der Mensch bei solchen Gelegenheiten tun kann, ist, wie im Beispiel mit dem Regenschirm, im Nachhinein die Handlungen zu rationalisieren, sie in das eigene Ich zu integrieren.

Zusammengefasst möchte Waismann also sagen, dass "unsere" Willensentscheidungen immer auch von woanders her stammen können. Man kann zwar fast immer ein Motiv für sie angeben, aber man kann sich nie sicher sein, ob dieses Motiv eine Rationalisierung im Nachhinein ist, ob die ursprüngliche Regung nicht von außen über einen kam. Introspektion ist kein untrügliches Zeichen dafür, dass eine Handlung von einem selbst gewollt ist. Werden damit nicht die Begriffe "Wille" und "Ich" hinfällig, wenn sie derart unscharf sind?

Waismann verneint. Denn es gibt auch für ihn eine Art, sich dem Ich zu nähern und das ist über den narrativen Kontext. Man muss sich die ganze Geschichte eines Menschen ansehen, schreibt er:

Was entscheidet ist eher die Beobachtung, daß die Handlung nicht recht zu dem paßt, was ich sonst tue, daß sie sich nicht gut in die Art meines übrigen Verhaltens einfügt, daß sie irgendwie "herausfällt", daß sie etwa Züge aufweist, die nicht genügend motiviert sind und einer kritischen Prüfung nicht standhalten [...] Kurzum, was entscheidet, sind Gründe, die weit über das hinausgehen, was ich unmittelbar erlebe in dem Augenblick, da ich jene Handlung ausführte oder was ich kurz nachher erinnere. (Waismann 1983, 70f)

Der größere narrative Kontext muss hier beachtet werden, die Geschichte die ich über mich erzähle. Sie ist das sicherste Zeichen dafür, dass ich es bin, der handelt. Diese Geschichte ist auch für mich selbst die einzige Art, meinen Willen von den sich hereindrängenden Faktoren zu unterscheiden. Einzelne introspektive Episoden sind als solche Zusammenhanglos und können auch immer aus einer anderen Quelle stammen. So gesehen ist das eigene Ich besser als ein Narrativ zu interpretieren, den man über längere Zeit so stringent als möglich ausformuliert.

Natürlich ermöglicht dies keine scharfe Trennung von "Ich" und "Nicht-Ich". Man kann nicht immer - vielleicht nicht einmal oft - erkennen, ob eine Handlung tatsächlich dem eigenen Willen entspringt oder ob sie von woandersher stammt. Waismann ist daher der Ansicht, dass der Begriff des "Willens" wie auch der des "Ichs" unscharfe Begriffe sind. Sie sind, wie er sich ausdrückt, wie eine Wolke von Möglichkeiten, eine Wolke von Bestrebungen, Regungen, Bereitschaften und Dispositionen (vgl. Waismann 1983, 74). "Wolke" wie "Ich" sind unscharf und beide sind nicht fest, sondern sehr beweglich und können ihre Form leicht ändern. Deswegen, so Waismann, spürt man bei wichtigen Entscheidungen, bei solchen, die einen großen Einfluss auf das eigene Leben haben, eine sonderbare Unbestimmtheit. Denn man spürt dann tatsächlich den Horizont verschiedener Möglichkeiten und man spürt auch, dass das eigene Wesen an dieser Stelle noch nicht fest geworden ist: "In dem Augenblick vor der Entscheidung bin ich sozusagen noch unfertig, etwas in meinem Wesen ist noch offen und formt sich erst in der Entscheidung." (Waismann 1983, 75, hervorhebung im Original) Bei solchen Willensakten und den daraus resultierenden Handlungen wird gleichsam etwas von uns fest, das "Ich" ist um eine Facette reicher geworden.

Für Waismann sind Handlungen der Ort, wo "das Ich in die Außenwelt übergeht". Und weiter: "Wenn man eine Handlung nur von außen betrachtet, etwa auf ihren sozialen Wert hin, so sieht man sie nie als das, was sie dem Handelnden selbst bedeutet - als ein Stück seines Schicksals." (Waismann 1983, 75) Natürlich gilt das von alltäglichen Handlungen nur im geringeren Maße. Wenn ich jeden Morgen einen Kaffee trinke, dann bildet diese Handlung nicht jeden Morgen eine neue Facette meines Selbst. Jedoch lässt sich über solche Handlungen mit der Zeit auch das Ich bestimmen: Wenn ich morgens plötzlich sage, ich mag keinen Kaffee und eigentlich widerstrebt er mir seit jeher, dann kollidiert diese Aussage mit meiner Geschichte - vielleicht hat sich hier etwas anderes in meinen Willen gedrängt? Es gibt dem gegenüber auch das, was Waismann die "persönlichkeitsgeladenen Handlungen" nennt (vgl. Waismann 1985, 76). Diese sind wichtige Entscheidungen, die das weitere Leben massiv beeinflussen, wie beispielsweise eine Emigration nach Oxford, die Waismann selber hinter sich hatte. In solchen ich-bildenden Handlungen ist das Fest-werden des Ichs besser ersichtlich, aber auch im kleineren Rahmen geben Handlungen neue Möglichkeiten, die eigene Geschichte zu erweitern.

Ich möchte im Folgenden ein anderes Bild verwenden, um eine andere Dimension von Waismanns Ausführung zu betonen. Man stelle sich vor: Das Ich als Planken, die über ein Sumpfgebiet gelegt werden. Willensentscheidungen sind dann das legen neuer Planken, also Handlungen. Mit diesem Bild kann man alle drei oben erwähnten Unschärfen erfassen: Gegen einen Fremden Willen, weil man manche Planken vielleicht nicht aus eigenem Antrieb legt, gegen die Vergangenheit, denn ich habe nie alle Planken im Blick und gegen das Unterbewusste, den Sumpf selber. Was jedoch in diesem Bild besser erfasst werden kann, ist die Ausdehnung und Formung des Ichs, das sich über den Sumpf legt. Je mehr Planken gelegt wurden, desto mehr Wege kann man beschreiten, desto mehr Dinge kann man über sich selbst sagen.

Wie erwähnt, lassen für Waismann Handlungen das Ich in die Außenwelt treten. Nun möchte ich mich mit einer bestimmten Art von Handlungen beschäftigen, die Waismann nicht explizit behandelt, die jedoch in seinem Spätwerk eine zentrale Rolle spielen: die des Schreibens von philosophischen und literarischen Texten. Die Produktion solcher Texte ist eine Handlung, eine Art, wie man neue Planken über den Sumpf legen kann, eine Art, sein Ich zu erweitern. Daher stammt meiner Ansicht nach die wichtige Rolle, die Waismann in seiner Spätphase der Literatur gibt. Im nächsten Abschnitt werde ich versuchen, diesen Zusammenhang von Ich und Literatur mit literarischen Mitteln zu beleuchten. Danach werde ich Waismanns Ansichten über das Ich mit seinen Ansichten über die Philosophie zu verknüpfen versuchen.

3. Sich selber lesen

Eine Eigenheit der Philosophie des späten Waismann ist seine enge Bindung an die Literatur. Wiederholt werden Argumente mit literarischen Quellen unterlegt, oftmals mit Proust, Dostojewski oder auch Kafka (vgl. Waismann 1983, 125ff). Waismann scheint also der Ansicht gewesen zu sein, dass die Literatur etwas Hilfreiches zur Erhellung von philosophischen Problemen beitragen kann. Meine These lautet, dass dies keine Marotte oder zufällige Nebensächlichkeit seiner Philosophie ist, sondern aus seinem Konzept des menschlichen Selbst folgt.

Ich möchte in diesem Abschnitt daher einige Aspekte, die im letzten Abschnitt philosophisch beleuchtet wurden, nun aus Sicht eines Literaten beleuchten - genauer gesagt aus der Sicht von Max Frisch. Dass die Wahl auf Frisch fiel hat inhaltliche Gründe, denn es geht in Frischs gesamten Werk um die Identitätskonstruktion und darum, wie andere Menschen eine zentrale Rolle in diesem Vorgang spielen.

Beginnen wir mit einem zentralen Satz aus Mein Name sei Gantenbein: "Ein Mann hat eine Erfahrung gemacht, jetzt sucht er die Geschichte dazu - man kann nicht leben mit einer Erfahrung, die ohne Geschichte bleibt, scheint es, und manchmal stelle ich mir vor, ein andrer habe genau die Geschichte meiner Erfahrung..." (Frisch 1998, 11) Man macht in seinem Leben Erfahrungen, denen man irgendwie sprachlich Ausdruck verleihen möchte, mit denen man umgehen können möchte, an die man sich erinnern möchte. Wenn man Frisch folgt, muss man das geradezu, denn man kann nicht mit geschichtslosen Erfahrungen leben. Anders gesagt, man kann nicht ohne einen Kontext für gemachte Erfahrungen leben, nicht ohne eine Rationalisierung der eigenen Taten. Man kann nicht ohne ein Ich leben. Ein Instrument zur "Ich-Werdung", das Frisch auch als literarisches Stilmittel einsetzt, ist das Format der Tagebücher. Frisch schreibt über den Sinn eines Tagebuchs:

Indem man es nicht verschweigt, sondern aufschreibt, bekennt man sich zu einem Denken, das bestenfalls für den Augenblick und für den Standort stimmt, da es sich erzeugt. [...] Man hält die Feder hin, wie eine Nadel in der Erdbebenwarte, und eigentlich sind nicht wir es, die schreiben; sondern wir werden geschrieben. Schreiben heißt: sich selber lesen. [...] Wir können nur, indem wir den Zickzack unsrer jeweiligen Gedanken bezeugen und sichtbar machen, unser Wesen kennenlernen, seine Wirrnis oder seine heimliche Einheit, sein Unentrinnbares, seine Wahrheit, die wir unmittelbar nicht aussagen können, nicht von einem einzelnen Augenblick aus -. (Frisch 1985, 19)

Diese Passage erinnert an Waismanns These, dass man eine Handlung am sichersten einem Willen zuschreiben kann, wenn man sich den größeren Kontext, die Geschichte des Handelnden ansieht und dass einem das eigene Selbst auch nur durch solche Geschichten zugänglich ist.

Doch die Geschichten, die wir über uns erzählen, sind keine willkürliche Erfindung, sondern entstehen in der Interaktion mit der Umwelt und vor allem mit anderen Menschen: "In gewissem Grad sind wir wirklich das Wesen, das die anderen in uns hineinsehen, Freunde wie Feinde. Und umgekehrt! auch wir sind die Verfasser der andern; wir sind auf eine heimliche und unentrinnbare Weise verantwortlich für das Gesicht, das sie uns zeigen, verantwortlich nicht für ihre Anlagen, aber für die Ausschöpfung dieser Anlagen." (Frisch 1985, 29)

Ein großer Topos von Frischs Schriften ist genau die Frage, wie dieser Prozess von gegenseitiger Erschaffung funktioniert. So erzählt der Roman Mein Name sei Gantenbein unter anderem, wie Gantenbein die Rolle eines Blinden spielt, obwohl er sehen kann. Und dies gelingt nur, weil die anderen mitspielen. Natürlich, Gantenbein beginnt diese Geschichte über sich selbst, aber andere glauben sie, erzählen sie weiter, formen sie um, fügen Neues hinzu. In der Terminologie Waismanns könnte man also sagen: Die Umwelt und die Vergangenheit ragen hier in das Selbst hinein. Die anderen Menschen glauben diese Rolle derart fest, dass Gantenbein sogar kapitale Fehler begehen kann, ohne, dass er als Schwindler auffliegt. Seine Geschichte beeinflusst seine Umwelt so stark, dass es ihnen undenkbar scheint, dass er gar nicht blind sein könnte.

So gesehen kann man nur etwas über einen Menschen sagen, ihn kennenlernen, wenn man die Geschichten kennt, die er über sich erzählt. Auch einer von Frischs letzten Romanen, Der Mensch erscheint im Holozän, befasst sich mit solchen Geschichten. Frisch stellt dar, wie der Protagonist Herr Geiser spürt, dass er alt wird und mit solchen Geschichten ringt. Er schneidet Texte aus Büchern aus oder schreibt sie ab, um diese Zettel dann an der Wand seines Hauses zu befestigen. Diese Zettel enthalten Fakten, die Herr Geiser nicht vergessen möchte, die meisten beschäftigen sich mit Ereignissen, die in der fernen Vergangenheit geschehen sind. So drehen sich viele Fakten um Erdzeitalter, die Dinosaurier oder die Gebirgsbildung - alles Vorgänge, in denen kein ersichtlicher "Alterungsprozess" vorkommt.

Man könnte sagen, Herr Geiser sammelt Teile für eine neue Geschichte und verliert immer mehr den Bezug zu anderen, früher erzählten Geschichten. Für die anderen Menschen stellt sich dieser Vorgang als Alterungsprozess dar: Herr Geiser verändert sich, er wird wunderlich. Sein Ich wird quasi in seinen Entscheidungen und Textschnipsel in eine neue Richtung hin fest. Doch am Höhepunkt des Romans erkennt Herr Geiser die Unzulänglichkeit seiner neuen Geschichte: "Was heißt Holozän! Die Natur braucht keine Namen. Das weiß Herr Geiser. Die Gesteine brauchen sein Gedächtnis nicht." (Frisch 2001, 139) Die Natur mag ohne Namen und Gedächtnis auskommen, aber wir Menschen brauchen beides für unsere Erfahrungen, um damit Geschichten über uns zu erzählen, die unsere Erlebnisse und Erfahrungen umschreibend ausdrücken sollen.

Dies soll eine mögliche Skizze darstellen, wie man Waismanns Thesen über die Unschärfen des menschlichen Selbst literarisch deuten kann. Das Ich eines Menschen verschwimmt nach außen gegen die Umwelt, besonders gegen die anderen Menschen und gegen die Vergangenheit und Zukunft und ebenso nach innen gegen das Unterbewusste. Vielleicht könnte man auch sagen: Das Ich kann als Zentrum des Sagbaren gesehen werden und das Sagbare verschwimmt gegen das Unsagbare hin. Daher hilft einem die Introspektion nicht, um zu unumstößlichen, letzten Gewissheiten zu gelangen. Man kann sich nicht auf Eindrücke "von einem einzelnen Augenblick aus" verlassen, sondern muss den größeren, den unschärferen Kontext betrachten. Dies führt zwar sicherlich nicht zu absoluten Gewissheiten, aber in den meisten Fällen kommt man derart zu einer ziemlich verlässlichen Geschichte, die man dann das eigene Ich nennt.

Für einige Menschen - zumeist für Literaten - ist Schreiben eine Möglichkeit, die eigenen, innersten Erlebnisse und Erfahrungen anzudeuten. Aber kann Schreiben auch für "Nicht-Literaten" eine positive Funktion haben? Eine mögliche Antwort finden wir bei Frisch: "Warum reisen wir? Auch dies, damit wir Menschen begegnen, die nicht meinen, daß sie uns kennen ein für allemal; damit wir noch einmal erfahren, was uns in diesem Leben möglich sei -" (Frisch 1985, 27)

Ich möchte meinen, dass man hier "reisen" auch als "literarische Entdeckungsreise" lesen kann. Literatur zeigt uns, welch eine Vielzahl an Möglichkeiten wir haben, was für Geschichten man noch erzählen könnte und wem man sie erzählen könnte. Frisch ist der Ansicht, dass die Literatur eine Utopie beschreibt, dass das Menschsein auch anders sein, etwas ganz anderes bedeuten könnte (vgl. Frisch 2008, 68f). Wie sieht solch eine "Utopie des Menschseins" aus? Wie wird dieses Menschsein neu beschrieben? Die Literatin stellt der herrschenden Sprache, der gewohnten, alltäglichen Sprache, eine eigene Sprache entgegen, welche die Erfahrungen neu und anders zusammenstellt und dadurch zeigt, was alles sonst noch für Geschichten möglich wären. Die Literatur gibt dem einzelnen Menschen - dem Menschen als Individuum, als "Ich" - neue Worte, um sich selbst neu zu beschreiben und damit neu zu entwerfen. So gesehen hilft uns die Literatur neue Planken über den unbekannten Sumpf zu legen.

4. Äußere Geographie

In "Wie ich die Philosophie sehe" unternimmt Waismann einen weiteren Versuch sich darüber Rechenschaft zu geben, was denn eigentlich die Philosophie ausmacht. Er stellt gleich zu Beginn klar, dass er es auch jetzt, am Ende seines Lebens, nicht wisse und dass er nicht glaubt, dass man eine Definition geben können wird. Waismann selbst war früher derselben Ansicht wie seine Lehrer Schlick und Wittgenstein: die Philosophie als Tätigkeit soll Sätze durch logische Analyse klären. Doch das reicht Waismann nun, am Ende seiner Laufbahn, nicht mehr aus. Logische Analyse ist zwar nach wie vor ein wichtiger Teil der Philosophie, aber nicht das, was Philosophie ausmacht. Was man sich abschminken solle, ist die Idee, bestimmte unliebsame Fragen als Scheinfragen entlarven zu können. Fragen seien keine Hindernisse, sondern vielmehr Wegweiser, die die Gedanken in neue Bahnen lenken können. Was unsere Gedanken allerdings nicht in neue Richtungen treibt ist das Streben nach Klarheit. Man entdeckt nichts Neues mit dem Slogan "Alles was sich sagen lässt, lässt sich klar sagen"

Ich will sagen: Sprache ist formbar, fügbar dem Ausdruckswillen, sogar um den Preis der Unklarheit. [...] Hätten die Logiker freie Bahn, so würde die Sprache so klar und transparent wie Glas werden, aber auch so zerbrechlich wie Glas: Welchen Vorteil hätte es, eine Glasaxt zu machen, die im Augenblick des Gebrauchs zerbricht? (Waismann 2008, 194)

Es geht Waismann um den Gebrauch der Sprache, sie hat einen Nutzen und sie ist viel zu vielschichtig und zu komplex, als dass man sie mittels einer einzigen Methode ordnen könnte. Sie ist etwas Formbares, etwas niemals Abgeschlossenes. Diese Formbarkeit bedeutet, dass man, wenn man sich nur lange genug Mühe gibt, aus jeder Aussage eine sinnvolle Aussage machen kann. Aus dieser Beweglichkeit, mit der sich die Philosophie beschäftigt, ergibt sich für Waismann auch die eingangs erwähnte These, dass philosophische Argumente nichts beweisen können. Waismann schreibt, dass in naturwissenschaftlichen oder mathematischen Theoriegebäuden Argumente eine klare, deduktive Macht haben. In der Philosophie ist dies jedoch nicht der Fall, denn es herrscht keine Klarheit über die Prämissen. Man kann Frege nicht beweisen, dass Hilberts Axiomatische Methode richtig ist oder umgekehrt kann man Hilbert auch nicht beweisen, dass Freges Position die einzig haltbare ist. Denn wenn man sie mit solch einem versuchten Beweis konfrontiert, werden sie erklären, dass der Schluss defizitär ist, weil man von falschen Prämissen ausgegangen ist.

Dies ist genau der oben angesprochenen Beweglichkeit der Sprache geschuldet. Durch die "Fügbarkeit der Sprache" herrscht in der Philosophie einfach nicht diese Einhelligkeit über die Prämissen wie in den Naturwissenschaften. Philosophische Argumente sind daher nicht wegen ihrer logischen Form wirksam, sondern, so streicht Waismann heraus, weil sie dazu führen, die Dinge in einem neuen Licht zu sehen. Die Philosophie ist so gesehen ein kreatives Unternehmen, dass es ermöglichen soll, neue Aspekte an schon bekannten Gegenständen zu sehen. Dieses "Sehen neuer Aspekte" - ein Schlüsselbegriff für Waismanns späteres Philosophieverständnis - erreicht man nur in einer andauernden Diskussion, aber nicht durch einen "logisch zwingenden" Schluss. Man müsste also in unserem Beispiel Frege zu einer Veränderung seiner ganzen Denkweise anregen, das heißt dazu, das ganze Gebiet der Logik neu zu sehen. Letztlich denke ich, dass auch Waismann in genau dieser Weise versucht hat, uns einen neuen Aspekt an der Philosophie sichtbar zu machen.

5. Ein neuer Aspekt

In "Wie ich die Philosophie sehe" stellt Waismann zwei Fragen, auf die er keine expliziten Antworten gibt: wieso ist die Sprache derart formbar und widersetzt sich jeder Klarheit? Und wieso verändern sich menschliche Denkweisen derart, dass neue Aspekte gesehen werden können? Mein Vorschlag: "Sprache" und "Ich" hängen sehr eng zusammen, da die Geschichte, die man sein "Ich" nennt, ohne Sprache nicht denkbar wäre, ebenso wenig wie eine Sprache ohne Menschen. Die philosophische Perspektive spiegelt in ihrer Offenheit und Unabschließbarkeit das menschliche Selbst wider. Wenn Waismann also über die Unabgeschlossenheit des menschlichen Ich spricht, spricht er auch über die Aufgaben und die Grenzen der Philosophie. Um diese Idee zu plausibilisieren, möchte ich vier Ideen anführen:

(1) Sprache wie auch das menschliche Ich sind laut Waismann auf gleiche Weise veränderbar, vage und unabgeschlossen. Dies sind für Waismann zentrale Topoi bei beiden Begriffen, die er wiederholt betont.

(2) Argumente sind in der Philosophie eine Rationalisierung im Nachhinein für einen neuen Aspekt, den man gesehen hat, ähnlich wie die Angabe von Motiven bei Handlungen. Dazu ist folgende Passage sehr aufschlussreich:

Obwohl es einem Außenstehenden so erscheinen mag, als würde [der Philosoph] alle möglichen Argumente hervorbringen, ist dies nicht der entscheidende Punkt. Entscheidend ist, dass er die Dinge von einem neuen Blickwinkel aus gesehen hat. [...] Argumente werden nur nachträglich zur Unterstützung dessen, was er gesehen hat, bemüht. (Waismann 2008, 207)

Dies erinnert stark an die Rationalisierung der des Motives in (Regenschirm), an die Rechtfertigung der eigenen Handlungen im Nachhinein. So wie eine Person für manche Handlungen erst im Nachhinein rationalisierende Rechtfertigungen gibt, so sind auch philosophische Argumente eine rationalisierende Rechtfertigung im Nachhinein, für den neuen Aspekt, den man gesehen hat.

(3) Der Titel des Textes - "Wie ich die Philosophie sehe" - gibt einen weiteren Hinweis. Die traditionelle Fragestellung in logisch-positivistischer Manier hätte gelautet: "Was ist Philosophie?". Bei Waismann aber ist die Antwort auf die Frage nach der Philosophie explizit mit dem "ich" verbunden, die Antwort ist also keine allgemeingültige, sondern seine Antwort. Außerdem gibt das "sehen" im Titel auch den Hinweis, dass es Waismann darum ging, einen neuen Aspekt, den er an der Philosophie gesehen hatte, mitzuteilen.

(4) Die Möglichkeit, neue Aspekte zu sehen ergibt sich dadurch, dass das Ich an neuen Stellen fest wird, dass sozusagen neue Planken über den Sumpf gelegt werden, von denen aus man das Gebiet aus einer neuen Perspektive sieht.

Daraus ergibt sich: die Philosophie gibt die Offenheit (aber auch die Vagheit) des menschlichen Selbst wieder. Daher hängen "Philosophie" und "Selbstausbildung" aufs Engste zusammen. Das Ziel der Philosophie ist dann nicht primär die Suche nach Wahrheit oder Klarheit. Wie oben erwähnt, ermöglicht nur eine fortwährende Diskussion, dass andere Menschen neue Aspekte an Gewohntem sehen können. Eine wichtige Art solch eine Diskussion zu führen, ist, philosophische Texte zu schreiben. Deswegen können diese Texte keine logisch stringenten Beweise enthalten oder ein Theoriegebäude aufbauen. Deswegen haben philosophische Texte nicht dieselbe Aufgabe wie beispielsweise Texte in der Naturwissenschaft oder der Theologie. Und deswegen funktionieren Argumente in verschiedene Textgattungen ganz anders.

An dieser Stelle ist es nun möglich, die Eingangsfragen explizit zu beantworten. Die eine lautete: Benutzt Waismann als Prämisse, dass man in der Philosophie keine Prämissen haben soll? Nein, denn die Philosophie ist für ihn nicht das Aufstellen eines Theoriegebäudes. Nur dort geht man von Prämissen mit Argumenten auf Konklusionen über. In der Philosophie geht es für Waismann um das Sehen neuer Aspekte und damit zugleich um - wie ich zu zeigen versucht habe - die unabschließbare, kreative Neubeschreibung des eigenen Selbst. Wenn man sagen möchte, dass Waismanns philosophisch beweisen wollte, dass man in der Philosophie nichts beweisen kann, dann tut man so, als wollte Waismanns Text eine logisch stringente Argumentation vorführen. Tatsächlich ging es ihm aber darum, einen neuen Aspekt begreiflich zu machen, den er gesehen hat und nicht darum etwas zu beweisen oder zu widerlegen. Und da er einen neuen Aspekt gesehen hat, ist alles, was hier nach Prämisse und Argument aussieht eine Rechtfertigung im Nachhinein.

Die andere Frage lautete: Wie kann Waismann in einem philosophischen Text - in einem in Worte fassen, bei dem ja stirbt, worum es geht - sagen, dass man Philosophie leben muss? Wie in Abschnitt 2 gezeigt, vertritt Waismann die Ansicht, dass das Ich in Handlungen fest wird und dass dem Handelnden seine Handlungen "ein Stück seines Schicksals" bedeuten (Waismann 1985, 75). Eine Art solcher Handlungen ist, wie sich in Abschnitt 4 gezeigt hat, das Schreiben von Texten, vor allem von philosophischen und literarischen Texten. Man kann hierfür einen Ausspruch, der Martin Luther zugeschrieben wird, tatsächlich wörtlich nehmen: "Hier stehe ich und kann nicht anders." Dies kann man dann folgendermaßen deuten: Hier, in diesem Text, ist eine Facette meines Ichs fest geworden.

Für uns Leser ist Waismanns Text einer unter vielen, der in einer Reihe steht mit anderen, doch für Waismann war dieser Text ein Teil seines Selbst. Das bedeutet, dass dieser Text für Waismann tatsächlich ein Teil seines Lebens war, ein Lebens-Werk und für ihn nicht nur "toter Buchstabe". Ihn zu schreiben war eine wichtige Handlung, sie war ein Teil seines Lebens. Für uns hingegen hat der Text nicht dieselbe existenzielle Notwendigkeit wie für Waismann. Wir können ihn nach dem Lesen unbeeindruckt in eine Reihe von Schriften und philosophischen Strömungen einordnen. Aber ich denke, wir sollten es nicht.















Es ist nichts zu loben, nichts zu verdammen, nichts anzuklagen, aber es ist vieles lächerlich; es ist alles lächerlich, wenn man an den Tod denkt.

Thomas Bernhard - Rede

Anmerkung zu Kafka

Es ist wohl bekannt, dass Der Prozess von Kafka mehrere Ebenen umfasst, die sich alle zugleich und gleichermaßen durch den Text ziehen aber jeweils andere Aspekte betonen. Welche Ebenen aber genau das sind ist nicht immer klar. Meine Vorschläge sind:

Die biographische Ebene. Kafka begann seine Arbeit an dem Text kurz nachdem er seine Verlobung mit Felice Bauer gelöst hatte. Man hatte sich dazu in Berlin, im Hotel “Askanischer Hof” getroffen – eine Zusammenkunft die Kafka mit einigen Themen aus dem Prozess belegte, wie dem, das aus heiterem Himmel ein Gericht über jemanden tagt und das Gefühl, einer Sache angeklagt zu sein ohne sich sicher zu sein, warum.

Die gesellschaftliche Ebene. Das Verhältnis des Individuums zur Gesellschaft, genauer gesagt, das Gefühl sich als Einzelner den Anderen, den Vielen ausgeliefert zu sehen. Man ist mit gesellschaftlichen Regeln und Vorgänge konfrontiert, deren Gründe und Auswirkungen man nicht kennt und nicht einmal in Prinzip kennen kann, da sich das Innenleben der anderen Menschen und die genauen Gründe für gesellschaftliche Regeln und Bräuche einem entziehen.

Die medizinische Ebene. Der Prozess der Erkrankung, eines Morgens wacht man auf und wird von ungebetenen Eindringlingen malträtiert – in diesem Fall Viren und Bakterien. Auf dieser Ebene geht es, um den Krankheitsverlauf der Lungentuberkulose und den Versuch des Patienten den Prozess aufzuhalten um als freier (das heißt gesunder) Mensch den Gerichtssaal zu verlassen. Doch, wie wir lernen gibt es keinen Freispruch, nur Aufschub.

Die unbewusste Ebene. In diesem Fall beschreibt das Gericht das Unterbewusste, das mit seinen Handlangern und undurchsichtigen Regeln über ein Ich hereinbricht. Man wird angeklagt, ohne zu wissen warum und von wem, und ohne zu wissen, wo genau sich dieses Gericht eigentlich befindet oder wie man es erreichen könnte, um sich dort zu verteidigen.

Im Angesicht dessen versucht K. einen Ausweg aus seiner Misere zu finden – durch Erotik, durch Technik, schließlich durch Kunst und Religion. Doch zumindest für K. gehen all diese Versuche fehl und am Ende der Geschichte endet auch sein Leben.

Ich finde einen Aspekt an diesen unterschiedlichen Ebenen interessant, nämlich welcher Art das „Gericht“ in den verschiedenen Deutungen ist. In der medizinischen Deutung ist es die Natur, die in ihrer vollkommenen Geistlosigkeit, mit der sich nicht verhandeln lässt, ein Menschenleben beendet. Auf der unbewussten Ebene ist man es selbst und in der gesellschaftlichen Ebene sind es die anderen Menschen und die Gesellschaft, die sie gebildet haben (die biographische Ebene scheint mir eine Variation dieses letzten Punktes zu sein, nur persönlicher).





Little fly, thy summer's play
My thoughtless hand has brushed away
Am I not a fly like thee?
Or art thou not a man like me?
For I dance and drink and sing
Till some blind hand shall brush my wing
If thought is life and strength and breath
And the want of thought is death

Cosmo Sheldrake - The Fly




Ist Nietzsches Idee des "Übermenschen" in der modernen Idee der "Cyborgs" manifestiert?


S: Die Idee in der Enhancement Debatte ist, dass man Technik nutzt, um nicht nur Krankheiten auszugleichen, sondern dass man einen normalgesunden Menschen nimmt und optimiert. Und hier wird behauptet, dass Nietzsche der Vorreiter dafür war, weil er dieses Bild gezeigt hat: wir müssen über den Menschen hinauswachsen und zum Übermenschen werden. Und wie es diese Leute verstehen ist der Übermensch ein reales Wesen, in das man sich transformieren kann, sie sehen es mehr so: wenn ich nur genügend Schritte befolge, vielleicht solche wie sie Zarathustra sie erwähnt um zum Übermenschen zu werden, dann sind diese Schritte wie eine Art Trainingsplan. Wenn man den Plan mit genügend Entschlossenheit befolgt und trainiert, dann zum Übermenschen zu werden.

Und solche Leute sehen die Technik als etwas Höheres oder Besseres im Vergleich zum Menschen. Aber sie überschätzen die Fähigkeiten und Möglichkeiten die Technik bieten kann. Sie loben also die Technik zu hoch und sagen der Übermensch ist eine dadurch optimierte, verbesserte, erweiterte Version des Menschen.

Aber was ich glaube, ist, dass bei Zarathustra der Übermensch kein Zustand ist, den man erreichen kann. Das sagt er auch selber, dass man es nicht so verstehen soll, dass das etwas ist, was man wird. Zarathustra nutzt das Bild „Übermensch“, um sich zu fokussieren in seiner Weiterentwicklung, banal gesagt. Der Übermenschen bei Zarathustra ist eher jemand, der sich in emotionale und gesellschaftliche Konflikte hineinbegeben hat. Er muss ja nicht unbedingt alles davon verarbeitet haben, aber was bei Zarathustra sehr prägnant ist, ist das „hineinwerfen“ in Situationen und sich dann wieder zurücknehmen. Dieses Spiel mit dem Wechsel zwischen Abstand zu gewinnen von einer Situation, einem Gefühl, Problem oder Konflikt und dem bewussten Hineingehen in alles das.

Der Übermenschen ist dann ein imaginäres Ziel, um einen Fokus zu haben, wo man hin will. Weil es, denke ich, eine Gefahr ist bei den Lehren die Zarathustra anbietet, dass man den Überblick verliert und sich denkt „Das hat ja alles keinen Sinn“. Ich denke die ganzen Lehren und Vorschläge Zarathustras ergeben wenig Sinn oder würden noch weniger angenommen werden, wenn man sagen müsste, die ganzen Anstrengungen und Mühen laufen auf nichts hinaus. Der Übermenschen ist vielleicht wie der „Himmel“ im Glauben, nur nicht religiös aufgeladen sondern mehr fokussiert auf Lebenserfahrungen.

Der Witz ist ja, dass wenn ich beginnen würde, mich selbst durch Hilfsmittel zu optimieren ich ja genau das mache, was der „letzte Mensch“ macht, er weicht sozusagen dem Konflikt in sich selber aus, optimiert sich vielleicht mit einer neuen Hand und kann dann mehr Dinge tun aber er beschäftigt sich nicht mehr damit was es heißt, Mensch zu sein. Und das ist für mich der zentrale Punkt des Übermenschen beziehungsweise von Zarathustra, dass man sich mit sich und seiner Menschlichkeit beschäftigen soll. Wenn man das versucht zu tun, dann kann man zum Übermenschen werden, aber das ist nichts, was im Menschen ist. Denn der Übermenschen hat ja nichts mehr mit Menschen zu tun, aber beim Optimierungsgedanken bleibt der „Mensch“ erhalten und auch die Technik ist ja so gesehen „menschlich“ weil sie von der Menschheit erschaffen wurde und damit die Menschlichkeit irgendwo mit drinnen ist.

A: Wenn jemand meint, Nietzsches Übermensch wäre eine Blaupause für die Möglichkeiten, die uns die technische Verbesserung des Menschen bietet, dann würde ich sagen, dass hier nicht das Beste aus Nietzsches Idee herausgeholt worden ist. In kurz: wenn Nietzsche vom Übermenschen gesprochen hat, dann sollten wir nicht sagen, er hätte er damit Cyborgs gemeint.

Die Idee wäre wohl: Menschen verfügen über körperliche Defizite, sie haben weniger Sinne als möglich, weniger Ausdauer, Stärke, Geschwindigkeit und so weiter. Die technischen Hilfsmittel, die in den menschlichen Körper eingebaut werden, sollen hier Abhilfe schaffen. (Anmerkung: ich sage absichtlich nicht „Technik“, denn der Begriff ist für mich nebulös. Was ist die Extension von Technik? Alles mit Bolzen und Schrauben drin? Alles mit Elektronik? Zahnräder? Irgendwie alles und doch zugleich nicht, scheint mir. „Technik“ ist, denke ich, ein weiteres Beispiel wie eine stark verallgemeinernde Hypostasierung dem Denken und Sprechen vorgaukelt, es gäbe Klarheit, wo es doch keine gibt.) Der Übermensch ist dann also ein Mensch, der seine körperlichen Defizite durch technische Hilfsmittel überwunden hat.

Das kann man schon sagen, aber mir erscheint das wenig interessant. Dann wäre Nietzsche der Philosoph der Bodybuilder gewesen. Ja, es ist plausibel zu sagen, dass eine gewisse körperliche Stärke mit dem Übermenschentum einhergeht, aber sie ist jedenfalls nicht das Zentrum der Aufmerksamkeit.

Ich denke, das ganze wird interessanter, wenn man es so liest: der Übermensch zeichnet sich nicht durch körperliche Besonderheiten aus, nicht dadurch, dass sie weniger Schmerz spürt, stärker ist und schneller laufen kann. Viel mehr zeichnet sich der Übermensch dadurch aus, dass sie ihr Leben ohne metaphysische Hilfsmittel erträgt. Sie kann Sinn und Erfüllung in ihrem Leben finden, ohne Gott zu benötigen, der Interesse an ihrem Lebensentwurf hat. Sie kann sich in ihrem Leben orientieren, ohne die Wahrheit zu benötigen, die ihre eigenen Ansichten in der wirklichen Welt fundieren soll.

Der Übermensch erträgt den Gedanken, dass weder Gott noch Welt festlegen, was für ein Wesen sie ist. Sie erträgt es, dass sie sich selbst entwerfen muss und dabei keine Hilfe von außen bekommen wird. Der Übermensch ist mächtig genug, sich selbst zu erschaffen.

Und ich denke, es leuchtet ein, dass man das nicht dadurch erreichen kann, dass man die eigene Muskelkraft technisch verstärkt oder verhindert, dass man eine Brille benötigt, oder dergleichen. Der Übermensch ist kein Emblem der körperlichen Überlegenheit, sondern wir sollten ihn besser als ein Emblem der begrifflichen Wandelbarkeit verstehen. Und daher scheint es mir, dass sich das Übermenschentum nicht im Cyborg manifestiert.





S: Die Idee in der Enhancement Debatte ist, dass man Technik nutzt, um nicht nur Krankheiten auszugleichen, sondern dass man einen normalgesunden Menschen nimmt und optimiert. Und hier wird behauptet, dass Nietzsche der Vorreiter dafür war, weil er dieses Bild gezeigt hat: wir müssen über den Menschen hinauswachsen und zum Übermenschen werden. Und wie es diese Leute verstehen ist der Übermensch ein reales Wesen, in das man sich transformieren kann, sie sehen es mehr so: wenn ich nur genügend Schritte befolge, vielleicht solche wie sie Zarathustra sie erwähnt um zum Übermenschen zu werden, dann sind diese Schritte wie eine Art Trainingsplan. Wenn man den Plan mit genügend Entschlossenheit befolgt und trainiert, dann zum Übermenschen zu werden.

Und solche Leute sehen die Technik als etwas Höheres oder Besseres im Vergleich zum Menschen. Aber sie überschätzen die Fähigkeiten und Möglichkeiten die Technik bieten kann. Sie loben also die Technik zu hoch und sagen der Übermensch ist eine dadurch optimierte, verbesserte, erweiterte Version des Menschen.

Aber was ich glaube, ist, dass bei Zarathustra der Übermensch kein Zustand ist, den man erreichen kann. Das sagt er auch selber, dass man es nicht so verstehen soll, dass das etwas ist, was man wird. Zarathustra nutzt das Bild „Übermensch“, um sich zu fokussieren in seiner Weiterentwicklung, banal gesagt. Der Übermenschen bei Zarathustra ist eher jemand, der sich in emotionale und gesellschaftliche Konflikte hineinbegeben hat. Er muss ja nicht unbedingt alles davon verarbeitet haben, aber was bei Zarathustra sehr prägnant ist, ist das „hineinwerfen“ in Situationen und sich dann wieder zurücknehmen. Dieses Spiel mit dem Wechsel zwischen Abstand zu gewinnen von einer Situation, einem Gefühl, Problem oder Konflikt und dem bewussten Hineingehen in alles das.

Der Übermenschen ist dann ein imaginäres Ziel, um einen Fokus zu haben, wo man hin will. Weil es, denke ich, eine Gefahr ist bei den Lehren die Zarathustra anbietet, dass man den Überblick verliert und sich denkt „Das hat ja alles keinen Sinn“. Ich denke die ganzen Lehren und Vorschläge Zarathustras ergeben wenig Sinn oder würden noch weniger angenommen werden, wenn man sagen müsste, die ganzen Anstrengungen und Mühen laufen auf nichts hinaus. Der Übermenschen ist vielleicht wie der „Himmel“ im Glauben, nur nicht religiös aufgeladen sondern mehr fokussiert auf Lebenserfahrungen.

Der Witz ist ja, dass wenn ich beginnen würde, mich selbst durch Hilfsmittel zu optimieren ich ja genau das mache, was der „letzte Mensch“ macht, er weicht sozusagen dem Konflikt in sich selber aus, optimiert sich vielleicht mit einer neuen Hand und kann dann mehr Dinge tun aber er beschäftigt sich nicht mehr damit was es heißt, Mensch zu sein. Und das ist für mich der zentrale Punkt des Übermenschen beziehungsweise von Zarathustra, dass man sich mit sich und seiner Menschlichkeit beschäftigen soll. Wenn man das versucht zu tun, dann kann man zum Übermenschen werden, aber das ist nichts, was im Menschen ist. Denn der Übermenschen hat ja nichts mehr mit Menschen zu tun, aber beim Optimierungsgedanken bleibt der „Mensch“ erhalten und auch die Technik ist ja so gesehen „menschlich“ weil sie von der Menschheit erschaffen wurde und damit die Menschlichkeit irgendwo mit drinnen ist.

oder

A: Wenn jemand meint, Nietzsches Übermensch wäre eine Blaupause für die Möglichkeiten, die uns die technische Verbesserung des Menschen bietet, dann würde ich sagen, dass hier nicht das Beste aus Nietzsches Idee herausgeholt worden ist. In kurz: wenn Nietzsche vom Übermenschen gesprochen hat, dann sollten wir nicht sagen, er hätte er damit Cyborgs gemeint.

Die Idee wäre wohl: Menschen verfügen über körperliche Defizite, sie haben weniger Sinne als möglich, weniger Ausdauer, Stärke, Geschwindigkeit und so weiter. Die technischen Hilfsmittel, die in den menschlichen Körper eingebaut werden, sollen hier Abhilfe schaffen. (Anmerkung: ich sage absichtlich nicht „Technik“, denn der Begriff ist für mich nebulös. Was ist die Extension von Technik? Alles mit Bolzen und Schrauben drin? Alles mit Elektronik? Zahnräder? Irgendwie alles und doch zugleich nicht, scheint mir. „Technik“ ist, denke ich, ein weiteres Beispiel wie eine stark verallgemeinernde Hypostasierung dem Denken und Sprechen vorgaukelt, es gäbe Klarheit, wo es doch keine gibt.) Der Übermensch ist dann also ein Mensch, der seine körperlichen Defizite durch technische Hilfsmittel überwunden hat.

Das kann man schon sagen, aber mir erscheint das wenig interessant. Dann wäre Nietzsche der Philosoph der Bodybuilder gewesen. Ja, es ist plausibel zu sagen, dass eine gewisse körperliche Stärke mit dem Übermenschentum einhergeht, aber sie ist jedenfalls nicht das Zentrum der Aufmerksamkeit.

Ich denke, das ganze wird interessanter, wenn man es so liest: der Übermensch zeichnet sich nicht durch körperliche Besonderheiten aus, nicht dadurch, dass sie weniger Schmerz spürt, stärker ist und schneller laufen kann. Viel mehr zeichnet sich der Übermensch dadurch aus, dass sie ihr Leben ohne metaphysische Hilfsmittel erträgt. Sie kann Sinn und Erfüllung in ihrem Leben finden, ohne Gott zu benötigen, der Interesse an ihrem Lebensentwurf hat. Sie kann sich in ihrem Leben orientieren, ohne die Wahrheit zu benötigen, die ihre eigenen Ansichten in der wirklichen Welt fundieren soll.

Der Übermensch erträgt den Gedanken, dass weder Gott noch Welt festlegen, was für ein Wesen sie ist. Sie erträgt es, dass sie sich selbst entwerfen muss und dabei keine Hilfe von außen bekommen wird. Der Übermensch ist mächtig genug, sich selbst zu erschaffen.

Und ich denke, es leuchtet ein, dass man das nicht dadurch erreichen kann, dass man die eigene Muskelkraft technisch verstärkt oder verhindert, dass man eine Brille benötigt, oder dergleichen. Der Übermensch ist kein Emblem der körperlichen Überlegenheit, sondern wir sollten ihn besser als ein Emblem der begrifflichen Wandelbarkeit verstehen. Und daher scheint es mir, dass sich das Übermenschentum nicht im Cyborg manifestiert.


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Routinen des Vergessens

von Raphaela Edelbauer

22.10.2024

Ich war ja vor einiger Zeit schon vom literarischen Werk von Raphaela Edelbauer begeistert, und um so aufgeregter war ich, als ich ihre Poetikvorlesungen gefunden habe. Man wird ja immer dort am kritischsten, wo man am meisten übereinstimmt; wenn man im Prinzip derselben Meinung ist, dann beginnt man auf einmal um einzelne Formulierungen zu feilschen. Ich hatte die Befürchtung mir könnte eben dies passieren, als ich Routinen des Vergessens angefangen habe, war dann aber beruhigt, dass es doch genug Divergenz gibt (denn ich lerne immer mehr aus Texten, mit denen ich nicht übereinstimme). Nichtsdestoweniger - ich stimme der grundlegenden These zu, “dass Philosophie und Literatur ein und dasselbe Feld sind” (Edelbauer 2024, 6). Ich habe beim Weiterlesen dann aber gemerkt, dass ich diesen Satz ganz anders verstehe und ganz andere Dinge daraus folgere.

Um es gleich vorweg zu sagen: mir steht der Sinn nicht nach Kritik. Ich werde nicht sagen, dass Edelbauers Ideen falsch sind wenn sie von meinen abweichen, und ich werde dahingehend keine Argumente liefern. Aber ich werde meine persönlichen Gründe erklären, warum ich eine alternative Beschreibungsweise liefere, die das Bisherige nicht ersetzen sondern komplementieren soll.

Was Sprache tut

Wie funktioniert Sprache laut Edelbauer? Mir scheint das die angemessene Beschreibung: unsere üblichen (das heißt: nichtliterarische) Sprechsituationen funktionieren so, dass unsere Äußerungen durch die Welt wahr oder falsch gemacht werden (eine truthmaker theory also, vgl. Edelbauer 2024, 42). Mit unseren Sätzen versuchen wir, die Tatsachen zu repräsentieren. Ob uns das gelingt oder nicht, kann verifiziert werden (vgl. Edelbauer 2024, 43). Literarische Sprechsituationen funktionieren laut Edelbauer allerdings anders. Hier geht es nicht darum, wie Äußerungen mit Tatsachen zusammenhängen, sondern wie die Äußerungen untereinander zusammenhängen. Für literarisches Sprechen gilt ein Kohärentismus (vgl. Edelbauer 2024, 13). Die Literatur ist, wie die Logik, also keiner Wirklichkeit Rechenschaft schuldig, die sie nicht selbst hervorgebracht hat.

Nun, das ist im Prinzip das Bild der analytischen Sprachphilosophie der 1930er. Wie wir seither gemerkt haben, ergeben sich daraus aber allerhand Probleme. Das für uns wichtigste ist hier wohl, wie man mit diesem Bild der Sprache fiktionale Diskurse verstehen kann. Das Problem ist, dass diese rigide Art der Verifikation verunmöglicht, Dinge als wahr oder falsch zu erkennen, die auch nur ein wenig über die Empirie hinausgehen. “Hier liegt ein Stein” ist nicht auf dieselbe Art zu verifizieren wie generellere oder nicht-empirische Aussagen: “Es gibt Teilchen”, "Der Pegasus ist ein geflügeltes Pferd" oder “Es gibt Kausalität”. Nichtsdestoweniger wollen wir aber solche Sätze ebenso verwenden. Für Edelbauer ist das Bindeglied hier der Begriff des “Modells” (zumindest in einer sehr speziellen Art, wie man Modelle deuten kann), das durch Abstraktion die Fiktion in die Wissenschaft bringt (und umgekehrt).

Natürlich, das kann man so machen. Ich finde, das ganze Projekt ist umflort vom Hauch des Tractatus, von Moritz Schlicks “Erleben, Erkennen, Metaphysik” und von Rudolf Carnaps Idee der “Kunst als Ausdruck eines Lebensgefühls” in seiner “Überwindung der Metaphysik durch logische Analyse der Sprache”. Zum damaligen Zeitpunkt war dieser Hauch ein frischer Wind, heute hat er hingegen etwas modriges an sich. Ich würde dem ganzen daher eine radikalere Idee zur Seite stellen: den Antirepräsentationalismus, den wir bei Richard Rorty finden können (vgl. Rorty 1991).

Rorty erklärt uns in der Einleitung zu Objectivity, Relativism, and Truth nicht, dass es falsch wäre, anzunehmen, dass Sprache die Welt repräsentiert. Er sagt allerdings, dass es eine wenig hilfreiche Erklärung sei denn:

Representationalists offer us no way of deciding whether a certain linguistic item is usefully deployed because it stands in these [representational] relations, or whether its utility is due to some factors which have nothing to do with them - as the utility of a fulcrum or a thumb has nothing to do with its "representing" or "corresponding" to the weights lifted, or the objects manipulated, with its aid. So antirepresentationalists think "we use 'atom' as we do, and atomic physics works, because atoms are as they are" is no more enlightening than "opium puts people to sleep because of its dormitive power. (Rorty 1991, 6)

Wenn man Sprache also nicht als Menge von Abbildern beschreiben möchte, dann – so die zentrale Analogie – ist sie besser verstanden als ein Set von Werkzeugen, die man einsetzt, um Ziele zu erreichen. Manchmal erreicht man diese Ziele indem man möglichst viele Menschen davon überzeugen kann, dass die angebotene Sprechweise gut funktioniert. Andere Male erreicht man sie, wenn man bei sich oder anderen ein ästhetisches Wohlgefallen auslösen kann, oder eine neue Erkenntnis, eine Einsicht, ein Gefühl oder eine Emotion. Manches Mal auch, wenn man es schafft, eine Äußerung nahtlos in einen größeren Kontext einzubetten, andere Male, wenn die Äußerung einen neuen Kontext erst erschafft.

Dass die Welt unsere Äußerungen wahrmacht, ist in all diesen Situationen kein hilfreiches Werkzeug, wir sollten es beiseitelegen, denn es fügt keinerlei rechtfertigende Kraft hinzu. Stattdessen sollten wir uns auf andere Dinge konzentrieren, beispielsweise auf die Stimmigkeit des Narrativs, den wir uns selbst und Anderen präsentieren. Und das ist genau die Idee, die Edelbauer für literarische Äußerungen vorschlägt. So gesehen: ja, Philosophie funktioniert wie Literatur - aber das gilt auch von allen anderen Satzmengen. Aber keine davon funktioniert durch genaue Abbildung der Tatsachen.

Was Literatur tut

Der Grund für Edelbauers “tractatusartiges Bild der Sprache” scheint mir darin zu liegen, wie sie beschreibt, was Literatur für uns tun kann. Wir haben gesehen, das Verifikationskriterium wurde (zumindest im Hintergrund) eher rigide angewendet, wodurch eine große Menge abstrakterer und literarischer Sätze scheinbar ins Zwielicht der Unverifizierbarkeit rutschen. Wie können wir das verhindern? Edelbauer verwendet eine ähnliche Idee wie der junge Wittgenstein: nicht alles, was Bedeutung hat, lässt sich direkt ausdrücken, es scheint sogar, nur die Nebensächlichkeiten lassen sich direkt sagen. Das wirklich Wichtige lässt sich nur zeigen, bedeuten, andeuten (das Mystische, die Ethik, die Ästhetik, die Logik). Edelbauer nennt in einem ähnlichen Fahrwasser das Ziel der Literatur dann auch ohne Umschweife den “Ausdruck tiefer Wahrheiten”:

Literatur birgt die großartige Möglichkeit, durch die Beschreibung eines Einzelfalls (einer Handlung, eines Sinneseindrucks, eines Dialogs, eines Rhythmus etc. - die Möglichkeiten sind bekanntlich endlos) auf ein dahinterliegendes Prinzip, eine tiefe Wahrheit, zu verweisen. (Edelbauer 2024, 51)

und weiter:

Als eine tiefe Wahrheit bezeichne ich nicht etwa einen esoterischen Sinnspruch, sondern generelle Prinzipien, die hinter den kontingent auftretenden Einzelinstanzen stehen. Eine tiefe Wahrheit hat einen gewissen Grad an Generalisierung, und je tiefer sie ist, umso mehr davon. (Edelbauer 2024, 50)

Natürlich, das kann man so machen. Aber wenig überraschend bin ich kein Fan dieser Formulierung, sie erinnert mich trotz allem eher an Esoterikratgeber. Ja es stimmt, der junge Wittgenstein hatte wohl einen ähnlichen Traum, aber Carnap hat uns die “Sehnsucht nach Tiefe” doch ausgetrieben (sie ist dem späteren Wittgenstein aus anderen Gründen ebenfalls abhandengekommen). So gesehen drückt Literatur keine Wahrheiten aus, schon garkeine tiefen. Aber das ist nicht, weil Literatur nicht leisten kann, was wir erhoffen, sondern weil keine sprachliche Äußerung eine “Wahrheit ausdrückt”. Es ist die ganze Idee der “richtigen Wiedergabe der Tatsachen”, die wir fallenlassen wollen. Ich würde der Idee der Literatur als Suche nach tiefen Wahrheiten daher ein anderes Bild zur Seite stellen: die “Imagination”, die wir bei Max Frisch finden können (vgl. Frisch 2008).

Über diesen Begriff spricht er – wie passend – in seinen Poetikvorlesungen mit dem Titel Schwarzes Quadrat. Hier versucht er auf die Frage “Warum schreiben?” eine Antwort zu geben, die “seine Antwort” ist. Er erteilt gleich zu Beginn eine Absage an jeden Versuch, eine allgemeinere Theorie zu entwickeln, lieber stellt er ein paar Beobachtungen an und durchsetzt sie mit Textstellen aus seinem Werk. Ich denke, man kann die Situation so beschreiben, dass Frisch etwas ähnliches umtreibt wie Edelbauer, er fasst es aber in ganz andere Worte. Will sagen: auch Frischs Schreiben dreht sich darum, etwas auszudrücken, das sich nicht direkt in Worte fassen lässt, aber seine Terminologie bleibt dabei sehr persönlich und unmetaphysisch, da er sich nicht an “die Welt” wendet. Literatur bezeichnet für ihn den menschlichen Versuch, sich in der Welt zurechtzufinden und dem eigenen Platz und Wirken darin einen Sinn zu verleihen. Für Frisch ist das ein Akt, der über Fantasie und das Sagbare hinausgeht, aber uns nicht ins metaphysisch Mystische führt. “Die Wahrheit kann man nicht beschreiben, nur erfinden.” (Frisch 2008, 28). Anders gewendet: Literatur ist für Frisch nicht die Entbergung tiefer Wahrheiten, sondern immer weitere Geschichten zu erfinden, die, in ihrer Gesamtheit, ein Bild dessen liefern, wer man war und ist:

Schreiben heisst: sich selber lesen. Was selten ein reines Vergnügen ist; man erschrickt auf Schritt und Tritt, man hält sich für einen fröhlichen Gesellen, und wenn man sich zufällig in einer Fensterscheibe sieht, erkennt man, dass man ein Griesgram ist. Und ein Moralist, wenn man sich liest. Es lässt sich nichts machen dagegen. Wir können nur, indem wir den Zickzack unsrer jeweiligen Gedanken bezeugen und sichtbar machen, unser Wesen kennen lernen, seine Wirrnis oder seine heimliche Einheit, sein Unentrinnbares, seine Wahrheit, die wir unmittelbar nicht aussagen können, nicht von einem einzelnen Augenblick aus -. (Frisch 2008, 25)

Was wir tun

Und wie kommen wir in der Literatur also vorwärts? Für Edelbauer gibt es hier verschiedene Praktiken, die wichtigste nennt sie die "Routinen des Vergessens". Diese "sind Methoden, die oft damit arbeiten, dass etwas systematisch aus einem Sprechvorgang subtrahiert wird, das auf den ersten Blick elementar erscheint.” (Edelbauer 2024, 64) Einige Dinge, die man so als Subtraktion, als Vergessen interpretieren kann sind: etwas zerschneiden um zu vergessen, dass es vorher Eines war; oder etwas zusammenkleben um zu vergessen, dass es zwei Dinge waren; etwas anmalen um die vorherige Farbe zu vergessen; Licht erzeugen, um zu vergessen, dass es dunkel war.

Hier von vergessen zu sprechen ist ein sehr metaphorischer Gebrauch. Und ich würde “metaphorisch” hier nicht mit “eigentlich” kontrastieren (wie Edelbauer es später tut), sondern mit “gewohnt”. Anders gesagt, ich benutze “metaphorisch” um damit auszudrücken, dass ein Wort, das sich in einem anderen Kontext entwickelt hat, in einem neuen Kontext verwendet wird. Und genau das passiert hier auf sehr spannende Weise mit “Vergessen”.

Was mich nun sogar noch mehr interessiert als die Metapher selbst (oder vielleicht ist es eher eine“Analogie”?), ist die Frage, warum gerade diese Metapher angewandt wurde. Ich denke es hängt damit zusammen, dass Sprache ein Abbilden der Tatsachen sein soll und Literatur eine Suche nach Wahrheit. Wenn man Wahrheiten sucht, tiefe Wahrheiten gar, dann ist natürlich jeder schmückende Firlefanz störend. "Die Wahrheit erkennen” passt gut zusammen mit anderen Ideen, die wir aus diesem Umfeld gewohnt sind: Klarheit, Einfachheit, Endgültigkeit. Für solch ein Ziel eignet sich Reduktion sehr gut – man schneidet alles Unnötige weg, sodass nur noch das Essentielle übrigbleibt.

Natürlich, das kann man so machen. Aber ich habe diesen Fokus auf Verminderung unserer Möglichkeiten nie mitmachen wollen, der sich aus der Suche nach (möglicherweise tiefen) Wahrheiten ergibt. Ich war immer ein Freund des Feyerabend’schen Pluralismus und dem Versuch, viele Pfade in alle möglichen Richtungen zu schlagen. Ich würde der Routine des Vergessens daher ein anderes Bild zur Seite stellen: den Begriff des “Sehens”, den wir bei Friedrich Waismann finden können (Waismann 2008, 165ff).

Ein möglicher Übergang wäre dieser. Edelbauer sagt uns: “Vergessen als Grundmodus kann erstens heißen zu verlernen, was eine Sache eigentlich ist, wohin etwas eigentlich gehört.” (Edelbauer 2024, 66). Ich würde diesen Satz mit Waismann umändern zu: “Sehen als Grundmodus kann erstens heißen zu sehen, was eine Sache sein könnte, auf eine Weise, wie sie noch nie zuvor gesehen wurde.” In seinem letzten Text “Wie ich die Philosophie sehe” erklärt uns Waismann nach einem Leben voller Philosophie, dass er nicht wüsste, was Philosophie sei. An einer Stelle ist er dann aber kurz davor, sich doch zu einer Antwort durchzuringen:

Philosophie ist vielerlei, und es gibt keine Formel, die alles umfaßt. Aber wenn man mich bäte, in einem einzigen Wort ihr wesentlichstes Merkmal wiederzugeben, so würde ich ohne Zögern sagen: Sehen. Im Herzen jeder Philosophie, die diesen Namen zu Recht trägt, liegt das Sehen, von dort entspringt sie und nimmt sichtbare Formen an. Wenn ich “sehen” sage, so ist es mir ernst damit, ich möchte nicht romantisieren. Das Charakteristische an der Philosophie ist das Durchbohren der toten Kruste der Tradition und Konvention, das Zerreißen der Fesseln, die uns an überlieferte Vorurteile binden, was uns neue, tolerantere Ansichten erlangen läßt. Es ist eine alte Meinung, daß Philosophie uns das Verborgenen offenbaren sollte. (Ich bin nicht gerade unempfänglich für die Gefahren solcher Ansicht.) Dennoch wurde jeder große Philosoph von Platon bis Moore und Wittgenstein von einem Sinn des Sehens gelenkt: Ohne ihn hätte keiner den menschlichen Gedanken eine neue Richtung weisen oder Fenster zu Noch-Nicht-Gesehenem öffnen können. Obgleich er ein guter Fachmann sein könnte, würde er keine Spuren in der Geschichte der Ideen hinterlassen. Entscheidend ist die neue Art zu sehen und, was damit zusammenhängt, der Wille, den gesamten geistigen Horizont zu verändern. (Waismann 2008, 266)

Für Waismann ist Philosophie also im Wesentlichen eine kreative Tätigkeit, eine die uns neue Möglichkeiten bietet und sie nicht reduziert - und ich möchte diese Überzeugung wenig überraschend auch auf Literatur ausweiten.

Ich vermute, dass diese Idee der von Edelbauer letztlich verwandt ist, denn auch sie betont sofort die kreativen Möglichkeiten des von ihr vorgeschlagenen Vergessens. Und vielleicht ist es Wortklauberei (ziemlich sicher sogar) aber ich denke, wir täten gut daran, jegliche Referenz auf Reduktion, Wahrheit und Tatsachen aus unseren intellektuellen Bemühungen zu streichen. Nicht weil sie falsch sind, sondern weil sie uns behindern. Das Waismann’sche “Sehen” ersetzt die Reduktion durch den Begriff der Umdeutung, macht daraus eine Suche nach einer bisher noch nicht eingenommenen Perspektive auf scheinbar Bekanntes. In der Literatur ist Borges ein wunderbares Beispiel dafür, aber auch Nabokov – und meiner Ansicht nach Raphaela Edelbauer.

In aller Kürze zusammengefasst: Edelbauer zeichnet uns ein Bild von Sprache und Literatur, das sich um die Abbildung von Tatsachen, um tiefen Wahrheiten und um das routinierte Vergessen dreht. Ich habe versucht, mein Bild danebenzustellen, das vom Zurechtkommen mit der Welt, vom Entwurf des eigenen Selbst, und vom Sehen neuer Aspekte handelt. “Alles ist immer hochgradig verwurschtelt”, so erklärte uns Richard Heinrich einmal in seinem Seminar. Beide Bilder versuchen, uns im Angesicht der ewigen Wiederkehr der Verwurschtelung eine Möglichkeit zu bieten, die Welt und uns selbst zu verstehen. “Und oft ist es nicht ein Bild, was uns das Unsagbare vermittelt, sondern ein Rhythmus.” (Frisch 2008, 45)




Karlsruhe

herausgegeben von Munitionsfabrik

12.10.2024

Mein Wissen über Karlsruhe war vor der Lektüre dieses Buches nicht-existent, der Einstieg war auch gleich wenig motivierend. In der Einleitung wird Karlsruhe als “Stadt der Langeweile” bezeichnet, als “kulturelle Wüste” und als “die Ursache geistiger Atemnot”. Doch auch positivere Bilder finden sich, wie das der “zweiten Heimat” (vgl. Munitionsfabrik 2013, 12f). Diese zweite Heimat ist für viele nötig, die in die “Hochschule für Gestaltung Karlsruhe” eintreten, um dort zu studieren. Und eben solche Absolventen wurden hier gefragt, in diesem Band etwas über die Bedeutung von Karlsruhe für ihr (geistiges) Leben beizusteuern. Das Buch ist daher – neben dem, dass es ein wunderschönes Objekt ist – auch von den Herangehensweisen sehr vielfältig.

Es beginnt mit einer Serie von Farbfotos, die mich aber allesamt eher deprimiert stimmen – wahrscheinlich mit Absicht, werden die Fotos doch am Ende als “Landschaft aus Tatorten” bezeichnet (Munitionsfabrik 2013, 43). Welche tat sich allerdings ereignet haben soll, erschließt sich mir nicht ganz, es sind eher alltägliche Szenen, die wir hier sehen.

Im darauffolgenden Text erschließt sich mir auch, warum Karlsruhe 2013 ein Ort der Langweile und geistiger Beklemmung ist – Peter Sloterdijk war bis 2015 Rektor der Hochschule für Gestlatung. Das erklärt natürlich einiges. Ansonsten ist der Text von Stephan Krass über einen neuen Begriff des “Passanten” leider sehr von einem “Früher war alles besser” und “Alle starren nur noch auf ihr Handy” durchsetzt, eine Art von Kulturpessimismus die ich so langweilig finde wie abgestandenes Bier.

Daniel Hornuff setzt sich später mit dem Begriff der “Heimat” auseinander, und auch mit dem des “Heimwehs”. Ich habe hier gelernt, dass sich die Entität Heimweh über die Zeit sehr verändert hat - früher war “Heimweh” die Bezeichnung eines Krankheitsbildes, das diagnostiziert wurde, wenn man sich zu lange zu weit entfernt von der Heimat befand. Aber “Heimweh” war keine psycho-somatische Entität, sondern sehr konkret an körperliche Gebrechen gebunden: geschwollenes Gehirn, Entzündungen im ganzen Körper, geschrumpfte Mägen, vertrocknete Lungen und zerrissene Herzmuskel (vgl. Munitionsfabrik 2013, 105).

Die Künstlerin Antonia Wagner, so habe ich hier gelesen, hat einen sehr interessanten Zugang zu ihren Arbeiten. Sie versucht immer, sich auf scheinbar nebensächliche Details zu konzentrieren und diese in ihrer Kleinheit möglichst effektfrei zu betonen. Anders gesagt sieht sie, was wir alle sehen – scheinbar. Und doch, in dem sie andere Aspekte herausgreift, die wir vielleicht als Nebensachen sehen, ist es ihr möglich, neue Entitäten zu erzeugen, die wir anderen noch nicht erkannt haben. Ich denke, das ist momentan meine liebste Beschreibung dessen, was “Kreativität” ist – dieselben Ausgangsentitäten zu haben wie alle anderen, aber etwas völlig Neues damit zu erzeugen.

Eine weitere Sache, die ich gelernt habe, ist, dass Karlsruhe in der Geschichte der RAF eine wesentliche Rolle gespielt hat. Ein Künstler, der diese Geschichte aufarbeiten wollte, war Hans-Peter Feldmann, der in seiner Ausstellung “Die Toten” scheinbar kommentarlos die Fotos der Leichen zeigte, die von der Auseinandersetzung zwischen Staat und RAF produziert wurden. Feldmann sagt dazu:

Ich zeige unbestreitbare Fakten, nur mit der absolut nötigsten minimalen Kommentierung, die keinerlei Beurteilung beinhaltet. Und indem ich die Aufmerksamkeit auf die Opfer lenke, lege ich darin meine Hoffnung, vielleicht eine neue Herangehensweise an die Aufarbeitung zu ermöglichen. (Munitionsfabrik 2013,188)

Das finde ich natürlich spannend, weil ich denke, dass es ein ganz bestimmter Narrativ ist, keinen Narrativ präsentieren zu wollen (so, wie etwas als unbeschrieben zu beschreiben). Feldmann will “die Fakten” sprechen lassen. Es ist eine sehr klassische, aber wir mir scheint nicht sehr hilfreiche Herangehensweise. Denn dadurch, dass die Fotos gemacht, kopiert, gereiht und präsentiert wurden, weiß jeder, der den geschichtlichen Hintergrund kennt, wie der Narrativ beschaffen ist. Ich selbst finde es in diesen Situationen immer hilfreicher, den Narrativ aktiv zu gestalten, als zu hoffen, dass er “von der Welt gestaltet” wird. Die Fakten sprechen dann eben doch sehr undeutlich.

Zum Abschluss aber spricht Jacob Birken auf für mich sehr mitreßende Weise:

Es ist wenig zielführend, Geschichte anhand von Kausalverhältnissen wiedergeben zu wollen. Dies ist nur ein Schritt weniger albern als eine Zukunftsvorhersage; für beides wäre - falls wir nicht aus den Ereignissen irgendwelche überzeitlichen Gesetze ableiten wollen - letzten Endes eine genaue Abbildung der Welt selbst notwendig, um tatsächlich alle Einflüsse auf das Weltgeschehen berücksichtigen zu können. Woran wir aber zumindest glauben können, ist an das menschliche Handeln als den Ausdruck einer noch zu kommenden Welt; jeweils später wird sich zeigen, wessen Neigungen und Vorstellungen mit einer neuen Wirklichkeit - eventuell also unserer Gegenwart - übereinstimmen, ob sich nun eine tatsächliche kausale Kette zwischen gestern und heute bilden lässt oder nicht. (Munitionsfabrik 2013, 246)

Besser könnte ich meine Hoffnung dahingehend nicht ausdrücken.








vergessen
Vergessen

Wie rationale Maschinen romantisch wurden.
KI, Kreativität und algorithmische Postrationalität.

von Philipp Schönthaler

05.10.2024

Ich würde es so sagen: das Buch setzt sich mit der Frage auseinander, ob Maschinen Kunst produzieren können. Und Schönthalers Antwort, die mir sehr sympathisch ist, lautet: das kommt darauf an, wie wir sie beschreiben (nicht darauf, was sie “wirklich sind”). In seinen eigenen Worten:

Denn die Wirkmächtigkeit der Technik ist niemals nur das Resultat der Leistungsfähigkeit technischer Systeme. Vielmehr sind diese, um ihre Wirkmächtigkeit entfalten zu können, wesentlich auf kulturelle Bedingungen, die ihnen förderlich sind, angewiesen, Folgt man dieser Spur, rückt die romantische Maschine als Ausdruck einer neuen Legitimations- erzählung in den Blick, wie die digitalen Systeme in soziale Lebenswelten integriert werden sollen. (Schönthaler 2024, 13)

Der Narrativ erzeugt also die Plausibilität der vorgelegten Sichtweise. Schönthaler zeichnet dafür die Wege der “Computerpoesie” von ihren Anfängen in den 1950ern bis heute nach und zeigt dabei, welche Veränderungen in unserem Verständnis der poetischen Fähigkeiten der Maschine wir als Wegmarken auffassen können, die uns dorthin geführt haben, wo wir heute sind: bei Maschinen, die ihre dunkle, undurchsichtige Funktionsweise mit den schöpferischen Subjekten der Romantik teilen.

Das wirkt wie ein Treppenwitz der Geschichte, denn - wie Schönthaler mitreißend beschreibt - hatte sich die Computerpoesie eigentlich aufgemacht, jegliches Wirken eines Subjekts, dessen Tun nicht auf Logik zurückzuführen sind, aus der Poesie zu tilgen. Ursprünglich wollte man hier zeigen, dass man auch mit programmierbaren - lies: durchschaubaren und vorhersehbaren - Regeln poetische Texte schreiben kann.

Anhand dieses Generators nach dem Vorbild von Theo Lutz' stochastischen Texten kann man selber ein wenig erleben, auf welche Weise hier Text zustande kommt und wie sich das Ergebnis liest. Ja, damals war die Welt noch in Ordnung, das heißt, verstehbar. Kafkas Schloss als Lieferant für das Vokabular, jeglichen syntaktischen Schmucks beraubt, hat man es hier quasi mit der Essenz der Literatur zu tun - so zumindest eine mögliche Beschreibung.

Doch so einfach sollte es nicht lange bleiben. Durch die Durchbrüche in der Kunst der Softwareentwicklung, politische Ränkespiele, kulturelle Umwälzungen und philosophische Reflektion hat sich die Welt weiterbewegt. Die Maschinen wurden dabei sehr schnell sehr komplex und als man schließlich erkannte, dass man einen neu entstandenen und quantifizierbaren Kreativitätsbegriff auf sie anwenden konnte, war es um die Verstehbarkeit geschehen.

Gerade mit den neuesten Entwicklungen rund um künstliche Intelligenz hat die “Dunkelheit der Subjektivität” ihre Rückkehr gefeiert. Denn Large Language Models wie die von OpenAI oder Anthropic funktionieren mit Hilfe der Mittel, die uns die Statistik bereitstellt. Das heißt, alle Antworten, die hier von Maschinen geliefert werden, sind nur wahrscheinlich, sie basieren nicht mehr auf zwingend logischen Schlüssen (allerdings: ob sie das je taten? Vielleicht romantisieren wir hier die nicht allzu ferne Vergangenheit bereits).

Insofern gleichen sich moderne Maschinen dann dem schöpferischen Subjekt an, das in der Romantik erstmals als Entität gefasst wurde. Wo die maschinelle Poesie ausgezogen war, den schöpferischen Prozess innerhalb der Kunst vom Subjekt zu befreien (den Autor also noch viel mehr zu “töten” als Roland Barthes), beschreibt man die Situation heute vielleicht besser so, dass man nicht den Text von der Subjektivität befreit hat, sondern die Subjektivität in die Maschine hineinprogrammiert hat.

Letzteres fände ich jedenfalls spannender, weil es zu ganz fundamentalen Fragen eine neue Antwort liefern kann. Ist Kunst immer Ausdruck des Innenlebens? Kann so ein Innenleben nur in Menschen auftauchen? Sollten wir sagen, dass Maschinen uns Menschen auch in anderen Hinsichten ebenbürtig geworden sind? Würden wir Kunst noch als solche erkennen, wenn Maschinen sie erzeugen? Und um aus dem Film I, robot zu zitieren: ab wann ist die Simulation eines Bewusstsein ein Bewusstsein?

Anmerkung

Das alles erinnert mich an Stanislaw Lems Also sprach GOLEM in dem ein Supercomputer Vorlesungen für die Menschen hält, um sich dann abzuschalten - warum? Wir wissen es nicht.

Was ist dann “Kunst”, "Kreativität" oder “Subjektivität”? Das weiß ich nicht, aber ich finde es interessanter, wenn sich auch sonst niemand mehr so sicher ist…

Zur Ästhetik und Philosophie der Künste – Teil I: Leonardo da Vinci

von Paul Valéry

04.10.2024

Auf Paul Valéry bin ich durch Julian Barnes aufmerksam geworden, der Valérys Diktum zitiert, dass Kunstwerke nie abgeschlossen sondern nur abgebrochen werden. Ich dachte mir sofort: nicht nur Kunstwerke! Das gilt doch für jede Entität! Nach kurzer Recherche – ich kannte zuvor nur den Namen aber keine seiner Ideen – war ich mir sicher, dass Valéry eine wichtige Rolle für die Utobiographie einnehmen kann, da sein Ansatz, Kunst für die philosophische Tätigkeit aufzuwerten, ganz im Einklang mit meiner Ansicht steht. Früher, als ich noch im akademischen Betrieb war, hätte mich so eine Entdeckung geängstigt. „Hoffentlich hat dieser Mensch nicht schon meine Idee vorweggenommen und meine Forschung irrelevant gemacht“ hätte ich mir gedacht. Doch nun muss ich diese Angst nicht mehr haben. Im Gegenteil, ich bin vor allem neugierig. Ich habe mir also Band 6 der Gesamtausgabe besorgt und werde nach und nach die einzelnen Teile in mein Entitäten-universum integrieren.

Wo ist Leonardo da Vinci?

Der erste Abschnitt ist überschrieben mit „Leonardo da Vinci“. Die Abfolge der Texte ist gleich eine Herausforderung für unbedarfte Leserinnen. Der Abschnitt besteht aus fünf Texten. Der erste wurde 1894 geschrieben, der zweite 1919, und der dritte 1929. Noch dazu wurden aber alle drei Texte von Valéry zwischen 1929/30 kommentiert, diese Kommentare laufen auf der Außenseite neben dem Haupttext her. Den Abschluss liefern zwei kurze Texte, die 1939 und 1942 geschrieben wurden, und die – anders als die ersten drei langen Texte – tatsächlich von da Vinci handeln, aber keine Randkommentare enthalten.

Die Ebenen sind also durchaus verworren. Wir haben einen jungen und einen mittleren Valéry, der von seinem späteren Ich kommentiert wird, wir haben „Leonardo da Vinci“ als Titel, ohne, dass er in den drei langen Texten so richtig Thema wäre und wir haben den Herausgeber, der Fußnoten hinzufügt. Später gesellt sich dann noch der späte Valéry dazu, der uns zum ersten Mal ein wenig mehr über seine Ansichten zu da Vinci verrät. Es sprechen also durchaus viele Stimmen durcheinander und miteinander. Für Einsteigerinnen (so wie mich also) wäre es wohl leichter gewesen, die beiden spätesten Texte zuerst zu reihen, um dann zu den „abgehobeneren“ drei längeren Texten zu kommen. Denn der späte Valéry hat zum ersten Mal den Hintergrund explizit gemacht, der bei seinen früheren Texten sicher vorhanden war, von dem wir Leserinnen aber nichts wissen konnten.

Soweit ich jetzt sehe, kann ich mit dem späteren Valéry mehr anfangen, als mit seinem jüngeren Ich. Der erste Text aus 1894 „Einführung in die Methode des Leonardo da Vinci“ berührt mich nicht, ich verstehe die Probleme nicht, die Valéry hier lösen wollte – oder sagen wir: ich spüre diese Probleme nicht. Es scheint im Allgemeinen um die Möglichkeiten und Grenzen der Vorstellungskraft zu gehen und um den Sonderweg des Genies, der in der Lage ist, sich frei von allen einengenden Begriffen und Kategorisierungen, die Dinge auf neue Weise zu vorzustellen und zu kombinieren.

Aber ich habe vor allem in diesem Text ein ähnliches Gefühl wie bei vielen Texten Nietzsches, nämlich, dass hier noch das abgehandelt wird, was später als „Psychologie“ in ein eigenes Wissenschaftsfeld ausgelagert wurde. Daher denke ich bei diesem Text (wie auch oft bei Nietzsche) wenn ich lese wie die Menschen nun mal denken und wie sie Vorstellungsbilder im Geiste verknüpfen und was alles im Wesen des Menschen liegt, einfach „Aha, naja…“ – aber mehr kann ich dazu nicht sagen (humph, hé, ha, nur auf die schlechte Weise). Ebenso geht es, wie schon angemerkt wurde, nur sehr mittelbar um Leonardo da Vinci, auch wenn er vielleicht für all die generalisierten Überlegungen Pate gestanden hat. Aber das weiß ich als Leser leider nicht, daher wirken die drei langen Texte alles in allem eher ätherisch auf mich, auch wenn es gegen Ende hin handfester wird.

Daher werde ich auch bei Valérys Texten meine übliche Methode anwenden. Ich werde mich nicht allzu sehr darum kümmern, was Valéry mit seinen Texten bezwecken wollte, sondern ich werde vor allem versuchen, die Punkte, die mir interessant erscheinen, in die Utobiographie zu integrieren.

Sich selber lesen

In vielen Punkten passen Valérys Zugang und der dieser Utobiographie gut zusammen. Aber doch würde ich bei jedem dieser Berührungspunkte sagen, dass ich damit woanders hin möchte oder zumindest, dass ich Ideen und ihre Zusammenhänge anders gewichte als er. Die Idee, seinen eigenen, früheren Texte, noch einen Besuch abzustatten ist so ein Berührungspunkt. Das Set-up der Texte zeigt einen Willen zum Kommentar, in dem der spätere Valéry rückblickend, neben dem originalen Text herlaufend, seine Anmerkungen macht.

Doch – und hier spielt dieses Wiederlesen für mich eine andere Rolle – ich habe nicht das Gefühl, dass Valéry viel daraus macht. Die meisten Kommentare sind sehr kurz, vor allem im frühesten Text. Später werden sie länger, vielleicht weil Valéry noch besser vor Augen hatte, worauf er hinaus wollte, als er den Text schrieb. Oder, vielleicht kam ihm sein frühester Text schon vor wie der eines Fremden und er hatte weniger Erinnerungen daran, warum er was wie geschrieben hat. Oder, er hat sich sogar derart weiterentwickelt, dass ihm sein damaliges Ich undurchsichtig geworden ist. Oder er stimmt so sehr mit seinem früheren Ich überein, dass er nicht viel zu kommentieren findet.

In jedem Fall spielen die Kommentare eigentlich keine große Rolle, sie greifen nicht in frühere Gedanken ein, lenken sie nicht um, ändern sie nicht. Sie merken nur an. Doch ich finde, dass man sein altes Ich nicht so leicht davonkommen lassen sollte, zumindest nicht mit allem. Man sollte Gedanken neu gruppieren, Dinge, die man nun anders sagen würde, umschreiben oder löschen und Absätze und Ideen neu zusammenstellen. Ich nehme aber auch an, dass ich das leichter sagen kann, mit den Möglichkeiten dieses nicht-linearen Mediums. Ich kann hier auf Arten mit Texten umgehen, die mit Buch und Vertrag gar nicht denkbar waren und so mein vergangenes Ich sehr viel grundlegender umschreiben.

Denken beeinflusst sehen

Eine besondere Eigenschaft, die Valéry dem Genie - und damit auch da Vinci - zuschreibt, ist die Fähigkeit, ohne Begriffe zu sehen. Denn: “Die meisten Leute nehmen viel häufiger mit dem Verstand als mit den Augen wahr. Anstelle farbiger Räume nehmen sie Begriffe in sich auf.” (Valéry 2021, 21).

Valéry scheint sich hier etwas ähnliches zu wünschen, wie es Carnap in seinem Der logische Aufbau der Welt beschrieben hat, nämlich, dass wir ganz grundlegend Farben und Formen wahrnehmen, die wir dann durch das Denken (manchmal auch begrifflich) zu allerhand Dingen zusammenfassen. Für Carnap das Fundament alles Weltverstehens, doch für Valéry, so scheint es mir zumindest beim lesen, ein Grund für Melancholie. Wir sehen nicht mehr “wirklich”, es bedarf eines Genies, um diesen begrifflichen Schleier zu heben, unter dem sich Besseres, Realeres verbirgt.

Es mag nicht überraschen, dass ich diese Melancholie nicht teile, sondern, dass ich die Idee positiv aufregend finde, dass man seine Perzeption durch Begriffe (und Entitäten) beeinflussen kann. Denn wenn dies möglich ist, dann kann ich durch eine geänderte Beschreibung meiner Selbst und durch Wechsel der Entitäten, tatsächlich meine Welt sehr grundlegend verändern, indem ich mich selbst verändere.

Doch für Valéry scheinen unsere Begriffe doch letztlich den Zugang zur Wirklichkeit zu verstellen. Ja, es mag etwas geben wie Denkkollektive, Sprachspiele, Paradigmen - aber es gibt auch ein Außerhalb. Es gibt Individuen, so wie da Vinci, die aus diesen Spielen aussteigen können, um zu dieser Wirklichkeit vorzudringen. So möchte Valéry jedenfalls Wirklichkeit verwenden. Ich würde dahingegen sagen, dass Valéry beschreibt wie da Vinci ein neues Paradigma, ein neues Sprachspiel erfunden hat und es uns nun versucht schmackhaft zu machen. Daran ist ja auch nichts verkehrt, aber ich würde eben nicht sagen, dass da Vinci (oder Valéry) hier etwas “wahres” gefunden hat, und wir ihnen folgen müssen, wenn wir nicht fehlgehen wollen. Stattdessen würde ich sagen, dass Valéry eine spannende neue Beschreibung der Situation angefertigt hat, die wir ausprobieren können.

Pragmatistische Maxime

Eine Idee, die sich in allen Phasen von Valérys Auseinandersetzung mit da Vinci findet, ist zumindest verwandt mit der pragmatistischen Maxime. Hier ist eine Formulierung:

Man braucht sich nur zu befragen, und man trifft bei sich selber auf die moderne Überzeugung: daß alles Wissen, dem kein tatsächliches Können entspricht, nur eine konventionelle oder willkürliche Bedeutung hat. Alles Wissen taugt nur insoweit, als es einem feststellbaren Können die Beschreibung oder die Vorschrift liefert. (Valéry 2021, 108)

Hier eine spätere, wo er sich dieses Gedankens schon sicher war und ihn nur noch beiläufig erwähnen musste:

Was wissen wir? Wir wissen, was wir können. Alles übrige ist nur Austausch von Worten. (Valery 2021, 144)

Ich denke, dass Valéry hier auf etwas Ähnliches hinaus will wie Pragmatisten, die sagen, dass nur ein Unterschied in der Theorie gemacht werden soll, falls auch ein Unterschied in der Praxis vorliegt.

Pragmatisten und Valéry werden sich aber wohl nicht so schnell bei der Frage einig, was man alles unter „Können“ subsumieren sollte. Denn Valéry zeigt sich weder der Metaphysik abgeneigt, noch der Idee, dass es „tiefes“ und nichtsprachliches Wissen und Sein jenseits der Worte gibt. Beides sind Ideen, die durch die pragmatistische Maxime ihre Plausibilität verlieren. Doch für Valéry gibt es, denke ich, noch ein „metaphysisches Können“, dem allerhand „tiefer Einsichten“ entsprechen. Auf gewisse Weise kann man ja auch in der Metaphysik etwas – man kann ein bestimmtes Spiel erlernen, man kann in geregelten Abläufen auf andere metaphysische Aussagen reagieren. Aber ich weiß nicht, ob ich diese Reaktionen für „tiefer“ halten würde als andere. Nach unserer Lektüre von Carnap sind wir eher geneigt zu sagen, dass „überall Oberfläche“ und „nirgends Tiefe“ ist. Anders gesagt: nach Carnap haben wir das Nest der Metaphern, die von der „Tiefe des Denkens und Erkennens“ handeln, durch ein anderes Nest von Metaphern ersetzt – eines, das von Weitläufigkeit, Ausdehnung und Verknüpfung handelt.

Philosophie als Kunst

Ich nehme an, dass dieses Thema später noch stärker wiederkehren wird, aber man findet es schon hier, vor allem in "Leonardo und die Philosophen”. Valéry nennt hier Künstler die “Beförderer dessen, was sein wird” (Valéry 2012, 112). Künstler finden nichts, sie erfinden, die erschaffen, sie schöpfen. Und für Valéry sind Philosophen Künstler, ohne dass sie es wissen. Wie Nietzsche erklärte, dass einzig als ästhetisches Phänomen das Leiden in der Welt gerechtfertigt werden kann, so erklärt und Valéry: “Einzig und allein die ästhetische Interpretation kann die ehrwürdigen Denkmäler der Metaphysik dem Bankrott ihrer mehr oder minder versteckten Postulate, der zerstörenden Einwirkung von Sprachanalyse und Logistik entreißen.” (Valéry 2021, 116)

Ich finde die Konklusion spannend und richtig, aber den Grund dafür nicht. Mir ist es nicht wichtig, die “Denkmäler der Metaphysik” zu retten oder die Philosophie als eigene Sparte zu erhalten. Bei Valéry hat dieser Wechsel der Vorbilder für Philosophen immer etwas trauriges. Ich habe immer das Gefühl, der Abschied von Metaphysik als strenger Wissenschaft fällt ihm schwer, wahrscheinlich, weil er annimmt, dass hinter jedem Sprechen noch eine “tiefere Ebene” liegt, die es für Menschen zu ergründen gilt. Vielleicht hat sich dies in Valérys Leben auch geändert, ich bin gespannt, wie es bei ihm mit dieser Idee weitergehen wird. Aber die Philosophie als “Kunst der Ideen” (Valéry 2021, 119) finde ich toll, auch, wenn ich eher sagen würde “Kunst der Entitäten”.



making matters. A Vocabulary for Collective Arts.

by Janneke Wesseling & Florian Cramer (eds.)

08.09.2024

About the book

This book is the result of a five year research project which was conducted in the fields of arts, design and technology. As the subtitle indicates, it is something like a dictionary for helping us to see the world in a new way. In my terminology, it provides us with a new set of entities and new ways of combining them.

Since we have design and arts in the background, the book itself is very uniquely designed. The text changes color as the reader progresses, images and text are combined, it proposes a non-linear reading (a proposal, which I ignored, to be honest) and also provides a cross-linking of terms via symbols, very similar to the anchor links used on this website.

Also the disclaimer at the end I found very interesting. It goes like this:

The user is free to share - to copy, distribute and transmit the work under the following conditions:
Attribution - You must attribute the work in the manner specified by the author or licensor (but not in any way that suggests that they endorse you or your use of the work).
Noncommercial - You may not use this work for commercial purposes.

All good so far, but the last point of the list puzzled me, it reads: “No Derivative Works – You may not alter, transform or build upon this work.”

I am not allowed to build on this work. I am puzzled how this goes together with the purpose of the book, which is to provide us with a new vocabulary for arts. But maybe we are only allowed looking at it – we may not use it ourselves? And I guess by having thoughts on the texts I read, I am already breaking the law. Definitely I am breaking the law then by writing about these thoughts. To make matters worse, here are some of the thoughts I had. (Maybe I can avoid being punished by law by insisting that I am not “building upon” anything in the book but rather that I am “deconstructing” it.)

Zoöperation or Zoöp

That is a very nice example of how a new entity is formed that cuts across old entities and structures them in a new manner. Before this entity, human cooperation and the non-human life were relatively separated, I think its safe to say that for human interests, the impact on the non-human life was only of minor relevance. A zoöp combines these two elements – human endeavors and the interests of non-human life – and thereby drastically changes what can be done with this entity compared to the two separate entities we had before.

Artistic research

A newly emerging field of studies with, I think, two important problems. The first one is political. The only reason why these people want to have the rank of a “researcher” is because they – for economic and political reasons – want to be treated as scientists. Sciences are better funded and are taken more seriously in university contexts than “arts” and “artists”. But there is no real, inherent reason why this new field of study is needed. This becomes visible especially when we ask artistic researchers, what the underlying idea of the scientific process is which they wish to employ and why this is specifically “artistic”. They simply don’t know – there is theory of science and there is no clear idea why the research isn’t simply physical, chemical, and the like.

Artistic research is therefore in the uncomfortable position to claim that here a specific type of “research” is conducted, without any theory in the back, what differentiates this type of “research” from other kinds of research. As it stands I never heard any reason why “artistic research” isn’t “scientific research” with its subject being related to arts.

The not-yet

This concept I found especially interesting because it relates to utopian ideas, although negatively. While it is said that utopia is always very far away and by definition not reachable, the “not yet” is always thought of with concrete steps in mind, how it can become a “now here”. The philosopher Hans Achterhuis is quoted by saying that “all utopian projects in a sense reject the present, or consider it as something to be destroyed in order to make way for the new” (Wesseling/Cramer 2022, 198).

I am not sure if I agree with that, especially when it comes to the project of an utobiography. The idea of the “not-yet” is said to be an attitude of the present, encouraging us to start right now with arriving at a better future. I had a similar idea when I proposed my definition of utopia as the hope that the future will be better and more interesting than the past. But of course, I did not have in mind, that this should happen by chance, without me doing my part, without me putting work into expanding my self-description. My idea was, from today’s perspective, that try to make the future more interesting by making myself more open for being interesting.

But I do not really see why this should not be possible with utopia but just with the not-yet. I have the feeling, that this distinction was an attempt to make the idea of the “not-yet” to look newer and more innovative than it is. I really like the idea, but I think we had it already in utopia – as far as I can see now.

Feral

This concept is connected to a wonderfully made homepage, the feral atlas. As the mission is stated on the frontpage, the “Feral Atlas invites you to explore the ecological worlds created when nonhuman entities become tangled up with human infrastructure projects.” And so I was very much reminded of the zoöp. On this page we see in a optically pleasing but information-filled manner how complex the world is, when we look outside of the “strictly human” sphere.

Undisciplined

I was very much reminded to “undefined” here, since the author, Femke Smelting, states that any attempt of trying to define “undisciplined” is already a contradiction. Does this then mean, that the term cannot be defined? But that would mean we would have no idea how to properly use it. Maybe here we have a case of how Wittgenstein’s family resemblance can be put to good use. Maybe there is no set of necessary conditions here, only resemblances in the situations the concept is employed in. But then again, I had the feeling that we can give a definition of “undisciplined” – it is all what is not covered by any discipline so far. Maybe not super helpful but at least a definition.




Kunst sehen

von Julian Barnes

27.08.2024

Ich kann jedenfalls sagen, dass ich sehr viel aus diesem Buch gelernt habe, auch wenn ich wahrscheinlich vieles garnicht verstanden habe, und manches vom Autor nicht intendiert war. Mit dem letzteren Punkt meine ich, dass mich Nebensätze oder beiläufige Betrachtungen auf ganz neue Wege gebracht haben, die nichts mehr mit dem eigentlichen Thema des Buches zu tun haben. Hier zwei Beispiele.

Realismus als rhetorische Strategie

Das Bild ist mit einer üppigen Zartheit gemalt und wirkt beängstigend realistisch. Nein, es ist nicht so, sondern so, scheint es zu sagen (der Realismus will per se immer etwas richtigstellen). (Barnes 2022, 79)

Das Bild, um das es geht ist im übrigen Der Ursprung der Welt und ich denke, ich verstehe diese Beschreibung nicht. Anders gesagt, ich finde keinen Halt, daran anzuknüpfen. Worauf bezieht sich das erste „so“? Und worauf das zweite? Warum sind beide kursiv gesetzt? Wenn eines der beiden „so“ kursiv gesetzt wäre, könnte ich mir die Geste dahinter zumindest vorstellen; aber so?

Ich stelle mir die Situation so vor: zwei Kinder scheinen miteinander zu streiten. Ein Erwachsener kommt, hört die Kinder und will dazwischen gehen. Doch da hält sie ein anderer Erwachsener zurück, der die Kinder schon länger beobachtet hat und sagt „Nein, sie streiten nicht wirklich, sondern sie spielen Streit und Versöhnung.“ In diesem Fall würde die zweite Person so etwas sagen wie „Es ist nicht so (wie Du gedacht hast), sondern so.“

Und vielleicht auch diese Situation: Ich denke, dass Paul Cézanne ein Kubist war und sage das jemandem gegenüber, der sich mit Kunst auskennt. Sie wird sagen: „Nein, man kann ihn mehreren Richtungen zuordnen, aber er war kein Kubist.“ Es war nicht so, sondern so.

Vielleicht anders formuliert: der Realismus stellt einem ein Framework bereit, in dem man andere korrigieren kann (das heißt: ihre Aussagen richtigstellen). Wie tut der Realismus das? Mit dem rhetorischen Mittel, dass eine von allen Gesprächspartnern unabhängige Instanz ins Gespräch miteinbezogen wird, die zeigen soll, dass es nun einmal so ist (und nicht so).

Davon will ich zwei Dinge festhalten: erstens, gefällt mir die Idee, dass der Ursprung des Realismus der Wille zum Rechthaben steht. Wie Barnes es beschreibt, war zuerst die Absicht, etwas richtigzustellen, für die man sich dann eine Methode – den Realismus – gesucht hat. So beschrieben ist der Realismus eine rhetorische Strategie, keine unausweichliche Notwendigkeit. Zweitens, ich verstehe immer noch nicht, was in Der Ursprung der Welt richtiggestellt werden soll. Wer würde denn etwas anderes behaupten? Oder malen?

Verschiedene Arten, Entitäten zu komponieren

An sehr vielen Stellen des Buches werden Gemälde beschrieben, manche davon sind dann auch im Buch abgedruckt, andere habe ich mir im Internet selber herausgesucht. Ich finde, das ist ein schönes Beispiel dafür, wie man Entitäten auf verschiedene Weisen anreichern kann. Nehmen wir dieses Beispiel, Nana von Édouard Manet:

Man sieht sie von fern, am Ende einer langen Zimmerflucht. Beim Näher- kommen erkennt man, dass sie einem schon entgegensieht. Sie ist in ihrer aufgerüsteten Unterwäsche: hellblaues Mieder, weißer Unterrock, hellblaue Strümpfe; in der erhobenen rechten Hand eine Puderquaste wie eine übergroße Nelke. Zu ihrer Linken hängt über einem Stuhl das blaue Kleid, das sie bald anziehen wird. Zu ihrer Rechten steht eine ungeduldige, schnurrbärtige Gestalt, die man zuerst vielleicht gar nicht bemerkt, den Zylinder noch - oder schon - auf dem Kopf. Doch man ist sich wiederum bewusst, dass die Frau nur Augen für einen selbst hat.

"Man sieht sie von fern, am Ende einer langen Zimmerflucht. Beim Näherkommen erkennt man, dass sie einem schon entgegensieht. Sie ist in ihrer aufgerüsteten Unterwäsche: hellblaues Mieder, weißer Unterrock, hellblaue Strümpfe; in der erhobenen rechten Hand eine Puderquaste wie eine übergroße Nelke. Zu ihrer Linken hängt über einem Stuhl das blaue Kleid, das sie bald anziehen wird. Zu ihrer Rechten steht eine ungeduldige, schnurrbärtige Gestalt, die man zuerst vielleicht gar nicht bemerkt, den Zylinder noch - oder schon - auf dem Kopf. Doch man ist sich wiederum bewusst, dass die Frau nur Augen für einen selbst hat."


Der Text stammt von Barnes und beschreibt ebenjenes Bild. Wenn ich den Text nicht gelesen hätte, wäre meine Entität Nana von Manet das Gemälde selber. So ist es das Gemälde und zusätzlich diese Beschreibung in Worten. Anders gesagt, Nana ist nun reichhaltiger als vorher, aber beides – Gemälde und Beschreibung – sind gleichermaßen Teil der Entität Nana. Und ich würde die Sache nicht so beschreiben, dass der Text über das Gemälde handelt, sondern dass es ebenbürtiger Teil meiner Entität ist. Das habe ich jedes Mal dann bemerkt, wenn mir in Kunst sehen ein Bild beschrieben worden ist. Oft, wenn ich es dann auch gesehen habe, habe ich mir schwer getan, diese beiden Teile der Entität in Einklang zu bringen, vor allem auch weil Barnes in seinen Beschreibungen sehr viele mentale Zustände von Maler(in) oder abgebildeten Personen einbaut, beispielsweise die "Ungeduld" der "schnurrbärtigen Gestalt" in Nana.

Ich finde es bei Gemälden (oder auch Fotos) sehr offensichtlich, dass eine rein textliche Beschreibung der abgebildeten Inhalts beschränkter ist, als eine Entität, die auch irgendeine Art von optischem Element behinhaltet.

Künstler, Philosophen, Wissenschaftler

In meinem letzten Buch über Kunst von Boris Groys geht es sehr viel um Strukturen und wie verschiedene soziale Rollen zusammenspielen, um Kunstwerke zu erzeugen. Das Individuum "Künstler" spielt dabei eine relativ kleine Rolle. Hier ist das anders, wir werden mit Künstlern, ihren Lebensgeschichten und ihren menschlich, allzumenschlichen Regungen und Veriwrrungen konfrontiert. Wir lesen dann darüber, durch welche Zufälle die Künstler dazu gekommen sind dieses oder jenes zu malen, wer wenn icht leiden konnte und warum und wer als Mensch glücklich wurde und wer eher nicht.

In diesem Punkt zeigt sich, dass Künstler weder als die eigenschaftslosen Träger einer Funktion beschrieben werden müssen, noch als kontextlose Genies, die nur aus ihrer Innerlichkeit schöpfen. Barnes beschreibt Künstler als Menschen. Als kontextuelle Wesen, die Zukunftsängste haben, die neue Dinge ausprobieren und dabei auch scheitern können und die sich eingehend mit anderen Künstlerinnen beschäftigen. So gesehen funktioniert die Rolle "Künstler" wie die der "Philosophin". In beiden Fällen wird beschrieben, mit welchen Vorgängerinnen die Person sich beschäftigt hat, wessen Ansichten sie adaptierte und welche sie ablehnte. Das selbe gilt natürlich auch für Wissenschaftlerinnen - jedenfalls von Menschen.





Art Power

von Boris Groys

20.08.2024

Art Power besteht aus zwei Teilen, die man am besten mit „Kurator“ und „Kommunismus“ überschreiben könnte. Für mich war der erste Teil tendenziell interessanter, denn politische Zusammenhänge in der (nun ehemaligen) Soviet Union sind für mich nicht so ein spannendes Thema und ich kenne mich auch viel zu wenig aus, um dazu eine Meinung zu haben.

Das gilt jedoch nicht für den ersten Teil, der im Großen und Ganzen zum Thema hat, auf welche Arten „Kunst“ ein soziales Unterfangen darstellt und welche Rollen und Mechanismen zusammenspielen müssen, damit Kunst funktioniert und auch Wirkungsmächtig sein kann. Die zentralen Rollen hierbei sind: Künstlerin, Kuratorin, Galleriebesitzerin, Sammlerin und Kunstkritikerin. Die Mechanismen sind der Kunstmarkt, das Museum, die Ausstellung, die Dokumentation, das Kunstwerk, und die Medien.

Die für diesem Sammelband zusammengestellten Texte sind fast alle zuvor in anderen Kontexten erschienen und es macht daher den Eindruck, als würde dasselbe Gebiet in verschiedenen Spaziergängen durchschritten (um dieses schöne Bild von Wittgenstein zu verwenden). Doch alle Artikel zeichnen das gemeinsame Bild, wie Menschen, Strukturen und Mechanismen zusammenarbeiten müssen, um Kunst zu erzeugen.

Groys akzeptiert die Idee nicht, das Kunstwerke aus dem Genie eines Künstlers heraus erschaffen werden und dadurch ihren Status als Kunstwerk erhalten und deswegen ausgestellt und für viel Geld verkauft werden. Eher sei dies ein komplexes Zusammenspiel von Künstlern, die etwas hervorbringen, Kuratorinnen, die es ausstellen und dadurch zu Kunstwerken machen, Museen die Besucherinnen anlocken, Dokumentationen von performances, Kunstkritikern, die dazu Texte schreiben, die bestimmte Werke für den Kunstmarkt ansehnlich machen, was wiederum Kuratoren dazu bringt, diese mit anderen Werken auf neue Arten zu kombinieren, andere Kunstkritikerinnen antworten mit neuen Texten, und so weiter.

Überhaupt wird vor allem Kuratoren eine gewichtige Rolle in der Frage was denn Kunst sei zugesprochen, denn viel wichtiger als Werke hervorzubringen – ein ready made ist schnell hergestellt – ist es, diese Werke den Besucherinnen und den Kunstkritikern zugänglich zu machen, damit das Werk im Kunstmarkt zirkulieren und so seine Wirkung entfalten kann. In einem Text formuliert Groys es so, dass jedes Kunstwerk „multiple Autoren“ hat – zumindest die Künstlerin und den Kurator (Groys 2013, 93ff). Denn nur ausgestellte Werke können Kunstwerke sein, und das kann der Künstler üblicherweise nicht selber und alleine bewerkstelligen.

Vielleicht ist das der generelle Punkt, der alle Texte des ersten Teils miteinander vereint: wenn es um die Frage geht, wie ein „Kunstwerk“ entsteht, ist es fast gleichgültig, um was es sich dabei handelt - es kann auch ein Pissoir, ein Viereck oder einfach eine Farbe sein. Das haben wir von den Ready-mades gelernt. Wichtig ist, wie es von Menschen mit Diskursmacht aufgenommen wird, und wie sie es in welchen Kunstkontext setzen. Kunstwerke werden dadurch auratisch aufgeladen, dass bestimmte Menschen – Kritiker, Kuratoren, andere Künstler, Museumsbesucher – sie auf bestimmte Weise behandeln und sie dadurch beginnen, ihre Wirkung zu entfalten. In diesem Sinne ähneln sich Kunstwerke und „heilige Gegenstände“ wie Eliade sie beschreibt. Spannend finde ich hier, dass Groys die Aura topologisch erklärt – ausgehend von Walter Benjamin sagt Groys, dass Kunstwerke eine Aura haben, wenn sie einen angestammten, physikalischen Platz haben und man seinen Körper zu ihnen hinbewegen muss, zum Beispiel zu Bildern und Statuen im Museum oder zu Konzerten. Kunstwerke haben keine solche Aura, wenn sie zum Rezipienten kommen, so wie Fotos und Bilder im Internet.

Ich finde es gut, dass Groys daran erinnert, dass Kunst auch eine Sache des Kollektivs ist, ein Vorgang in der Sphäre des politischen, der sehr viel Verhandlung und Zusammenarbeit erfordert. Aber ich glaube, ich will eine andere Art finden, die Situation darzustellen, eine Art, die mehr auf Künstlerin und Werk fokussiert und weniger auf die Umstände, die es dann zu einem Kunst-werk machen. Vielleicht eher ein Fokus auf den Prozess ein Werk hervorzubringen, weniger auf den Prozess dieses dann zu einem Kunstwerk zu machen. Aber wahrscheinlich sagen so etwas alle, die es mit ihren Werken nie in den Kunstmarkt geschafft haben…








Grandhotels, Risotto und Bomben. Geschichte der futuristischen Geräuschkunst

von Mathias Gredig

30.07.2024

Das ist ein ungestümes Buch – im besten Sinn des Wortes. Für mich war der Einstieg allerdings relativ schwer, denn ich besitze keinerlei Hintergrundwissen über die Musiktheorie des Futurismus, über Luigi Russolo (den „Helden“ dieses Buches) oder die Intonarumori (oder auch „Geräuscherzeuger“). Mit irgendeinem Wissen in dieser Hinsicht wäre es sicherlich leichter gewesen, diesem sehr sprunghaften Text zu folgen. Die Kapitel lassen sich vielleicht am besten als „Schlaglichter“ verstehen, die zusammengewürfelt wirkende Aspekte in schneller Abfolge abhandelt und so einen Stroboskopeffekt erzeugen. So geht es um Hotels der 1900er, um den sexuellen Reiz von Kriegsversehrten aus dem ersten Weltkrieg, um Trink-kuren, Hotelorchester, das Lieblings Risottorezept von Verdi, einen Sänger Namens Käsebier, welche Bäume welche Geräusche machen, Anarchismus, und vieles mehr.

Zuerst habe ich mir, wie gesagt, schwergetan, dem schnellen Wechsel der Bilder zu folgen, denn was man im Großen in den Kapiteln sieht, passiert auch im kleinen in den Nebensätzen. Das narrative Gesamtbild war für mich verschwommen, ich konnte keine klare Struktur erkennen (was mich, nebenbei bemerkt, an Vladimir Nabokovs Durchsichtige Dinge erinnert hat). Doch dann dachte ich mir – vielleicht spiegelt der Text auf einer stilistischen Ebene wider, was er auf einer inhaltlichen Ebene beschreibt. Doch worum geht es inhaltlich? Hier ist, was ich verstanden habe.

Um die Jahrhundertwende (zum 20. Jahrhundert) waren (Grand) Hotels die Orte, an denen man die neusten technischen Errungenschaften bestaunen konnte. Diese wurden eingesetzt, um das reiche Publikum anzulocken. Wen sie aber damit auch angelockt haben waren Teile der Bewegung des Futurismus. Besonders für futuristische Klangkünstler gab es hier einiges zu entdecken, nämlich „Orchester in freier Wildbahn“ wenn man so sagen möchte. Denn hier spielten die Orchester nicht in der sie umgebenden Stille eines Konzertsaales sondern quasi als Begleitung für Kuraufenthalte und Essen. Und so war die Orchestermusik umgeben von technischen Errungenschaften in einen Geräuschhintergrund eingebettet, den futuristische Künstler wie Russolo als ein Einheit wahrnahmen: es war nicht Musik gegen Geräusche sondern es waren Musik und Geräusche. Und so entwickelte Russolo die „Geräuscherzeuger“, mit denen man die Geräusche ebenso portabel machen konnte, wie die Musik durch die Instrumente portabel war. So wurden Geräusche zu einem neuen Element in der Musik die man mit musikalischer Darbietung kombinieren konnte aber auch für sich stehen lassen konnte. Doch aus verschiedenen Gründen (musiktheoretischer und explosiver Natur) hat Russolo nach 1921 neue Wege gesucht, Geräusch und Musik zu amalgamieren, beispielsweise in seinem „Geräuschharmonium“ (siehe Gredig 2024, 110ff).

Und warum hat das nun einen Einfluss auf den Schreibstil? Es macht oft den Eindruck, als würden die erzählten Episoden und die darin vorkommenden narrativen Elemente den logischen Verlauf der Ereignisse ignorieren, sie tauchen überraschend im Fluss des Narrativs auf und man versteht nicht gleich, warum sie gerade jetzt, gerade so erscheinen. Aber ist das nicht genau was Geräusche machen, zum Bespiel wenn sie in ein Musikstück hineinplatzen? Ein Musikstück kann mit einem Narrativ verglichen werden, insofern, als sie beide mit der Absicht etwas auszudrücken komponiert worden sind. Geräusche brechen nun von außerhalb der Komposition in diese hinein (zumindest in Musikstücke vor der Vereinigung von Musik und Geräusch). Und so hat auch Gredig Geräusche in seine Komposition integriert – in diesem Fall einzelne, zufällige Aspekte in seinen Narrativ. So gesehen kann man den ganzen Text als ein kleines Kunstwerk deuten, dass versucht, „narrative Struktur“ mit neuen Elementen anzureichern. Oder Gredig mag einfach Schachtelsätze. Oder Steinmarder haben Teile des Manuskriptes gefressen (das ist vielleicht etwas spekulativer).

Ein anderer Punkt, den ich darüber hinaus erkenntnistheoretisch spannend finde ist Gredigs Betonung, dass Klänge keine inhärenten qualitativen Eigenschaften haben.

Die Abstraktheit oder Referenzialität eines Klanges hat nämlich nichts mit dessen materieller Beschaffenheit zu tun, sondern mit der relativen Wahrnehmung und Deutung der Zuhörenden. Denn wie jeder Klang abstrakt erscheinen kann, so kann auch jeder Klang referenziell sein. (Gredig 2024, 80f)

Klänge sind nicht Kraft ihrer Amplitude referenziell-nachahmend oder abstrakt sondern durch den Kontext der Hörerin. Der Kontext erzeugt die Bedeutung eines Klanges – was für den einen das Quaken einer Ente ist, ist für die andere (die noch nie eine Ente gehört hat) eine Autohupe. Ich denke, das ist generell für alle Perzeptionen eine plausible Idee, aber mit Klängen ist es besonders anschaulich.

Diese Beschreibung passt gut zu Richard Rortys antiessentialistischer Idee, dass wir alle physikalischen Gegenstände so verstehen sollten wie Zahlen (das heißt als Dinge ohne „innere Essenz“, ohne „eigentliches Wesen“). Zahlen haben kein intrinsischen, qualitativen Eigenschaften, sondern alle ihre Eigenschaften kommen durch den Kontext zustande, in dem sie verwendet werden, durch die Verbindung zu anderen Zahlen. Und Gredig zeigt uns gleich ein zweites Beispiel, schon Teil der physikalischen Welt und daher viel näher an ausgedehnten Objekten. Jedenfalls wäre die Geschichte der Erkenntnistheorie sehr anders verlaufen, wenn Hörmetaphern anstelle der Sehmetaphern für den Vorgang der Erkenntnis verwendet worden wären.

Aber hier merke ich, dass ich noch nie über „Klänge“ nachgedacht habe, zumindest nicht auf diese Art. Denn was ist eigentlich ein „abstrakter“ Klang? Wäre das ein Klang der nicht referenziell wäre? Aber das ist etwas anderes als zu sagen, dass er nicht nachahmend ist. Und was ist dann der Gegensatz? Wäre ein Zwitschern, das von einem Vogel hervorgebracht wird, abstrakt, aber ein Zwitschern, das durch eine Pfeife hervorgebracht wird, um einen Vogel zu imitieren, nachahmend-referenziell? Letzteres fände ich intuitiv, ersteres jedoch nicht. Fällt hier „abstrakt“ mit „konkret“ zusammen?

Weiter gedacht bricht bei Klängen auch die altbekannte Dichotomie zwischen „natürlich“ und „künstlich“ zusammen. Als „künstlichen Klang“ könnte man sich alles vorstellen, was durch künstlich hervorgebrachte Gegenstände zustande kommt. Aber der Klang selber ist ja nicht künstlich, nur seine Quelle. Das hat aber keinen Einfluss auf die „Qualität“ der Luftverdichtung. Oder sollte es alle Klänge bezeichnen, die absichtsvoll erzeugt werden? Auch hier würde sich die „Künstlichkeit“ wieder auf die Quelle des Klanges beziehen, aber nicht auf den Klang selber.

Anmerkung

Vielleicht, aber dem muss ich noch nachgehen, könnte man auch zum Begriff der "Normalität", den wir bei Malewitsch finden, Ähnlichkeiten erzeugen.

Oder man könnte eine begriffliche Brücke zwischen Klängen und Russells „Sinnesdaten“ schlagen? In diesem Sprachspiel könnte man die Klänge als „Rohmaterial“ deuten, das je nach Kontext anders verwendet werden kann, aber das selber nicht mehr bezweifelt werden kann. „Der böse Dämon kann mich in allem täuschen, aber das es sich für mich wie eine Ente anhört, darin kann er mich nicht täuschen!“

Jedenfalls erschließt mir dieses Buch ein völlig neues, unbekanntes Gebiet, und ich finde es auch sehr spannend, ein wenig über musiktheoretische Hintergründe gelesen zu haben, die Musik beeinflusst hat, die mir gefällt, wie beispielsweise Stahlmusik oder Fugitif. Man könnte sagen, das Buch hat bei mir wie eine Bombe eingeschlagen.




Philosophen sind heute nur mehr Denkbeamte und Begriffsverwalter, und man weiß ja, welche Angst Beamte und Verwalter vor Umsturz und Unordnung haben. Auch haben sie nicht den geringsten Grund, ihre Ansichten zu ändern. Sie loben einander, werden von anderen Beamten (Physikern, Biologen, Soziologen, Nobelpreisträgern und sogar von einigen Romanschriftstellern und Stückeschreibern) gelobt oder kritisiert, also auf jeden Fall beachtet, ihre Bezahlung ist gar nicht schlecht, sie können praktisch tun, was sie wollen (das ist der Inhalt der sogenannten akademischen Freiheit), und ihr Menschenbild paßt genau auf diese Situation und auf die konkreten Manifestationen des Menschseins, denen sie in Hörsälen, Büros, Philosophiekonferenzen, Laboratorien und beim wissenschaftlich-philosophischen Kaffeeklatsch begegnen.

Paul Feyerabend - Erkenntnis für freie Menschen, 157f.

Die Naziliteratur in Amerika

von Roberto Bolaño

25.12.2010

Bolaños Naziliteratur in Amerika. Idee der „Karten-collage“ mit Textfragmenten (S. 96). Könnte ähnlich interpretiert werden, wie Deleuze und Guattari. Neue Metaphern für das, was man „Text“ nennt. Hier sind es Landkarten, die übereinander und aneinander gelegt werden. Dazu Satzfragmente. Wie beim Text geht es bei den Karten vielleicht darum: Eine Ordnung zu erzeugen, die die Welt verstehbar macht.


26.12.2010

Naziliteratur in Amerika ist ein merkwürdiges Buch. In der letzten Geschichte taucht Bolaño selber auf, zumindest sein Name. Auch er selbst ist Teil dieses fiktiven Spiels mit Namen. Man kann sich keinen Reim auf die Bedeutung machen, oder besser: ich kann es nicht, denn ich kenne mich in der Welt der Literatur viel zu wenig aus um alle Anspielungen zu verstehen.

Bolaño, vor allem die Idee, dass die Pläne von Konzentrationslagern mit denen von Städten übereinander gelegt werden (können).

„So etwas hat es vorher und nachher nie wieder gegeben“ halte ich für falsch, man kann eben auch diese Pläne übereinanderlegen. Was daran stimmt: Es gab noch nie etwas, vorher wie nachher, das uns die menschliche Geistlosigkeit und Brutalität geballter vor Augen geführt hat. Aber auch in heutigen Staaten werden berechnend Menschenleben geopfert. „Aber doch nicht derart maschinell!“ - Aber computerisiert und ebenso präzise.

Auch interessant: Das Nazitum der Schriftsteller wird nur sehr indirekt angesprochen, am direktesten vielleicht noch in der Episode mit den Konzentrationslagern die ästhetisiert werden. Die meisten Protagonisten gleichen eher handelsüblichen Verbrechern und begehen auch meist solche handelsüblichen Verbrechen.

Bernhard: Wie man lebt bestimmt, wie man denkt. Ebenso das Wo. Verbinden mit Rortys pragmatistischer These, dass es bei Argumenten wichtig ist, Wer es Wann Wo zu Wem sagt und nicht nur das, was er sagt. Das ist für mich die Essenz von Gehen - er wurde verrückt weil er immer denselben Weg ging und also immer dieselben Gedanken dachte.

grundrisse
Idealstadt von Jean-Jacques Moll,
darüber der Beersheba War Cemetery in Israel

24.07.2024

Nahtlos anknüpfen an Gedanken, die ich vor 14 Jahren aufgeschrieben habe, über ein Buch, dass ich jetzt gerade wieder lese.

Willy Schürholz - den Autor der "Karten-collagen" - finde ich immer noch die spannendste erfundene Persönlichkeit. Darf man Nazi-Literaten eigentlich spannend finden? Auch wenn sie nur erfunden sind? Oder finde ich hier eigentlich Bolaño spannend? Ich tue mir trotz den literarischen Ebenen schwer, Personen positive Eigenschaften zuzusprechen, die mir als Nazis vorgestellt werden. Wobei, wie schon erwähnt, ist ihr Nazitum nur sehr unterschwellig beschrieben. Wo und wann man lebt, bestimmt, wie man denkt. Daher wird die Rezeption dieses Buches für mich sehr anders sein, als für die südamerikanische Welt in 1996 (als dieses Buch erstmals erschien).

Schürholz jedenfalls wird uns als experimentaler Dichter beschrieben. Stellen die ich spannend finde, sind so wie diese:

Die zweite Serie Gedichte, die er in einem Saal in der philologischen Fakultät der Katholischen Universität ausstellt, besteht aus riesigen Lageplänen, die zunächst niemand zu entziffern vermag, mit in sauberer Knabenschrift verfaßten Versen, denen zusätzliche Hinweise über Gebrauch und lokale Zuordnung gegeben werden. Es ist ein einziger Gallimathias. Ein Italianistik-Professor, der sich für das Thema interessiert, meint, es handele sich um Lagepläne der Konzentrationslager Theresienstadt, Mauthausen, Auschwitz, Bergen-Belsen, Buchenwald und Dachau. Der dichterische Event dauert vier Tage (eigentlich war eine Woche vorgesehen), ohne daß ein größeres Publikum überhaupt davon erfährt. Unter denen, die sich ein Bild haben machen können, sind die Ansichten geteilt. Einige vermuten, es handele sich um Kritik am Militärregime; andere, beeinflußt von Schürholzens ehemaligen Freunden aus der Avantgarde, sind davon überzeugt, daß sich dahinter nichts weniger verbirgt als der ernstgemeinte und verbrecherische Vorschlag, die verschwundenen Konzentrationslager in Chile wiederauferstehen zu lassen. Obwohl sich der Skandal in bescheidenen Grenzen hält, verleiht er Schürholz dennoch die finstere Aura des verfemten Dichters, die ihn bis ans Ende seiner Tage umgibt. (Bolaño 2010, 98f)

Ist es wichtig, dass es Karten von Konzentrationslagern sind? Schürholz wächst in einer deutschen Kolonie in Chile auf. Warum nicht die Pläne dieser Kolonie? Oder von Santiago de Chile? Oder von Chile selbst? Vor allem im letzten Fall würde er uns an Jed Martin aus Houellebecqs Karte und Gebiet erinnern.

Es gibt verschiedene Varianten. Pläne kombiniert mit Text, mit Stacheldraht umgrenzte Gebiete mit Text, Pläne von Konzentrationslagern die mit Plänen von Städten übereinandergelegt werden, Pläne von Lagern, die in den Wüstenboden gemeißelt werden.

In ihrer alltäglichen Funktion sind Grundrisse nur insofern hilfreich, als sie ein Modell des Gebäudes oder des Stadtteils liefern. Anders gesagt, insofern man etwas über das Gebäude oder den Stadtteil lernen kann, wenn man sich den Plan ansieht. Dieser Funktion ist der Grundriss oder die Karte als Kunstobjekt enthoben. Was tut so eine Karte aber dann für uns? Oder auch mehrere übereinander?

Was diese in Kunstwerken verwendeten Grundrisse und Sätze jedenfalls gemeinsam haben, ist, dass sie propositionalen Gehalt transportieren. Anders gesagt, die Bedeuten etwas, und dieses "etwas" kann man in Sprache ausdrücken. Ja, aber was? Das ist doch genau die Frage.

Eine Idee (und ich komme immernoch zu Deleuze und Guattari zurück): Die Grundrisse, ihre Kombination und ihre Vermischung mit Sätzen, sind Vorschläge, wie man einen propositionalen Raum kerben könnte. Die Kerbung erschwert die Fortbewegung im physikalischen Raum – vielleicht tut (vorläufige) Unverständlichkeit etwas ähnliches im propositionalen Raum. Man muss innehalten und überlegen, was das Gebilde von einem möchte, man kann nicht einfach von einem Gedanken zum nächsten übergehen, wie in einem glatten propositionalen Raum, in dem man sich auskennt. Dadaisten versuchen, so gesehen, den Raum immer gekerbt zu halten, populäre Literatur versucht, diesen Raum glatt zu halten. Schürholz präsentiert einen für uns gekerbten propositionalen Raum, der für ihn selbst vielleicht glatt erscheint. Vielleicht will er darauf hinaus, dass die Welt seit den Konzentrationslagern unverständlicher geworden ist, dass wir vor ganz neuen Problemen, vor ganz neuer Unverständlichkeit stehen. Dann wäre die "Moral der Geschichte" keine positive, kein Vorschlag, was wir jetzt tun sollen. Eher ist es dann die Erinnerung daran, dass wir nicht zu schnell anfangen sollten, irgendetwas zu tun. Wir werden hier daran erinnert, dass wir innehalten sollten um die Unverständlichkeit anzuerkennen.

Anmerkung

Vielleicht will Lyotard im Widerstreit auf etwas ähnliches hinaus wenn er sagt, dass man im Angesicht eines Widerstreites - und auch bei ihm ist das Setting das des Nationalsozialismus - das notwendig wortlose Schweigen hören muss und nicht durch Worte überdecken darf:

Das Schweigen, das den Satz Auschwitz war ein Vernichtungslager umgibt, ist kein Gemütszustand, sondern ein Zeichen dafür, daß etwas Ungeäußertes, Unbestimmtes zu äußern bleibt. Dieses Zeichen bewirkt eine Verkettung von Sätzen. Die Unbestimmtheit der unabgegoltenen Bedeutungen, die Vernichtung dessen, wodurch sie bestimmt werden könnten, der Schatten der Negation, der die Wirklichkeit bis hin zu ihrer Verflüchtigung aushöhlt, mit einem Wort: das den Opfern zugefügte Unrecht, das sie zum Schweigen verurteilt - all das, und nicht eine Gemütsverfassung, ruft nach unbekannten Sätzen, um den Namen von Auschwitz weiter zu verketten. (Lyotard 1989, §93)

Ansonsten sind die Beschreibungen der verschiedenen Literatinnen sehr unterschiedlich, manche werden nur mit Namen und Werken genannt, andere begleiten wir aus nächster Nähe und einer allwissenden Erzählerperspektive. Es wirkt ein wenig so, als hätte Bolaño hier einige Fragmente, die er schon zuvor als Skizzen angefertigt hatte, verarbeitet.


Hegel: Der Weltphilosoph

von Sebastian Ostritsch

13.07.2024

Alles in allem, würde ich sagen, eine der besseren Einführungen in einen Philosophen, die ich gelesen habe. Ich habe gemerkt, dass es mir sehr hilft, eine Theorie oder Position zu verstehen, wenn ich einen biographischen Kontext bekomme, warum sich welche Philosophin welche Gedanken gemacht hat. Ich sehe dieses Buch daher in einem inhaltlichen wie auch zeitlichen Naheverhältnis zu Fabelhafte Rebellen, auch wenn sich letzteres mehr auf die Personen und ihre Verbindungen konzentriert hat als diese Einführung. Man könnte sagen, beide Bücher beinhalten beide Elemente – die involvierten Menschen und ihre philosophischen Ansichten, wobei Fabelhafte Rebellen den Fokus auf ersteres legt, Hegel auf letzteres.

Mir gefällt in dieser Hinsicht gut, dass zu Beginn Hegels Philosophie mit seinem Schwabentum in Einklang gebracht wird (Ostritsch 2020, 24ff). Das heißt, bestimmte Eigenarten seines Denkens – die Gelassenheit, die Ruhe, die Idee der verbindenden Synthese – wird mit seinem schwäbischen Hintergrund… nun… erklärt? Es wird jedenfalls suggeriert, dass einem Schwaben diese Herangehensweise kulturell sehr nahe liegt. Verallgemeinert: die Kultur, in der man aufgewachsen ist und in der man lebt, beeinflusst die Art, wie Sätze aneinandergehängt werden; in meiner Sprechweise: welche Sprachspiele man lernt, beeinflusst, welche und wie man zukünftig Sprachspiele spielt. Daher mein Vorschlag, zu versuchen, so viele Sprachspiele wie möglich zu erlernen – wer mehr Dinge weiß, kann mehr Dinge tun.

Begriffsarbeit

Ich nehme an, Hegel selber würde sein Tun so beschreiben, dass er die Strukturen des reinen Denkens und der metaphysischen Wirklichkeit erfasst. Bei Ostritsch bin ich mir sicher, dass er dies sagen würde (über Hegel, aber vermutlich auch über sich selber). Ich hingegen sage, dass wir hier ein wunderschönes Beispiel für Begriffsarbeit haben. Bei Hegel können wir ein sehr umfangreiches begriffliches Netz erlernen das uns dann viele Sprachspielzüge ermöglicht. Und wir können dabei zusehen, wie er seine zentralen Begriffe definiert und wie er sie aufeinander bezieht und in Zusammenhang bringt (zum Beispiel „Geist“, „Freiheit“, „absolutes Wissen“, „Religion“, „Kunst“,…). Hegel ist so gesehen wie ein Künstler – er erschafft ein "Begriffswerk" und zeigt uns, wie wir es auch verwenden können, wenn wir wollen.

Anders gesagt, ich denke, es ist nicht hilfreich zu sagen, dass Hegel nun etwas erkannt hat, was bisher allen verborgen geblieben ist (das wäre Philosophie unter dem Paradigma der Wissenschaftlichkeit). Es ist spannender, zu sagen, dass Hegel etwas auf eine Weise beschrieben hat, die bisher noch niemandem eingefallen ist (das ist das Paradigma der Kunst).

Wir können nun Hegels Begriffskunstwerk bestaunen, wir können versuchen es zu erlernen, wir können Teile herausnehmen und woanders einsetzen, aber wir können auch sagen, dass es uns nicht sonderlich anspricht und weiterziehen. An der Stelle ist für mich nur wichtig zu betonen: die Wirklichkeit zwingt uns nicht, einen dieser Wege zu gehen. Zu sagen „Aber Hegel hat erkannt wie die Wirklichkeit (und alles andere) strukturiert ist!“ heißt letztlich nur zu sagen „Ich finde das gut, ich will diese Begriffe übernehmen um mich und meinen Platz in der Welt zu beschreiben!“. Das ist ja auch gut so, aber man sollte nicht versuchen, seine eigene Präferenz mit irgendeiner unabhängigen, unveränderlichen Größe zu rechtfertigen, die uns ihren Willen aufzwingt (sei es Gott, die Welt, die Vernunft oder ähnliches).

Ostritsch Darstellungen von Hegels Philosophie sind in dieser Hinsicht sehr hilfreich, weil sie nur an wenigen Stellen suggerieren, dass Hegel etwas erkannt hat, was allen bisher entgangen ist. Die meiste Zeit bleibt Ostritsch agnostisch den beiden Deutungswegen – hat Hegel etwas erkannt oder hat er etwas erschaffen – gegenüber, und das finde ich sehr erfrischend.

Relativismus & Christentum

Doch hin und wieder gibt es die Stellen, in der Ostritsch durchscheinen lässt, wes Geistes Kind er ist. Wir lesen dann so etwas wie:

Philosophie, so [Schelling und Hegel], gibt es nur im Singular. Die Annahme, der sich manche aus Bequemlichkeit hingeben, es gebe verschiedene und gleichermaßen wahre Philosophien, ist für Hegel und Schelling schlicht Nonsens: “Daß die Philosophie nur eine ist und nur eine sein kann, beruht darauf, daß die Vernunft nur eine ist.” Andernfalls könnte man ja auch gleich von “verschiedenen Vernunften” sprechen! Was für Hegel und Schelling noch als Absurditätsbeleg gilt, scheint heute, nach Jahrzehnten des postmodernen Diskurses, für viele eine Selbstverständlichkeit: Vernunft ist selbst etwas Plurales und der Gedanke von der einen universalen Vernunft ist nur Ausdruck eines unreflektierten “Eurozentrismus”. Von Hegel können wir lernen, dass ein solcher Vernunftrelativismus nicht zu halten ist. Denn wer eine ernst gemeinte Kritik am vermeintlichen Eurozentrismus der einen Vernunft vorbringt, der muss sich fragen lassen, von welcher Warte aus er diese Kritik artikuliert. Um eine Kritik, die auch für Europäer verbindlich ist, kann es sich nur handeln, wenn sie mit einem Anspruch auf überparteiliche Wahrheit auftritt. Philosophische Wahrheit kann es also nur im Singular geben, das beweisen gerade ihre Kritiker. Sie ausfindig zu machen ist dementsprechend die Aufgabe der einen Vernunft. (Ostritsch 2020, 80f)

Spannend finde ich, dass hier, wenn Ostritsch gegen den Relativismus wettert, man auf einmal Worte wie „beweisen“ und „unhaltbar“ findet. Da geht es für Ostritsch wohl ans Eingemachte, hier hört sich der philosophische Spaß auf. Ich nehme an, das hängt mit einem Aspekt zusammen, den man sehr prominent auf Ostritschs Homepage findet, nämlich, seinem Glauben als "bekennender Katholik". Die letzten großen Absolutisten sind – und das ist nur stringent – richtig gläubige Menschen. Nur jemand, der einen absoluten Gott auf seiner Seite wähnt wird durch den sogenannten „Relativismus“ so aus der Fassung gebracht, dass alle rhetorischen Register gezogen werden müssen, um „den Relativismus“ mit einer herabwürdigenden Geste vom Tisch des philosophischen Gespräches zu verbannen.

Das Herz der Sache haben wir hier vor uns: „Denn wer eine ernst gemeinte Kritik am vermeintlichen Eurozentrismus der einen Vernunft vorbringt, der muss sich fragen lassen, von welcher Warte aus er diese Kritik artikuliert.“

Ich würde sagen, es handelt sich hier um das aufeinandertreffen zweier Sprachspiele, die in einen Widerstreit geraten sind. Man kritisiert das Sprachspiel des deutschen Idealismus (oder ein anderes Sprachspiel, dass diese Verwendung von „Vernunft“ inkludiert) von einem anderen Sprachspiel aus, in dem „Vernunft“ nach anderen Regeln funktioniert. Ostritsch würde an dieser Stelle aber sagen: das andere Sprachspiel ist falsch, alle müssen das Sprachspiel spielen, das ich spiele. Das kann er ruhig glauben, vielleicht ist es auch ein anerkannter Zug in seinem Sprachspiel, aber es betrifft Menschen außerhalb seines Sprachspiels nicht. Diese Situation tritt quasi in jeder „Widerlegung des Relativismus“ auf – der Widerstreit wird dadurch aufgelöst, dass man alle Gesprächsbeiträge von der Warte des eigenen Sprachspiels aus bewertet und erklärt, es gibt kein außerhalb des eigenen Sprachspiels. Leider ein wenig interessanter Spielzug. Aber manches mal wird ein Widerstreit einfach mit einem Schulterzucken bedacht, und man wendet sich wieder interessanteren Dingen zu.

Wir sehen dann auch später, wie Ostritsch diese Methode der Verabsolutierung des bevorzugten Sprachspiels relativ offen anwendet, wenn er darüber nachdenkt, ob Hegel dem ethischen Relativismus schutzlos ausgeliefert sei:

Die Frage ist also: Kann Hegel den ethischen Relativismus vermeiden? Die Antwort lautet erfreulicherweise: Ja. Denn Hegel hat ein handfestes Kriterium für das wahrhaft Sittliche: die menschliche Freiheit. (Ostritsch 2020, 232)

Wie wir bis dahin mehrmals gelesen haben, ist der Begriff der Freiheit für Hegel an vielen Stellen zentral und geht auch für ihn in Richtung Selbstgesetzgebung. Damit steht Hegel klar in einer bestimmten europäischen Tradition. Was für Ostritsch nun also den ethischen Relativismus blockiert ist ein anderer Begriff, den Hegel (zumindest in genau dieser Bedeutung wie hier benutzt) erfunden hat. Natürlich, wenn man denkt, dass Hegel die metaphysischen Grundfesten der Wirklichkeit erkannt hat, dann ist das so absolut wie es werden kann. Alle anderen können immernoch Hegels Stringenz bewundern, wenn er versucht, seine Begriffe aufeinander zu beziehen. Ich gehöre defintiv zur zweiten Gruppe, aber vor dem Relativismus habe ich an dieser Stelle keine Angst.




Notizzettel. Denken und Schreiben im 21. Jahrhundert

von Hektor Haarkötter

06.07.2024

Wenn man dieses mit 550 Seiten doch recht umfangreiche Buch zusammenfassen möchte, dann würde ich sagen, dass Haarkötter versucht, die „Notiz“ als ein eigenständiges Medium zu definieren, das nach eigenen medientheoretischen Regeln funktioniert und das sich in seiner Funktion von allen anderen Medien (zum Beispiel Brief, Tagebuch, Buch, Zettel,…) unterscheidet.

Ich nehme an, Haarkötter selber würde diese Beschreibung zumindest seltsam finden. Warum stelle ich die Situation also derart dar? In der analytischen Erkenntnistheorie gibt es Diskussionen darum, was alles als eigenständige Quellen von Wissens gelten kann, die sich von anderen Quellen unterscheidet. Wahrnehmung wird hier oft genannt, auch Erinnerung und logisches Schließen. Aber da endet die Einhelligkeit auch schon. Sind Intuitionen eine eigenständige Wissensquelle? Oder sind sie reduzierbar auf Wahrnehmung zusammen mit logischem Schluss? Wie steht es um Wissen durch Kommunikation (auch „Zeugnis“ genannt)? Eigene Quelle oder reduzierbar auf Wahrnehmung, logisches Schließen und Erinnerung? Reduktionisten behaupten genau das. Nicht-Reduktionisten sagen, dass Zeugnis nach eigenen Prinzipien funktioniert, die nicht auf andere Wissensquellen reduzierbar sind und verwiesen auf die besondere Rolle die das Verstehen von propositionalem Gehalt spielt oder das nötige Vertrauen in andere Menschen.

Ich denke, um den philosophischen Gehalt des Buches am besten zu erfassen, ist das eine gute Vorlage. Um es zu wiederholen, in meiner Formulierung lautet er: Notizen sind ein eigenes Medium und als solches in ihrem Funktionieren nicht reduzierbar auf andere Medien. Doch dafür muss die Notiz über ein besonderes Set von Regeln und Eigenschaften verfügen, die diese Irreduzibilität plausibel machen. Was sagt uns Haarkötter dazu? Was zeichnet Notizen als Medium aus?

1. Worüber reden wir?

Bisher habe ich von „Notiz“ geredet, das Buch trägt aber den Titel „Notizzettel“ – welchen Unterschied macht das? Für die Plausibilität der These macht es einen erheblichen, würde ich sagen. Denn das Buch selbst handelt zu großen Teil von Notizen, die nicht in der Form von Zetteln angefertigt oder überliefert sind. Da geht es um Bücher (Notizbücher, Tagebücher, Sudelbücher,…) , um Haus- oder Zellenwände, um Sprachnachrichten, um Holzdielen und - zu einem kleinen Teil - auch um Zettel.

Wenn wir die These also auf die physische Form des Zettels fokussieren würden, wäre ein großer Teil des Buches unnötig und wir würden viele spannende Aspekte verlieren, die Haarkötter erklärt, die sich aber nicht auf Zetteln wiederfinden. Auch müssten wir Sprachnotizen nicht so seltsam kurz und abwertend abfrühstücken, wie Haarkötter es tut.

Ich werde also auf das Medium (oder ist es vielleicht besser ein „Genre“?) der Notiz fokussieren, und mich nicht darum kümmern, auf welchem physikalischen Träger diese Notiz zu finden ist. Haarkötter könnte nun einwenden, dadurch verliere ich den wichtigen Aspekt der „Materialität der Notizen“ aber ich muss sagen, wie oft, wenn jemand die „Materialität von Etwas“ betont, sehe ich hier den philosophischen Mehrwert davon nicht. Und auch Haarkötters eigene Definition macht an keiner Stelle Gebrauch von dieser Materialität.

2. Unkommunikative Medien

Die zentrale These ist, dass Notizen ein „unkommunikatives Medium“ darstellen. Was bedeutet das?

Wer etwas notiert, tut dies in erster Linie für sich selbst und teilt nicht anderen etwas mit. Wie ich im Laufe dieser Untersuchung an vielen Beispielen zeigen werde, ist der Notizzettel - und das ist auch die erste Hypothese dieses Buchs - ein unkommunikatives Medium. Der Medienpsychologe Paul Watzlawick hat mit einer berühmten und vielzitierten Formulierung einmal behauptet, niemand könne bestreiten, dass man nicht nicht kommunizieren könne. Nun, ich bin dieser Niemand. Ich leugne es geradezu. Wenn wir uns die lange und verzettelte Geschichte des Notierens intensiver ansehen, werden wir zu dem Ergebnis kommen, dass das Notieren die primäre und elementare Form des Schreibens ist, der Notizzettel ist mit- hin das primäre Medium oder auch Protomedium. Und was ich mit dieser Studie weiterhin belegen möchte, ist, dass man sogar medial nicht kommunizieren kann, also auch bei und trotz der Verwendung eines technischen Mediums nichts mitteilt. Dass dies mitunter auch vorkommt und Medien hin und wieder etwas mitzuteilen haben, erscheint angesichts der langen und wechselvollen, multikulturellen und multimodalen Geschichte des Notizzettels als die Ausnahme, aber nicht als die Regel. Kurz: Medien sind nicht zum Kommunizieren da. (Haarköttter 2021, 14)

Mir scheint diese These, die von „Notizen“ zu „Medien“ verallgemeinert, überzogen, auch wenn sie einen für mich sehr nachvollziehbaren Kern hat (der sich aber als Hauptidee eines derart umfangreichen Buches weit weniger reißerisch ausnimmt). Ich werde mich dieser Verallgemeinerung auch im Folgenden nicht anschließen, weil sie das ganze Buch und viele seiner spannenden Ideen verwässert. Ich werde also nicht sagen, dass „Medien nicht zum kommunizieren da sind“ und auch nicht, das „Medien zum Vergessen da sind“, sondern mich auf „Notiz“ beschränken.

Man kann sagen, dass für Haarkötter der Autor noch nicht tot ist, denn er verlässt sich sehr stark auf dessen Intentionen (ein argumentativer Zug, der mich skeptisch macht). Notizen sind nicht kommunikativ, weil es nicht die Intention des Schreibers war, etwas an andere zu kommunizieren. Nichts desto weniger können wir sehr viel erfahren, wenn wir Leonardo da Vincis oder Wittgensteins Notizen lesen. Mir scheinen sich an dieser Stelle Kommunikationstheorie und Erkenntnistheorie ins intuitive Gehege zu kommen.

Ja, man kann Dinge aufschreiben, ohne der Absicht, dass andere außer ich selbst es lesen. Aber, wie Jennifer Lackey uns gezeigt hat, können wir als Rezipienten nichts desto weniger viel lernen, wenn wir solche Notizen lesen, ganz abgesehen davon, was die schreibende Person intendiert hat. Lackey nennt diesen Vorgang in ihrem Buch Learning from Words „hearer testimony“ im Gegensatz zu „speaker testimony“. Der zweite Fall deckt ziemlich das ab, was Haarkötter eine Kommunikationsabsicht nennt. Eine Sprecherin möchte einen propositionalen Gehalt an einen oder mehrere Hörer übergeben. Aber auch der umgekehrte Fall ist möglich, dass jemand gar keine Übertragungsabsicht hat, aber der propositionale Gehalt der Nachricht nichtsdestoweniger von anderen aufgenommen werden kann. Das ist der Fall weil Sprache nach allen im Prinzip zugänglichen Regeln funktioniert und dadurch propositionale Bedeutung generiert. Um den Fall von hearer testimony bei Notizen auszuschalten wäre es also nötig, dass es eine Sprache gibt, in der die Notiz verfasst ist, die von unbeteiligten nicht verstanden werden kann. Aber – ist es nicht genau das, was Wittgenstein eine „Privatsprache“ nennt?

3. Ist eine „Privatschrift“ möglich?

Die Chancen, dass die Idee einer Privatsprache plausibel gemacht werden kann, stehen – sagen wir es vorsichtig – nicht sehr gut. Haarkötters Idee ist, dass man Wittgensteins „Sprachspiele“ in Sprach- und Schreibspiele aufteilen sollte, und dass im Bereich der Schreibspiele sehr wohl das möglich ist, was man „Privatsprache“ genannt hat. Das sei so, weil Schreiben hinreichend anders funktioniert als Sprechen, weil Schreiben eben nicht primär auf das Übermitteln von propositionalem Gehalt an andere ausgerichtet sei. Schon in dieser ersten Trennung zeigt sich, dass Haarkötter die Radikalität von Wittgensteins Überlegungen entweder ignoriert oder nicht erfasst.

Eine Privatsprache soll ein Umgang mit propositionalem Gehalt sein, dessen Code (um Derridas Formulierung zu verwenden) anderen sprachlichen Wesen im Prinzip nicht zugänglich ist. Anders gesagt, ein Sprachspiel, dessen Regeln für andere sprachliche Wesen im Prinzip nicht nachvollziehbar sind. Hier geht es nicht darum, dass man versucht, seine Äußerungen durch Verschlüsslung vor unliebsamen Zugriff zu schützen, sondern darum, ein Set von im Prinzip unzugänglichen Regeln zu entwerfen.

Haarkötter überliest aber leider ebenjenes „im Prinzip“ des Privatsprachenarguments, er denkt diesen Gedanken philosophisch nicht radikal zu Ende. Wie wir bei Davidson in On the very Idea of a Conceptual Scheme und Rorty in The World Well Lost sehen können, würden wir nämlich eine derartige Privatsprache – deren Regeln für andere im Prinzip unzugänglich sind – nicht einmal mehr als Sprache (oder als Schrift) erkennen können. Wir wüssten nicht einmal mehr, dass es sich dabei um den Versuch handelt, das im privaten zu tun, was man normalerweise öffentlich tut.

Anmerkung

Für die Anhänger der von Quine ausgehenden Idee der radical translation ist daher Übersetzbarkeit eine Eigenschaft von Sprachlichkeit. Wenn man etwas nicht in eine andere Sprache übersetzen kann, dann handelt es sich bei diesem "etwas" nicht um eine Sprache.

Eine schöne Veranschaulichung der Radikalität dieses Gedankens findet sich in Stanislaw Lems Die Stimme des Herrn. Hier empfängt die Menschheit einen „pulsierenden Ionenstrahl“ aus dem All, dessen Ursprung nicht klar ist. Das Buch handelt davon, wie die Menschheit versucht, herauszufinden, ob er außerirdischen Ursprungs ist oder ob der auf natürlichem Wege zustanden gekommen ist. Der Punkt ist – ohne die Regeln der Übersetzung zu kennen, können wir das nicht unterscheiden und wir wissen nicht, was wir mit diesem Vorkommnis tun sollen. Dem gegenüber erkennen wir in der Linear B sofort eine Kette von absichtsvoll aneinandergereihten Schriftzeichen – wir kennen hier nur den Code einfach noch nicht. Aber er ist und im Prinzip zugänglich, wenn auch jetzt gerade noch nicht.

Wir sehen also, dass die Radikalität des Wittgenstein‘schen Gedankens einsetzt, bevor alle möglichen Argumente Haarkötters (beispielsweise die Trennung von Sprach- und Schreibspiel) überhaupt Fahrt aufnehmen können. Wenn es eine „Privatschrift“ gäbe – wir würden sie nicht als Schrift erkennen können. Aber dasselbe gilt für eine Privatsprache, weil das Problem an die Übermittlung von propositionalen Gehalt gebunden ist, egal ob gesprochen oder geschrieben.

Für Haarkötter scheint es schon auszureichen, dass die Schreiberin ihre Notizen mit allerhand Idiosynkrasien versieht, oder mit einer Verschlüsselung zu schützen versucht. Aber beides ist im Prinzip erlernbar (muss es sein), und damit keine Privatsprache. Und damit ist keine Notiz – so es sich denn um eine Notiz handelt - dem Zugriff durch Andere entzogen.

4. Extended mind maybe?

Wir sehen also, dass es – so wie die Dinge nach der Lektüre dieses Buches liegen – nicht sehr plausibel ist, anzunehmen, dass Notizen eine eigene, unreduzierbare Art von Medium darstellen. Dies ist der Fall, weil wir keine Eigenschaften ausmachen können, die es plausibel machen, so eine Abgrenzung vorzunehmen. Die „Unkomminkativität“ wäre eine solche Eigenschaft, aber wir können sie leider nicht gewinnbringend einsetzen. Dass Notizen dazu da sind, das menschliche vergesse nzu unterstützen, weil man sich nicht merken muss, was man notiert, wäre eine andere solche Eigenschaft. Aber wie jede Autorin eines philosophischen Textes leidvoll erfahren muss, finden wir auch dieses Phänomen außerhalb von Notizen.

Was von alldem sicher plausible ist: ja, manche Notizen verfasst man nur für einen selbst. Andere allerdings nicht, und alle Notizen sind dem prinzipiellen Zugriff durch andere ausgeliefert. Und manche Dinge, sie man sich aufschreibt vergisst man, andere merkt man sich.

Ein weiterer möglicher Weg scheint auch von Haarkötter gesehen worden zu sein, nämlich die extended mind hypothesis zu akzeptieren. Dann würden wir sagen, dass Notizen externalisiertes Denken ist, da sich die geschriebenen Notizen gleich verhalten wie erinnerte Gedanken. So könnten wir die initiale Idee des „unkommunikativen Mediums“ plausibilisieren, denn Gedanken sind nicht zwangsläufig für Kommunikation mit anderen gemacht (sondern nur dann, wenn wir sie in Worte fassen). Teile unseres Denkens sind tatsächlich nur für die denkende Person selbst bestimmt.

Jedoch verlieren wir hier den anderen Aspekt, jenen des „Mediums“. Denn wenn man die extended mind hypothesis akzeptiert, dann hören Notizen auf ein eigenständiges Medium zu sein, denn Notizen sind dann laut dem parity principle begrifflich letztlich dasselbe wie Denken.

Anmerkung

Hier die originale Formulierung: "Parity Principle. If, as we confront some task, a part of the world functions as a process which, were it to go on in the head, we would have no hesitation in accepting as part of the cognitive process, then that part of the world is (for that time) part of the cognitive process."" (Clark and Chalmers 1998, 8)

Haarkötter scheint mit diesem Gedanken gespielt zu haben, denn er selber erwähnt die Möglichkeiten der extended mind hypothesis (vgl. Haarkötter 2021, 101ff) lässt diese Spur aber ohne Konklusion im Sand verlaufen. Wahrscheinlich ist ihm die Idee eines extended mind dann doch zu wild.

5. Zusammenfassend

Ich sehe also nicht, inwiefern die Notiz in einem philosophisch gehaltvollem Sinn ein eigenes Medium wäre. Und Ich würde auch sagen, dass philosophische Betrachtungen nicht die Stärke des Buches sind. Die besten Momente hat das Buch, wenn Haarkötter faszinierende Praktiken des Notierens und der Kurzmitteilung in verschiedenen Medien nachzeichnet, die historisch stattgefunden haben.

Auch das name dropping fand ich mitunter anstrengend. Denn es wird nicht eine Person zitiert, und dann mit ihren theoretischen Werkzeugen etwas gebastelt sondern es gibt zahllose Stellen der Form „Person S hat dieses von mir beschriebene Phänomen x genannt“. Der Eindruck, der zurückbleibt ist dann „Schaut her, was ich alles gelesen habe!“. Hier wäre weniger mehr gewesen, auch wenn ich die prinzipielle Idee, die eigene Arbeit in einen größeren Kontext und ein Gespräch mit anderen einzubetten sehr gut finde. Aber man sollte das Gespräch dann eben auch führen, und die Namen anderer nicht nur zur Randnotiz verkommen lassen.




Ereignisse

von Thomas Bernhard

07.06.2024

Bei „Ereignisse“ denkt man als alter Poststrukturalist natürlich an den Einbruch des Unmöglichen in die Struktur, die unser Leben darstellt. Die Auferstehung Jesu, wenn man Alain Badiou glaubt, die Freundschaft, wenn man Jacques Derrida glaubt, die Freiheit, wenn man mir glaubt (sehr bescheiden von mir). Aber hier, bei den Bernhard’schen Ereignissen ist gerade das Gegenteil der Fall. Die meisten Geschichten handeln von sehr möglichen Dingen, von sexuellem Verkehr, Ehebruch, Verrücktheit, Krankheit und Tod. Alles normal, alles wie immer, möchte man sagen.

Aber alles vergleichsweise unüblich für Bernhard, kurze Sätze, keine Beleidigungen, kein ewiges dahinmäandern. Irgendwas fehlt mir.

Die Stimmung dieses Teils

Eines Abends erscheint sie nicht zum Nachtmahl, das in der Küche des Pfarrhofs eingenommen wird. Sie wird gesucht. Niemand findet sie. Erst am nächsten Morgen entdecken die Schulkinder sie eingefroren in die große Eisfläche hinter dem Brauhaus. Ihr geöffneter Mund ist größer als ihr Gesicht. Um den Hals trägt sie, wie immer, einen gestärkten Spitzenkragen. Ihre Arme sind ausgebreitet. Das Wasser ist rasch gefroren. (Bernhard 2001, 18f)

erinnert mich an das Gedicht Grodek von Georg Trakl

Am Abend tönen die herbstlichen Wälder
Von tödlichen Waffen, die goldnen Ebenen
Und blauen Seen, darüber die Sonne
Düstrer hinrollt; umfängt die Nacht
Sterbende Krieger, die wilde Klage
Ihrer zerbrochenen Münder.
Doch stille sammelt im Weidengrund
Rotes Gewölk, darin ein zürnender Gott wohnt
Das vergossne Blut sich, mondne Kühle;
Alle Straßen münden in schwarze Verwesung.
Unter goldnem Gezweig der Nacht und Sternen
Es schwankt der Schwester Schatten durch den schweigenden Hain,
Zu grüßen die Geister der Helden, die blutenden Häupter;
Und leise tönen im Rohr die dunkeln Flöten des Herbstes.
O stolzere Trauer! ihr ehernen Altäre
Die heiße Flamme des Geistes nährt heute ein gewaltiger Schmerz,
Die ungebornen Enkel.













Ja, aber ist das Kunst? Die alte, bis zur Ermüdung wiederholte Frage, wenn irgendwo Ziegelsteine verlegt oder Betten zerwühlt werden und Lämpchen an- und ausgehen Der Künstler stellt sich stur: “Das ist Kunst, weil ich ein Künstler bin und daher alles, was ich mache, Kunst ist." Der Galerist verfällt in ein Asthetikblabla, das die üblichen Lümmel und Schlingel von der Presse entweder nachplappern oder über das sie sich lustig machen. Wir sollten dem Künstler nie widersprechen, egal, was wir von dem Werk halten. Kunst ist kein Tempel, kann kein Tempel sein, aus dem die Unfähigen, die Scharlatane, die Opportunisten und Publicitysüchtigen ausgeschlossen sind; Kunst gleicht eher einem Flüchtlingslager, in dem die meisten mit einem Plastikkanister in der Hand nach Wasser anstehen. Doch wenn wir wieder einmal vor einer Video-Endlosschleife mit einem winzigen Ausschnitt aus dem höchst unbedeutenden Leben des Künstlers oder vor einer Wand mit einer Collage banaler Fotos stehen, können wir durchaus sagen: “Ja, natürlich ist das Kunst und natürlich sind Sie ein Künstler und haben gewiss ganz ernsthafte Anliegen. Es ist nur so, dass das alles nicht viel Niveau hat: Versuchen Sie doch mal, dem Ganzen mehr gedankliche Tiefe, Originalität, handwerkliches Können, Fantasie zu geben - kurz gesagt, machen sie es interessanter.” Der große Short-Story-Autor John Cheever hat einmal gesagt, die erste Pflicht der Ästhetik sei, interessant zu sein.

Julian Barnes - Kunst sehen, 422

Aus Gesprächen mit Thomas Bernhard.

von Thomas Bernhard & Kurt Hofmann

25.05.2024

Die hier dargebotenen Gespräche mit Thomas Bernhard – es sind keine Interviews im herkömmlichen Sinne, da keine andere Stimme zu Wort kommt – haben mir wieder sehr viel Freude bereitet und meinen inneren Wiener glücklich gemacht. Die vielfältigen Darstellungen, wer nicht aller blöd ist, was unmöglich ist und wie schrecklich alles ist, konnte ich gut nachvollziehen (ich teile mir mit Bernhard oft ein Erleben). Schön ist es, dass es in diesem Fall die Tonspuren ergänzend gibt.

Was ich allerdings nicht nachvollziehen kann, ist, dass solche Aussagen Bernhards zu Skandalen geführt haben. Wie können sich Menschen nur so ernst nehmen, sich von derart literarisch überspitzten Tiraden persönlich attackiert zu fühlen? Selbst wenn einige Persönlichkeiten namentlich erwähnt werden – die Bernhard’schen Aussagen sind derart überzeichnet, dass es mir schwer fällt, sie mit echten Menschen in Verbindung zu bringen. Es ist ein wenig so, als wäre ich beleidigt, wenn in einem Buch oder Film ein Mensch meines Namens als dumm dargestellt würde. (Ich würde im übrigen sagen, das moderne Äquivalent zu dieser Streits unter Literaten ist, wenn Influencer oder Rapper „beef“ miteinander haben).

Ich habe auch dieses Buch an einem offenen Bücherschrank mitgenommen und auf den letzten Seiten etwas sehr spannendes entdeckt, das nicht mit dem Inhalt direkt zusammenhängt. Der Vorbesitzer – oder die Vorbesitzerin – war wohl mit dem Herausgeber bekannt und hat einige Anekdoten festgehalten:




93. Die Sätze, die darstellen, was Moore »weiß«, sind alle solcher Art, daß man sich schwer vorstellen kann, warum Einer das Gegenteil glauben sollte. Z. B. der Satz, daß Moore sein ganzes Leben in geringer Entfernung von der Erde verbracht hat. – Wieder kann ich hier von mir selber statt von Moore reden. Was könnte mich dazu bringen, das Gegenteil davon zu glauben? Entweder eine Erinnerung, oder daß es mir gesagt wurde. – Alles, was ich gesehen oder gehört habe, macht mich der Überzeugung, daß kein Mensch sich je weit von der Erde entfernt hat. Nichts spricht in meinem Weltbild für das Gegenteil.

94. Aber mein Weltbild habe ich nicht, weil ich mich von seiner Richtigkeit überzeugt habe; auch nicht, weil ich von seiner Richtigkeit überzeugt bin. Sondern es ist der überkommene Hintergrund, auf welchem ich zwischen wahr und falsch unterscheide.

95. Die Sätze, die dies Weltbild beschreiben, könnten zu einer Art Mythologie gehören. Und ihre Rolle ist ähnlich der von Spielregeln, und das Spiel kann man auch rein praktisch, ohne ausgesprochene Regeln, lernen.

96. Man könnte sich vorstellen, daß gewisse Sätze von der Form der Erfahrungssätze erstarrt wären und als Leitung für die nicht erstarrten, flüssigen Erfahrungssätze funktionierten; und daß sich dies Verhältnis mit der Zeit änderte, indem flüssige Sätze erstarrten und feste flüssig würden.

97. Die Mythologie kann wieder in Fluß geraten, das Flußbett der Gedanken sich verschieben. Aber ich unterscheide zwischen der Bewegung des Wassers im Flußbett und der Verschiebung dieses; obwohl es eine scharfe Trennung der beiden nicht gibt.

98. Wenn aber Einer sagte »Also ist auch die Logik eine Erfahrungs- wissenschaft«, so hätte er unrecht. Aber dies ist richtig, daß der gleiche Satz einmal als von der Erfahrung zu prüfen, einmal als Regel der Prüfung behandelt werden kann.

99. Ja, das Ufer jenes Flusses besteht zum Teil aus hartem Gestein, das keiner oder einer unmerkbaren Änderung unterliegt, und teils aus Sand, der bald hier, bald dort weg- und angeschwemmt wird.

(Wittgenstein – Über Gewißheit)
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Die Erde ist nah. Die Marsexpedition.

von Luděk Pešek

24.05.2024

Dieses Buch hat mich sehr überrascht, da es inhaltlich einen doch sehr anderen Verlauf genommen hat, als ich erwartet habe. Wenn ich mich an die Lektüre erinnere, dann tauchen Bilder von Staub, Enge, Beklemmung und Verlorenheit in mir auf. Die Erde ist nah beschreibt die erste bemannte Marsmission der Menschheit aus der Sicht eines Psychologen, der sich an Bord um die geistige Gesundheit kümmern soll und dabei bald an die eigenen Grenzen wie auch an die Grenzen seiner Crewmitglieder stößt.

Anders als in anderen Werken der Science Fiction, die davon handeln, dass der Mensch das Weltall erobert, hat die vorliegende Beschreibung wenig heldenhaftes an sich. Eher wundert man sich, dass Menschen tatsächlich bereit sind, all diese Strapazen auf sich zu nehmen für… ja wofür eigentlich? Die Geschichte hat mich daran erinnert, was Feyerabend in Erkenntnis für freie Menschen über den Versuch, den Mond zu erreichen, gesagt hat:

Aber ein Mystiker, der durch eigene Kraft seinen Leib verlassen und Gott selbst gegenübertreten kann, wird kaum davon beeindruckt sein, daß es zwei sorgfältig eingewickelten und nicht besonders gescheiten Menschenkindern mit der Unterstützung von Tausenden von wissenschaftlichen Sklaven und Milliarden von Dollars gelang, einige unbeholfene Sprünge auf einem trockenen Stein auszuführen – dem Mond –, und er wird die Abnahme und fast völlige Zerstörung der spirituellen Fähigkeiten der Menschen bedauern, die ein Ergebnis des wissenschaftlich-materialistischen Klimas unserer Zeiten sind. (Feyerabend 1980, 75).

Mystiker trifft man in diesem Buch allerdings keine. Die eher wissenschaftlich interessierten Mitglieder der Reise wollen Spuren von früherem Leben auf dem Mars mit eigenen Augen sehen. Andere wollen vielleicht einfach wohin vorstoßen, wo noch nie zuvor ein Mensch gewesen ist. So gesehen könnte der ganze Roman ohne den Verlust der „Moral der Geschichte“ auch im 16. Jahrhundert unter Seefahrern spielen. Ich denke, dabei würden dieselben Probleme beschrieben: die unendlich lange Zeit, in der nichts passiert, die Enge, die ständige Gefahr durch eine äußerst menschenfeindliche Umgebung, die Hoffnung, etwas denkwürdiges zu erreichen. Nur mit mehr Wasser und weniger Vakuum und Staub. So gesehen hat es mich an Edgar Allen Poes Roman The Narrative of Arthur Gordon Pym of Nantucket erinnert (wobei Poe mystischer endet).

In anderer Hinsicht hat es mich an Stanislaw Lems Der Unbesiegbare erinnert. Wo Pešek sich mit Poe die Abenteuerlust und den Aufbruch ins Unbekannte teilt, teilt er sich mit Lem die Beschreibung der menschlichen Hybris im Angesicht eines unendlich großen Raumes, der für den Menschen äußerst Lebensfeindlich ist. Nach Poes Roman kann man Abenteuerlust und ein wenig Schauern verspüren, nach Pešek und Lem jedoch verspüre ich nur das Gefühl der Sinnlosigkeit allen menschlichen Strebens im Angesicht der unendlichen Weiten. Aber dann denke ich: vielleicht sind die unendlichen, räumlichen Weiten gar nicht der Platz, an dem die relevanten Kämpfe ausgetragen werden:

Wenn diese Fahrt in den Weltraum zu nichts anderem dienen sollte als zur Befriedigung einiger Ingenieursträume auf dem Planeten Erde, dann war sie sinnlos. Was kümmert einen gewöhnlichen Menschen der Mars? Solange die Menschheit lebt, ist er ein unbedeutender Funke am nächtlichen Firmament. Was kümmern den Menschen heroische Eroberungen unbewohnter, öder Planeten, wenn er überlegen muß, wie er die wenigen Quadratmeter seiner Wohnung bezahlen und sich selbst und seine Kinder ernähren soll? Wenn unsere Fahrt einen Sinn haben sollte, dann mußten wir ihn im Kampf suchen, den wir jetzt in den Tiefen des eigenen, inneren Kosmos ausfochten. Dort lag die Grenze, die wir verschieben mußten. (Pešek 1979, 38)




Athenaeum I. Eine Zeitschrift 1798 - 1800.

von August Wilhelm und Friedrich Schlegel

20.05.2024

Über Zufälle

Ich hatte gerade begonnen, Andrea Wulfs Fabelhafte Rebellen zu lesen, das vom Beginn der Epoche der Romantik handelt, als ich in einem offenen Bücherschrank dieses Buch fand. Der Titel hat mich angesprochen, aber er sagte mir nichts und ich wusste nicht, dass es sich dabei um eine Zeitschrift handelt. Aber auf dem Umschlag stand etwas von “Fragmenten” und “Philosophie”. Und es stand auf dem Deckblatt, dass Friedrich Schlegel daran beteiligt war, dessen Namen ich aus meinem Studium wiedererkannte. Sein Bruder war mir zu diesem Zeitpunkt allerdings noch kein Begriff.

Jedenfalls wollte ich zuerst Fabelhafte Rebellen zu Ende lesen, und siehe da, ich stieß hier auf eben diese Zeitschrift, die die Schlegels scheinbar als Antwort auf Friedrich Schillers Horen gegründet hatten (die ich ebenfalls nicht kannte).

Man kann das Ganze natürlich für einen Zufall halten. Und ja, dass gerade zu diesem Zeitpunkt jemand dieses Buch in einen der offenen Bücherschränke gestellt hat, ist ein Zufall. Aber dass es mir auffiel und dass ich es mitnahm, ist kein Zufall, sondern drückt meine intellektuellen Interessen aus. Ich spreche auf eine bestimmte Aufmachung von Büchern an, auf bestimmte Verlage und bestimmte Worte auf dem Titelblatt oder Klappentext. Am besten wäre es natürlich, ich würde alle diese Bücher gleichermaßen Interessant finden, aber solange dem nicht der Fall ist, kann ich daraus vielleicht Rückschlüsse auf meinen momentanen inhaltlichen Geschmack ziehen. Ja, nur welche?

Die Metaebene

Die Zeitschrift hatte also einen denkbar guten Start bei mir. Friedrich Schlegel wurde mir im Studium als “Meister des Fragments” präsentiert. Fragmente fand ich immer schon eine spannende Textgattung. Auch Wulfs Buch zeichnet die Schlegels und Novalis in so schillernden Farben (pun intended), dass sie ja mitreißend sein mussten. Auch allgemein sind mir die Ansichten der Romantik sehr nahe, die Idee, Kunst, Wissenschaft und subjektives (Er)Leben als Aspekte derselben Sache zu sehen, gefällt mir.

Und doch: so richtig viel Mitreißendes habe ich dann nicht gefunden. Wahrscheinlich liegt das hauptsächlich daran, dass die romantische Denk- und Schreibart inhärent lokal ist. Ich meine damit, dass sich die Schlegels und Novalis hier auf Gespräche mit und über Zeitgenossen einlassen, zu denen ich keine Beziehung habe. Ich kenne den von ihnen diskutierten Klopstock nur dem Namen nach, Goethe fand ich noch nie besonders spannend und auch die Ansichten über das Wesen von Poesie und Philosophie sind klare Kinder ihrer Zeit.

Diese Lokalität kam nicht besonders überraschend, denn eine Zeitschrift ist nunmal das Medium für lokale Diskussionen. Hier ist es Brauch, dass andere aktuelle Schriftstücke oder Aussagen diskutiert und kritisiert werden, und dass die diskutierten Personen auch selber zu Wort kommen können. Zeitschriften sind also sowas wie ein intellektuelles Tagesmedium.

Daher fand ich die meisten Texte in der Zeitschrift für mich wenig hilfreich und auch langweilig. Ich glaube, man kann sagen, dass in dem ganzen Buch kein Argument vorkommt, sondern nur Kommentare, Vorschläge und Behauptungen - aber das zu Themen, die mir nicht so nahe sind, wie sie es den Autoren waren.

Anmerkung

Hektor Haarkötter hat in seinem Buch Notizzettel etwas erwähnt, das diesen Punkt berührt. Er schreibt über den literarischen Vorgang des Schreibens von Notizen:

“Das bündige und systematische, sprich: kohärente Schreiben, das bedächtig Argumente entwickelt, erweist sich in dieser Perspektive als eine rhetorische Strategie, die nur da vonnöten ist, wo schreibend mit anderen kommuniziert werden soll. Argumentieren ist persuasive Kommunikation. Wer dagegen nur funktional und nicht adressatenbezogen schreibt, der muss nicht argumentieren. Denn seine eigenen Gedanken bedürfen keiner inneren Rechtfertigung, man geht ja im Normalfall davon aus, dass man recht mit dem hat, was man denkt und also auch notiert.” (Haarkötter 2021, 95f)

Und vielleicht ist ja genau das bei den Schlegel’schen Fragmenten der Fall. Vielleicht wollten sie nur für sich ihre eigenen Gedanken festhalten, vielleicht dachten sie daher, sie würden keine Rechtfertigung benötigen, denn es soll sie ja nur daran erinnern, was sie früher einmal dachten. Aber dann wiederum: sie haben diese Fragmente - wenn auch vielleicht nicht mit der Absicht geschrieben, dass andere sie lesen sollen - doch immerhin ausgewählt, zusammengestellt, editiert und veröffentlicht. Zumindest da kann man von der Absicht sprechen, dass andere sie lesen sollten. Aber vielleicht nur als Ausdruck des eigenen Innenlebens? Nicht als Rechtfertigung des darin vorkommenden propositionalen Gehalts? Vielleicht. Aber ich denke, wir haben in diesem Fall doch die Metaebene der Veröffentlichung - die Schlegels haben intendiert, dass andere ihre Fragmente lesen, so, als hätten sie nicht intendiert, sie für andere zu schreiben.

Nichtsdestoweniger finde ich das ganze Schlegel’sche Projekt auf der Metaebene sehr spannend. Nämlich dass hier auf einem lokalen Level über lokale Aspekte diskutiert wird und das auf eine Weise die Poesie, Kunst und Gefühl betont. Ich würde sogar sagen, dass diese Idee der Utobiographie nahe steht. Doch der Kontext der Romantik hat sich so weit von meinem wegbewegt, dass meine konkreten Fragen und Interessen ganz woanders liegen als die der Schlegels und Novalis.

Zusammenfassend: auch wenn ich die Texte inhaltlich uninteressant finde, ist das Projekt auf einer Metaebene und vom theoretischen Hintergrund her sehr spannend. Daher sind die Bemerkungen, die sich selbstbezüglich mit der eigenen Methode auseinandersetzen, die interessantesten für mich. Hier eine kleine Auswahl.

Fragmente

Als Vorbemerkung: Die hier präsentierten Fragmente haben einen für mich schwer aushaltbaren Stil. Man merkt, dass hier junge Menschen sehr von ihren eigenen Ansichten überzeugt waren und in hochmütig hingeworfenen Sätzen die Welt kategorisch - und ich möchte hinzufügen, vorschnell - einteilen und aus dieser Festsetzung dann allerhand absonderliche Schlüsse ziehen (wenn man es denn überhaupt “Schlüsse” nennen möchte).

In diesem Sinne widersprechen die Fragmente auf der Inhaltsebene dem, was das Fragmentarische auf einer Metaebene ausmacht. Ich meine damit, dass es beim Fragmentarischen immer um die Vorläufigkeit geht, dass man kein Werk und keinen Text als hermetisch abgeschlossen, absolut gültig oder vollendet sehen soll. Inhaltlich handeln die Fragmente ihre Themen dann aber doch sehr absolutistisch ab und lassen ob ihrer Überheblichkeit wenig Widerspruch in ihrem Geltungsanspruch zu.

Gut, man kann nun sagen, die “Vorläufigkeit auf der Metaebene” reicht aus um die absolutistischen Formulierungen der Fragmente zu neutralisieren, da sich die Fragmente in all ihrer Absolutheit immerfort abwechseln und so letztlich ihres Absolutheitsanspruches beraubt werden, weil man sie immer als größeres Ganzes sehen muss. Mir reicht diese Antwort allerdings nicht aus, denn - erstens - trifft man solche Fragmente oft einzeln an, oft werden sie auch als Sinnsprüche anderen Texten vorangestellt und dann verlieren sie ihren Kontext, der die Absolutheit aufheben könnte. Zweitens bleibt das Gefühl des absoluten Anspruches erhalten, auch wenn sich der genaue Inhalt, der diese Geltung beansprucht, abwechselt.

Kurz: ich habe noch keinen guten Weg gefunden, die hier präsentierte Art der “Fragmente” zu interpretieren. Hier trotzdem einige Stellen:


“Freunde, der Boden ist arm, wir müssen reichlichen Samen Ausstreun, daß uns doch nur mäßige Ernten gedeihn.”

Diese Bemerkung steht den als “Blüthenstaub” bezeichneten Fragmenten voran, die von Novalis (und einige wenige von Friedrich Schlegel) verfasst wurden. Und vielleicht zeigt das, dass sich Novalis darüber im klaren war, dass seine Fragmente vor allem für ihn selbst Bedeutung haben würden, dass der “Boden der Anderen” nicht sehr fruchtbar ist, aber dass vielleicht auf diesem armen Boden der Fremden wenigstens einige Blumen wachsen mögen. Einen kleinen Strauß habe vielleicht auch ich zusammenstellen können.

Die höchste Aufgabe der Bildung ist, sich seines transzendentalen Selbst zu bemächtigen, das Ich seines Ichs zugleich zu sein. Um so weniger befremdlich ist der Mangel an vollständigem Sinn und Verstand für andre. Ohne vollendetes Selbstverständnis wird man nie andere wahrhaft verstehn lernen.

Interessant, was Novalis hier mit “Bildung” bezeichnet, die Einnahme einer Metaposition in der Selbsterkenntnis, quasi ein Schild über dem Eingang zum Orakel von Delphi: “Und erkenne dich, wie du dich selbst erkennst”. Und es ist ein Beispiel für die Strategie, zu erklären, dass man andere Iche nur verstehen kann, wenn man sich zuallererst sein eigenes Ich versteht.

Über keinen Gegenstand philosophieren sie seltner als über die Philosophie.

Dies ist das erste Fragment des Abschnittes, der prosaisch mit dem Titel “Fragmente” überschrieben ist. Und scheinbar hat sich seit dem Zeitalter der Romantik hier etwas bewegt. Man weiß nicht, wer das “sie” des Fragments bezeichnet, aber es trifft heutzutage sicher nicht auf Philosophinnen zu. Wenn zwei Philosophen mehr als dreißig Minuten zusammensitzen, wird unweigerlich die Frage diskutiert, was denn die Philosophie sei…

Ein Projekt ist der subjektive Keim eines werdenden Objekts. Ein vollkommnes Projekt müßte zugleich ganz subjektiv und ganz objektiv, ein unteilbares und lebendiges Individuum sein. Seinem Ursprunge nach ganz subjektiv, original, nur grade in diesem Geiste möglich; seinem Charakter nach ganz objektiv, physisch und moralisch notwendig. Der Sinn für Projekte, die man Fragmente aus der Zukunft nennen könnte, ist von dem Sinn für Fragmente aus der Vergangenheit nur durch die Richtung verschieden, die bei ihm progressiv, bei jenem aber regressiv ist.

Vielleicht hat mich das als Projektmanager angesprochen. Ich habe das für mich so übersetzt, dass man in einem Projekt durch die Planung, Lenkung und Ziele der Subjektivität im entstandenen Ergebnis objektiven Ausdruck verleiht, in dem Sinne, dass das Ergebnis des Projektes dann ein “wirklicher Gegenstand” ist, der unabhängig von seinen Schöpfern existiert, aber ohne ihren Eingriff nie und nicht auf diese Weise zustande gekommen wäre. So gesehen ist das Ich der Utobiographie ein Projekt.

Viele Werke der Alten sind Fragmente geworden. Viele Werke der Neuern sind es gleich bei der Entstehung.

Mir scheint, dass hier zwei sehr verschiedene Dinge mit demselben Begriff, nämlich dem des“Fragments”, bezeichnet werden, die aber sehr unterschiedlich funktionieren. Ich nehme an, als Beispiel für “die Alten” können Parmenides oder Heraklit gelten. Beide haben ihre Texte (soweit wir wissen) nicht als Fragmente konzipiert, sondern als längere zusammenhängende Texte. Dadurch, dass sie nur fragmentarisch erhalten sind, geht dieser größere Zusammenhang innerhalb des Textes verloren. Das erschwert das Verständnis für die Leserinnen, weil nicht jedes überlieferte Fragment inhaltlich “selbstgenügsam” konzipiert worden ist. Demgegenüber sagen die Schlegels über ihre Fragmente:

Ein Fragment muß gleich einem kleinen Kunstwerke von der umgebenden Welt ganz abgesondert und in sich selbst vollendet sein wie ein Igel.

Das ist aber etwas ganz anderes. Den Leserinnen der Schlegel’schen Fragmente geht keine Bedeutung dadurch verloren, dass Textstellen, die zuvor gegeben waren, aus dem Text verschwunden sind. Die Fragmente von Heraklit und Schlegel wären nur dann gleich, wenn Schlegel einen längeren Text geschrieben hätte, dann einige Stellen zufällig herausgenommen hätte (vielleicht mitten im Satz) und sie dann derart veröffentlicht hätte, ohne Hinweis, was die gelöschten Textstellen enthalten haben mögen. Doch Schlegel hat seine Texte von Anfang an als kurze Passagen angelegt. Ich denke daher, dass der Begriff “Aphorismus” angemessener für den romantischen Versuch ist, kurz und prägnant Ideen auszudrücken. Denn es gibt hier keine Lücken in der Bedeutung innerhalb der Textstücke.

Immer hat noch jeder große Philosoph seine Vorgänger, oft ohne seine Absicht, so erklärt, daß es schien, als habe man sie vor ihm gar nicht verstanden.

Das ist eine schöne Formulierung dafür, dass eine gute Autorin den Kontext erschaffen kann, in dem das, was sie sagt, verstanden werden kann. Richard Rorty hat für mich des Öfteren eine solche Neubeschreibung geliefert, zum Beispiel über Derrida, Heidegger und Hegel. Ich hatte vor Rorty nicht das Gefühl, dass ich auch nur die leiseste Ahnung hätte, was Derrida von mir will. Mittlerweile bilde ich mir zumindest ein, einen Anfang gefunden zu haben. Immer wenn ich Rorty lese, wie er Derrida beschreibt, denke ich mir “Ah, ja, das klingt vernünftig!” und wenn ich dann Derrida lese, denke ich mir wieder “Was? Warum? Wie kommt er jetzt darauf?”. Philosophische Lektüre kann man als die dialektische Bewegung zwischen diesen Polen verstehen.

Vielleicht würde eine ganz neue Epoche der Wissenschaften und Künste beginnen, wenn die Symphilosophie und Sympoesie so allgemein und so innig würde, daß es nichts Seltnes mehr wäre, wenn mehre sich gegenseitig ergänzende Naturen gemeinschaftliche Werke bildeten.

Der Neologismus der “Symphilosophie” wird in den Fragmenten so eingeführt, als wäre er schon selbstverständlich bekannt. Vielleicht hat er hier eher einen negativen Nutzen, er zeigt eine Abgrenzung zu dem an, was bisher “Philosophie” genannt wurde. Diese Stelle ist am nächsten an einer Definition. Ich nehme an, dass “Symposion” hier noch eher in der Bedeutung des Trinkgelages gemeint war, weniger als die Zusammenkünfte, bei denen sich Menschen gegenseitig mit unenthusiastisch vorgetragenen Fußnoten zu Nebensätzen Anderer langweilen. Also: Symphilosophie bedeutet, dass mehrere Menschen, die verschiedene Ansichten haben, in enger Zusammenarbeit Gedanken, Ideen und Thesen ausarbeiten. Genau so, wie es der Jenaer Kreis getan hat - zumindest zu Beginn.

Sie jammern immer, die deutschen Autoren schrieben nur für einen so kleinen Kreis, ja oft nur für sich selbst untereinander. Das ist recht gut. Dadurch wird die deutsche Literatur immer mehr Geist und Charakter bekommen. Und unterdessen kann vielleicht ein Publikum entstehen.

Auch die Idee finde ich gut, dass man nicht schreibt, damit man gelesen wird, sondern um sich seine eigene Leserschaft (inklusive der eigenen, das heißt des eigenen Selbst) im Prozess des Schreibens zu erzeugen. Das erinnert mich auch an Nietzsche, vor allem seinen Ecce Homo.
























Fabelhafte Rebellen. Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich.

von Andrea Wulf

09.05.2024

I. Geschriebene Menschen kennen lernen

Fabelhafte Rebellen handelt von einer Gruppe von Freunden, die zusammen die intellektuelle Bewegung der Romantik in Gang gesetzt haben. Es werden Johann Wolfgang von Goethe und Friedrich Schiller als Ahnherren angeführt, Caroline Böhmer und August Wilhelm Schlegel als zentrale Figuren beschrieben, und Johann Gottlieb Fichte, Novalis und Friedrich Schlegel als Umfeld beleuchtet. Später kommt auch noch Friedrich Wilhelm Joseph Schelling ins Spiel, der sich in Caroline Böhmer-Schlegel verliebt und dadurch, so zumindest mein Gefühl beim Lesen, den Anfang vom Ende der Jenaer Freundesgruppe auslöst.

Durch die großartige Darstellung ihrer Irrungen und Wirrungen von Andrea Wulf fühlt man sich den Protagonisten tatsächlich nahe. Man erlebt sie als junge Menschen, die durch politisch schwere Zeiten navigieren und oft auch keinen Plan davon haben, was als nächstes passiert, oder was sie tun sollen. Das zeichnet dieses Buch finde ich aus, denn oft wird mit dem Wissen der Überlebenden, die Geschichte so erzählt, als wären die Ereignisse, die sich tatsächlich zugetragen haben, quasi von Anfang an vorgezeichnet und als hätten die Protagonisten nie Angst, Unsicherheit und Zweifel ob ihrer Situation verspürt.

Bei aller jugendlicher Selbstsicherheit erleben wir hier mit, wie sich allen Widrigkeiten zum Trotz eine neue Denktradition bildet, die auf die schöpferischen Kräfte des "Ich" fokussiert und die Kunst (genauer vor allem Poesie und Literatur) in den Mittelpunkt der menschlichen und kulturellen Bestrebungen stellt. Die Romantik stellt dem wissenschaftlichen Partikularismus so eine lebensweltliche Gesamtschau eines menschlichen Lebens entgegen.

Natürlich war man sich als Leserin von Anfang an bewusst, dass alle die hier beschriebenen Menschen mittlerweile nicht mehr leben, aber mich hat nichtsdestoweniger jeder beschriebene Tod getroffen. Vor allem der Epilog, der das Leben der Protagonisten nach Jena skizziert (so sie diese Zeit denn überlebt haben), las sich mitunter als ein reines „Vorlaufen zum Tode“. Fabelhafte Rebellen schafft es also sehr gut, potentiell langweiliges Material so zu präsentieren, das man richtiggehend mitfiebert und nachher das Gefühl hat, die handelnden Personen ein wenig kennen gelernt zu haben.

II. Über den Nutzen des Biographischen

Was ich jedenfalls auch sagen kann: noch nie sind mir Philosophen wie Fichte und Schelling (und sogar Hegel, auch wenn er nur am Rande vorkommt) menschlicher und nachvollziehbarer erschienen als in diesem Buch. Ich habe tatsächlich Lust bekommen, Fichte und Schelling zu lesen. Wenn ich mich jedoch an meine bisherigen Versuche aus der Studienzeit erinnere, zeichnen meine Erfahrungen mit ihren Texten ein anderes Bild. Es fällt mir darum noch schwer, die hier vorgelegten Darstellungen von Fichte und Schelling als mitreißende Persönlichkeiten mit dem unendlich langweiligen Pathos zusammenzubringen, vor dem ihre Texte nur so triefen. Diese Diskrepanz wird auch von Zeitgenossen wie den Schlegel-Brüdern selbst erwähnt, die vor allem Fichte im Gespräch für viel klarer halten als im Geschriebenen.

Doch wenn ich hier lese, vor welchen gedanklichen und gefühlsmäßigen Hintergründen sie sich bewegt und in welche menschlich-allzumenschlichen Zusammenhänge sie verstrickt waren, dann bekommen die beiden Menschen, deren Lektüre mir so trocken und verschwurbelt vorkam, direkt sympathische Züge. Sehen wir mal, ob sich diese Sympathiebekundung halten lässt, wenn ich erneut versuche, ihre philosophischen Texte zu lesen. Aber man kann jedenfalls festhalten: der biographische Narrativ macht es mir leichter, die Gedanken, Aussagen und Texte einer Person einzuordnen und nachzuvollziehen. Ich verstehe Menschen besser, wenn ich ihre Beweggründe kenne und bin eher geneigt, sie als vollwertige Gesprächspartner zu akzeptieren.

Insbesondere, dass sich Fichte mit verschiedenen Universitätsleitungen, Kollegen und Machthabern angelegt hat, finde ich angenehm bemerkenswert. Einer der Gipfelpunkte hier war sicher der sogenannte “Atheismusstreit“ in dem Fichte vorgeworfen wurde, die Existenz Gottes zu leugnen. Aufgrund dieses Vorwurfes wurde er gezwungen, seine Professur in Jena zurückzulegen. Diese Episode verdeutlicht zwei Dinge: erstens, dass „Philosophieprofessoren“, die sich für die intellektuelle und rationale Speerspitze der Menschheit halten, genau so kleinliche, hitzköpfige und rachsüchtige Menschen sind, wie alle anderen und dass man bei ihnen daher auch nicht mehr Vernunft erwarten sollte als bei anderen Menschen.

Anmerkung

Heute gibt es nach wie vor ganz dieselben (ich möchte sagen dümmlichen) Streitereien, siehe beispielsweise den Disput um Nick Bostrom.

Zweitens, dass es auch bei akademischen Disputen nicht um die inhaltliche Sache sondern um politische Auseinandersetzungen und Machtdemonstrationen geht. Das sieht man in Wulfs Buch besonders gut, da sie die Hintergründe sehr gut nachzeichnet, wie es zu diesem Streit (und auch anderen Streits die Fichte involvieren) gekommen ist. Man sieht hier sehr klar, dass niemand die philosophischen Aussagen Fichtes angehört hat, denn sie wurden nur als Vorwand benutzt, den unbequemen Choleriker mit Hang zur demokratischen Freiheitsliebe loszuwerden.

Anmerkung

Tatsächlich ist mir bei der Lektüre dieses Buches auch die Idee zu diesem Text gekommen, in dem ich vorschlage, die Universitäten zu entmachten, wenn es um den „Ort der Philosophie“ geht.

Zusammenfassend lässt sich also sagen, dass mit die hier vorgelegten biographischen Narrative sehr geholfen haben, die involvierten Denkerinnen besser einzuordnen und auch ihre philosophischen und literarischen Produkte vor einem größeren Hintergrund zu verstehen. Diese und andere intellektuelle Outputs sollte man also vor dem größeren Kontext des menschlichen Lebens sehen, das sie hervorgebracht hat.

III. Romantik als Mittel zur Naturalisierung

Idee: die Romantik, zumindest wie sie hier vorgestellt wird, bietet einen Möglichkeit, uns selbst zu verstehen, ohne einen Leib/Seele Dualismus voraus zu setzen. Anders gesagt, die romantische Bewegung bietet einen guten Hintergrund für eine antirepräsentationalistische Beschreibung des Ich wenn man den Menschen ohne doppelten Boden als Tier deutet.

Denn: wenn es um die Beziehung des eigenen Selbst zur Außenwelt geht, deutet die romantische Bewegung den deutschen Idealismus sehr holistisch, vor allem, da sie die Ideen Fichtes und Schellings ins Zentrum setzen und Kant und Hegel eher außen vor lassen. (Hegel, der den deutschen Idealismus auf Wissenschaft und nicht wie Schelling auf Kunst fundieren wollte, hat seine Phänomenologie des Geistes erst vorgelegt, als es die „Jenaer Gruppe“ nicht mehr gab, aber auch vorher, denke ich, hätte Hegel bei ihnen nicht so viel Anklang gefunden wie Schelling und Fichte.)

Vor allem Schelling hatte in dieser Hinsicht scheinbar eine hilfreiche Sichtweise, wenn er postuliert, das Natur und Ich eins sind. Ich würde das so übersetzen: es gibt keinen Dualismus zwischen Natur und Ich (zwischen res cogitans und res extensa) sondern beides sind Phänomene derselben „ontologischen Ebene“. „Ich“ und „Natur“ können dann als von denselben Entitäten hervorgebracht beschrieben werden ohne ontologische Kluft. Jedenfalls sollte ich die Texte des jungen Schelling zur Rolle der Kunst lesen.

IV. Leben als (künstlerisches) Gesamtprojekt

Vor allem Novalis, den ich vorher nie als philosophisch relevant auf dem Schirm hatte, scheint eine Phase gehabt zu haben, in der er mich an Otto Neurath erinnert hat. Die Schlegels und Novalis hatten die Idee, das gesamte Leben als Kunstwerk zu interpretieren und inszenieren. Nicht umsonst haben Novalis und Neurath in den französischen Enzyklopädisten ein gemeinsames Vorbild.

Da Novalis alles menschliche Treiben vor dem Hintergrund eines starken, schöpferischen Ichs sieht, konnte er Dinge sagen wie „Die Wissenschaften müssen alle poetisiert werden“ (Wulf 2022, 187). Für ihn waren also Physik und Chemie ebenso schöpferische Tätigkeiten wie Poesie oder Dichtung (vgl. Wulf 2022, 186). Jedenfalls waren diese und alle anderen menschlichen (kulturellen) Tätigkeiten Ausdruck eines Ichs, das versucht, die Welt in geordnete Bahnen zu zwingen.

Darum habe ich in dieser Notiz vermerkt, dass die Utobiographie vielleicht als neoromantisches Projekt gelten kann. Denn in gewisser Weise, würde ich dasselbe behaupten, zumindest wenn es um die wichtige Rolle der Kunst geht und darum, dass die Ausbildung des eigenen Ich in schöpferischer Tätigkeit spannender ist, als das finden einer vorher schon bestehenden Wahrheit. Andererseits bin ich natürlich bei weitem nicht derart schriftstellerisch begabt und kann die Kunst daher nur von außen bewundern und intellektualisieren. Und ich denke, auch der Fokus auf die Zukunft, auf etwas, dass es noch nicht gibt, aber (im Gegensatz zu den Themen der Poesie und Literatur) vielleicht einmal geben wird, unterscheidet mein Projekt auch vom „romantischen Enzyklopädismus“.

V. Inhärente Egomanie?

Eine in diesem Buch gestellt Frage, die ich sehr interessant finde, ist: waren die internen Zerwürfnisse und der Zerfall der Jenaer Gruppe Symptome ihrer Ich-Philosophie? Muss die Philosophie, die der Gruppe als Fundament gedient hat, zur anti-sozialen Egomanie führen? War es in ihrer Philosophie grundgelegt, dass die Jenaer Gruppe nicht mehr in der Lage sein würde, ein friedliches Miteinander zu leben?

Für diese These könnte man anführen, dass die überstarke Betonung des eigenen Ich und seiner Kräfte leicht dazu führen kann, dass man die eigenen Ziele, Gefühle und Gedanken für wichtiger nimmt als die anderer Menschen. Nicht umsonst bemerkte Bertrand Russell in seiner History of Western Philosophy, dass es der Frau von Fichte sicherlich nicht so gut gefallen habe, als sein "Nicht-Ich" bezeichnet zu werden. Verliert man also das Gefühl für die Wichtigkeit anderer Menschen im eigenen Leben, wenn man Fichte zu ernst nimmt?

Demgegenüber scheint die Idee der Jenaer Gruppe so etwas zu sein wie „Man kann die andere Menschen und die Beziehungen zu ihnen nur verstehen, wenn man sich selber versteht“. So gesehen wäre die Ich-Philosophie sogar das Fundament eines guten Miteinanders. Doch, so wird man bei historischer Betrachtung wohl sagen, wenn dem so ist, dann haben sich die Individuen der Jenaer Gruppe in ihrer Philosophie selber nicht sehr gut verstanden.

Natürlich, das angestrebte Ziel und die tatsächlichen Ergebnissen einer Philosophie müssen nicht übereinstimmen aber mir scheint die Idee, dass die Ich-Philosophie das Verstehen anderer Menschen allererst möglich macht ebenso überzogen, wie die Idee, dass es dieses Verstehen verunmöglicht. Beides scheinen mir so vereinfachte Standardnarrative zu sein, dass ich nicht glaube, dass sie uns viel weiterhelfen, wenn wir verstehen wollen, was wir mit dieser Art von Philosophie tun können (und was nicht).

Ich denke, dass die Gruppe nach wenigen Jahren zerfallen ist, ist vor allem dem Alter der Protagonisten geschuldet, die sich zumeist in ihren mittleren Zwanzigern bis frühen Dreißigern befunden haben. In dieser Zeit bewegt sich noch viel in einem Menschen, auch grundlegende Überzeugungen müssen sich erst stabilisieren. Dass sich Freundschaften und Liebschaften, die sich in diesem Alter bilden, bis ans Ende des Lebens halten, ist wohl eher die Ausnahme, als die Regel.




Der Widerstreit

von Jean-François Lyotard

19.04.2024

Sätze

Bedeutungseinheiten, die durch Regelsysteme bestimmt werden.

„Ein Augenzwinkern, ein Achselzucken, ein Fußwippen, ein flüchtiges Erröten, ein Anfall von Herzklopfen können Sätze sein.“ (Lyotard 1989, §110)

Schweigen kann auch ein Satz sein.

Ein Satz führt ein „Es gibt“ in ein Universum ein – ich bin an Mitterers „Angabebeschreibung“ erinnert.

Regelsysteme

Beispiele: Argumentieren, Erkennen, Beschreiben, Erzählen, Fragen, Befehlen,…

Bestimmen, wie korrekte Sätze gebildet werden können, semantisch wie syntaktisch.

Diskursarten

Beispiele: Einen Dialog haben, Unterrichten, Rechtsprechen, Werben, Erklären, Wissen, Rechtfertigen,…

Diskursarten können Sätze aus verschiedenen Regelsystemen verketten (vgl. §40).

Beispiele: Ein Argument und eine Beschreibung werden in der Rechtsprechung eingesetzt, eine Erzählung und eine Frage in der Werbung,…

Diskursarten haben ein Ziel.

Beispiele: In der Rechtsprechung ist das Ziel Gerechtigkeit, in der Werbung ist das Ziel jemanden zu gewinnen,…

Was als Ziel gilt, wird von den Diskursarten festgelegt, nicht von uns (vgl. §183).

Es gibt keine Diskursart, die universalen Geltungsanspruch stellen kann (§190). Das Argument dafür ist Russells Paradox, das die Frage aufwirft, ob sich die Menge aller Mengen die sich nicht selbst enthalten selbst enthält. Laut Lyotard funktioniert ein Universaler Geltungsanspruch ähnlich, wenn man die Frage nach der Selbstanwendung stellt.

Das ist für Lyotard gleichbedeutend mit: es gibt „die Sprache“ nicht, sondern man sollte besser von verschiedenen Diskursarten sprechen.

Diskursarten „füllen die Leere zwischen den Sätzen“ (Lyotard 1989, §188)

Widerstreit

Wenn zwei Diskursarten darum ringen, welche Sätze weiter verkettet werden sollen und es keine universale Regel (zum Beispiel aus einer anderen, einer Meta-Diskursart) gibt, die sagt, welcher Weg nun der angemessene ist. Es ist also ein Konflikt über Diskursarten und Regelsysteme hinweg.

Beispiel: „In den 1990er Jahren wurden in Australien mehrere Rechtsstreitigkeiten zwischen Baugesellschaften und Vertreter*innen australischer Ureinwohner, der Aborigines, ausgefochten. In einem dieser Rechtsfälle ging es um ein Bauprojekt einer Entwicklungsgesellschaft, die auf einer Insel ein Territorium bebauen wollte, das den dort ansässigen Aborigines als heilig gilt. Vor Gericht war zu klären, ob den ökonomischen Interessen der Bauherren an der Urbarmachung des Landes oder den religiösen Interessen der Ureinwohner an seiner Unversehrtheit Priorität einzuräumen ist. Die Ausgangssituation im Rechtsstreit war jedoch aufseiten der Aborigines-Vertreter*innen durch eine wesentliche Komplikation gekennzeichnet: In deren Vorstellungswelt ist das Aussprechen der Gründe, warum ein Ort heilig ist, gegenüber Fremden tabuiert. Außenseiter in das Geheimnis der Heiligkeit des Ortes einzuweihen würde diesen Ort sofort profanieren. Die sakrale Bedeutung wird innerhalb der Gemeinschaft matrilinear von den Müttern an die Töchter weitervermittelt. Der Schutz des Geheimnisses ist für den Schutz des Heiligen notwendig.“ (Seitz 2019, 1)

Ich finde, das ist tatsächlich das bessere Beispiel für einen Widerstreit als die Leugnung des Holocausts. Bei letzterem Fall sagt Lyotard, wird die Zeugenschaft unmöglich, weil man die Gaskammern mit eigenen Augen gesehen haben müsste um sie zu bezeugen (so verlangen es zumindest die Leugner) und sie mit eigenen Augen gesehen zu haben hieße tot zu sein. Ich denke nicht, dass der letzte Schluss stichhaltig ist. Man kann auch die Tödlichkeit von Pistolen bezeugen ohne von einer erschossen worden zu sein.

Es scheint, dass Lyotard im Angesicht eines Widerstreits das Gefühl, das sich im sprachlosen Schweigen ausdrückt zum Richter machen möchte (vgl. §93 und §159)

Rechtsstreit – ein Konflikt innerhalb einer Diskursart, der nach diesen Regeln beurteilt und also entschieden werden kann.

Bemerkungen

Der Aufbau des Textes ist sehr interessant, gerade für dieses Projekt hier, wo es ja auch immer ein wenig um die Form des Textes geht. Lyotard hat zu Beginn einen „Merkzettel“ zur Lektüre beigefügt, der die zentralen Thesen und wichtige Hintergründe enthält. Wenn man diesen gelesen hat, dann ist man über die Grundzüge des Buches informiert. Alle Paragraphen sind nummeriert (hier stand wohl der späte Wittgenstein Pate) und Exkurse sind in kleinerer Schrift eingestreut.

Mich haben die expliziten Nähen zur analytischen Sprachphilosophie überrascht:

Es gibt viele Anleihen an den frühen wie auch an den späten Wittgenstein.

Nähen zu John L. Austins performativen Sprechakten kann man ebenfalls fiden (zum Beispiel in §142).

In §61 präsentiert Lyotard seine Idee eines Protokollsatzes:
"Ein kognitiver Satz wird dank eines anderen, eines ostensiven oder monstrativen validiert. Dieser lautet: Da ist ein Fall dafür. In diesem Satz verweist dafür auf den kognitiven Satz. Eine Realität soll gezeigt werden, und zwar als ein Beispiel, für das der kognitive Satz wahr ist. Die Ostension muß von deiktischen Indikatoren befreit werden und den Referenten in Systemen unabhängig vom “ich-hier-jetzt” darstellen, so daß der Empfänger mit Hilfe der Orientierungsmarken dieser Systeme die Ostensionen wiederholen könnte. Der Satz: Da ist eine rote Blume wird in zwei Sätze verwandelt: “Das Rot entspricht Strahlungen mit Wellenlängen im 650 bis 750 Nanometer-Band, die von einem Gegenstand ausgesendet werden” - ein kognitiver Satz (eine Definition); und: “Die Farbe der Blume, für die hier ein Fall vorliegt” - ein ostensiver Satz. Es muß noch der deiktische Ausdruck “hier” des letzten Satzes entfernt und durch Koordinaten von Systemen ersetzt werden, die vom aktuellen Satz unabhängig sind (“die Blume, die im botanischen Labor des Instituts x am 17. April 1961 von y beobachtet wurde”)." (Lyotard 1989, §61)

Im Exkurs KANT I diskutiert Lyotard das, was Wilfried Sellars den „myth of the given“ genannt hat.

In §231 Erklärt er, dass es „die Sprache“ nicht gibt. Donald Davidson kam zu einer ähnlichen Idee in "A Nice Derangement of Epitaphs"

Saul Kripkes Eigennamentheorie wird an zentralen Stellen eingesetzt.

Lyotard erklärt, dass Sätze „fortgesetzt“ werden können (zum Beispiel in §94). Eine Formulierung die mich an den Non-Dualismus erinnert hat.

Es gibt nicht nur eine Welt sondern viele, das kann man gut im Sinne Nelson Goodmans lesen.

Für mich wird das Ganze Buch doch vom Mystizismus des (Post)Strukturalismus umflort. Stets hat man das Gefühl, das Sprache (oder Diskursarten) ein Eigenleben führt, dass sich aus der inneren Logik dieser Diskursarten für den Menschen allerhand Zwänge ergeben und dass man sich dem ganzen mit quasi-naturwissenschaftlichem Duktus nähern muss. Ich denke nicht, dass das eine hilfreiche Idee für das Funktionieren von sprachlichen Äußerungen ergibt, ich werde die Idee des Widerstreits also für meine Zwecke uminterpretieren:

Sprachspiele können, so scheint es mir, die Rolle von Regelsystemen und von Diskursarten übernehmen. Mir gefällt hier der pragmatistische Flair und die Einfachheit der Sprachspielidee (Ich habe Wittgenstein immer als Pragmatisten gelesen). Ich lasse also den ganzen (Post)Strukturalismus weg: die Idee, dass uns die Struktur der Sprache zu irgendwelchen Überzeugungen zwingt, dass nichts sagen auch ein Satz ist, dass man allerhand Metaebenen benötigt, und so weiter.

Daher werde ich sagen, dass ein Widerstreit auftritt, wenn zwei Sprachspiele in derselben Situation verschiedene Regeln haben, was ein angemessener Spielzug ist und es kein übergeordnetes Sprachspiel gibt, das eine Regel bereitstellt, der man zur Lösung des Problems folgen kann.

Beispiel: Ein religiöses Sprachspiel ermöglicht den Zug „Es ist vernünftig, an Gott zu glauben“, ein naturwissenschaftliches Sprachspiel ermöglicht „Es ist vernünftig, nicht an transzendente Wesen zu glauben“. Was bedeutet „vernünftig“? Beide Sprachspiele werden ihre eigene Bedeutung benutzen, aber die sind Inkommensurabel. So wird dem einen als Unvernunft erscheinen, was dem anderen als Vernunft erscheint und umgekehrt.

Was sollte man tun um einem Widerstreit „gerecht zu werden“?

Als erstes muss man erkennen, dass es sich um einen Widerstreit handelt, was nicht immer leicht ist, wenn beide Seiten zum Beispiel das selbe Wort benutzen. Dann kann man verschiedene Wege des Umgangs wählen: den Widerstreit bestehen lassen, eines der Sprachspiele adaptieren, das Sprachspiel des anderen erlernen, oder ein neues Sprachspiel erfinden, das den Widerstreit auflöst.

Für Lyotard zieht man sich im Angesicht eines Widerstreits am besten auf ein Gefühl zurück und hört auf ein notwendig wortloses Schweigen, um die Lücke zwischen Diskursarten nicht zu überhören. Die Lösung eines Widerstreits liegt für Lyotard so gesehen also außerhalb der Sprache. Ich denke, die (Auf)Lösung eines Widerstreits liegt in der Kreativität, die man anwendet um Sprachspiele umzugestalten, zu verbinden oder zu erfinden.

Folgendes habe ich bei Foucault in "Die Heterotopien" gefunden: "In aller Regel bringen Heterotopien an ein und demselben Ort mehrere Räume zusammen, die eigentlich unvereinbar sind." (Foucault 2021, 14) Vielleicht könnte man diese Idee adaptieren. Man müsste nur herausfinden, wie genau Heterotopien das anstellen und dann zusehen, ob sich eine analoge Idee zum widerstreithaften Aufeinanderprallen von Sprachspielen findet. Dann könnten Heterotopien mehrere Sprachspiele in einem Regelset zusammenbringen, die eigentlich unvereinbar sind.
























Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen.
Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen.
Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen.
Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen.
Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen.
Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen.
Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen.
Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen.
Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen.
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Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen.
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Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen.
Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen.
Was in Worte gefaßt wird, stirbt, was in Werke gefaßt wird, lebt.
Was in Worte gefaßt wird, stirbt, was in Werke gefaßt wird, lebt.
Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen.
Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen.
Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen.
Was in Worte gefaßt wird, stirbt, was in Werke gefaßt wird, lebt.
Was in Worte gefaßt wird, stirbt, was in Werke gefaßt wird, lebt.
Was sich überhaupt sagen lässt, lässt sich klar sagen.
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Was in Worte gefaßt wird, stirbt, was in Werke gefaßt wird, lebt.
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Was in Worte gefaßt wird, stirbt, was in Werke gefaßt wird, lebt.
Was in Worte gefaßt wird, stirbt, was in Werke gefaßt wird, lebt.

Die gerettete Zunge

von Elias Canetti

09.04.2024

Inwiefern bestimmt die eigene Sprache was man denkt und woran man sich erinnert? Diese Frage stellt sich mir nach der Lektüre von Canettis Die gerettete Zunge. Denn in diesem ersten Band seiner autobiographischen Schriften findet man viele (zumeist implizite) Gedanken dazu. Am deutlichsten vielleicht hier:

Meine Eltern untereinander sprachen deutsch, wovon ich nichts verstehen durfte. Zu uns Kindern und zu allen Verwandten und Freunden sprachen sie spanisch. Das war die eigentliche Umgangssprache, allerdings ein altertümliches Spanisch, ich hörte es auch später oft und habe es nie verlernt. Die Bauernmädchen zuhause konnten nur Bulgarisch, und hauptsächlich mit ihnen wohl habe ich es auch gelernt. Aber da ich nie in eine bulgarische Schule ging und Rustschuk mit sechs Jahren verließ, habe ich es sehr bald vollkommen vergessen. Alle Ereignisse jener ersten Jahre spielten sich auf spanisch oder bulgarisch ab. Sie haben sich mir später zum größten Teil ins Deutsche übersetzt. Nur besonders dramatische Vorgänge, Mord und Totschlag sozusagen und die ärgsten Schrecken, sind mir in ihrem spanischen Wortlaut geblieben, aber diese sehr genau und unzerstörbar. Alles übrige, also das meiste, und ganz besonders alles Bulgarische, wie die Märchen, trage ich deutsch im Kopf. Wie das genau vor sich ging, kann ich nicht sagen. Ich weiß nicht, zu welchem Zeitpunkt, bei welcher Gelegenheit dies oder jenes sich übersetzt hat. Ich bin der Sache nie nachgegangen, vielleicht hatte ich eine Scheu davor, das Kostbarste, was ich an Erinnerung in mir trage, durch eine methodisch und nach strengen Prinzipien geführte Untersuchung zu zerstören. Ich kann nur eines mit Sicherheit sagen: die Ereignisse jener Jahre sind mir in aller Kraft und Frische gegenwärtig mehr als sechzig Jahre habe ich mich von ihnen genährt - aber sie sind zum allergrößten Teil an Worte gebunden, die ich damals nicht kannte. Es scheint mir natürlich, sie jetzt niederzuschreiben, ich habe nicht das Gefühl, daß ich dabei etwas verändere oder entstelle. Es ist nicht wie die literarische Übersetzung eines Buches von einer Sprache in die andere, es ist eine Übersetzung, die sich von selbst im Unbewußten vollzogen hat, und da ich dieses durch übermäßigen Gebrauch nichtssagend gewordene Wort sonst wie die Pest meide, mag man mir seinen Gebrauch in diesem einen und einzigen Falle nachsehen. (Canetti 1977, 18f)

In diesem Abschnitt gibt es philosophisch eine Menge zu entdecken. Erinnerung, zumindest autobiographische Erinnerung, spielt sich plausiblerweise vorwiegend in Sprache ab (natürlich auch in den Bildern und Gefühlen, die diese sprachlichen Ausdrücke in uns Leserinnen erzeugen aber das mittels der Sprache). Daher finde ich es spannend, dass sich Canetti hier in einer Sprache an Ereignisse erinnert, die er zum beschriebenen Zeitpunkt nicht sprechen oder verstehen konnte. Er wirft hier auch die Frage auf, ob die Sprache, die ein Mensch spricht, einen Einfluss darauf hat, was dieser Mensch sagt, wahrnimmt, fühlt und erinnert.

Man könnte darauf zustimmend antworten, dass ein Mensch der Deutsch spricht durch die grammatische Struktur und die begrifflichen Möglichkeiten die Welt anders ausdrückt als ein Mensch der Englisch oder Spanisch spricht. Beispielsweise verwandelt das Deutsche grammatisch alles in Objekte – die Wahrheit, die Freiheit, das Ganze, das Sein, und so weiter – während andere Sprachen eher Prozesse betonen. Ob man "Freiheit" als ein Objekt oder einen Ort sieht, zu dem man gelangen kann oder als einen Prozess, den es zu verbessern oder erfüllen gilt, macht einen großen Unterschied, welche weiteren Verbindungen zur Entität Freiheit man knüpfen wird.

Eine dahingehend noch stärkere Position wäre es, zu erklären, dass auch Gefühle und Emotionen von der Sprache abhängen – dass spanische Poesie ganz andere Gefühle ausdrücken kann als die französische oder die deutsche (Ich bin geneigt dem zuzustimmen, wenn ich an Paul Celan und Pablo Neruda denke – doch dann wiederum: es gibt auch Rilke). Auch in diesem Zusammenhang wird der Unterschied an der verwendeten Sprache, die Denken und Fühlen beeinflusst, festgemacht. Wir haben nun also scheinbar im Großen und Ganzen zwei Möglichkeiten:

Entweder, die Idee ist nicht plausibel und die Sprache die man verwendet, hat keinen Einfluss auf unsere Wahrnehmung der Welt und auf die mentalen Bilder aus denen Erinnerungen im Kern bestehen. So gesehen sind Erinnerungen unsprachlich, vielleicht vorsprachlich, und werden dann auf verschiedene Weisen (in verschiedenen Sprachen) in Worte gebracht. Doch diese Übersetzung ändert ihren Kern nicht, der Inhalt der Erinnerungen besteht dann aus Bedeutungen, die nicht sprachlich sind sondern nur durch Worte ausgedrückt würden.

Oder, die Autobiographie von Canetti hätte sich sehr anders gelesen, wenn er sein Leben lang in Rustschuk geblieben wäre und nur Bulgarisch und Spanisch gesprochen hätte. Dann würde die Sprache der Erinnerung beeinflussen, woran man sich erinnert und auf welche Weise. Hier geht man dann nicht von einem nichtsprachlichen, essentiellen Kern der Erinnerungen aus, der dann in Worte gefasst wird sondern alle Erinnerung wird dann als zutiefst sprachlich verstanden.
(Das würde dann zum Beispiel heißen, dass man keine Erinnerungen haben kann, wenn man keine Sprache spricht, dass dann alle Erinnerungen an eine „vorsprachliche Zeit“ Erinnerungen in einer Sprache sind, die sprachlich zu erfassen versucht, wie es ohne Sprache gewesen sein könnte)

Entweder, die Idee ist nicht plausibel und die Sprache die man verwendet, hat keinen Einfluss auf unsere Wahrnehmung der Welt und auf die mentalen Bilder aus denen Erinnerungen im Kern bestehen. So gesehen sind Erinnerungen unsprachlich, vielleicht vorsprachlich, und werden dann auf verschiedene Weisen (in verschiedenen Sprachen) in Worte gebracht. Doch diese Übersetzung ändert ihren Kern nicht, der Inhalt der Erinnerungen besteht dann aus Bedeutungen, die nicht sprachlich sind sondern nur durch Worte ausgedrückt würden.

Oder, die Autobiographie von Canetti hätte sich sehr anders gelesen, wenn er sein Leben lang in Rustschuk geblieben wäre und nur Bulgarisch und Spanisch gesprochen hätte. Dann würde die Sprache der Erinnerung beeinflussen, woran man sich erinnert und auf welche Weise. Hier geht man dann nicht von einem nichtsprachlichen, essentiellen Kern der Erinnerungen aus, der dann in Worte gefasst wird sondern alle Erinnerung wird dann als zutiefst sprachlich verstanden.

(Das würde dann zum Beispiel heißen, dass man keine Erinnerungen haben kann, wenn man keine Sprache spricht, dass dann alle Erinnerungen an eine „vorsprachliche Zeit“ Erinnerungen in einer Sprache sind, die sprachlich zu erfassen versucht, wie es ohne Sprache gewesen sein könnte)

Nach dem, was Canetti schreibt, vermute ich, er würde den ersten Weg bevorzugen. Ich finde den zweiten Weg interessanter. Es erscheint mir plausibler, die Sprache als den Hort der Bedeutung zu sehen, den Menschen als durch und durch sprachliches Wesen zu beschreiben und daher zu sagen, dass alle Erinnerung eine Sache der Sprache ist. Daher glaube ich, dass sich Canettis Erinnerungen verändert haben, als er sie ins Deutsche übersetzt hat, auch wenn er es nicht bewusst getan hat. Die wenigsten Erinnerungen werden bewusst beeinflusst (wir würden dann wohl auch zögern, diese Entitäten dann noch Erinnerungen zu nennen) und Canetti lässt ja den Weg offen, dass es auch ihm unter der Hand passiert sein mag, dass sich der Inhalt seiner Erinnerungen durch die Übersetzung verändert haben. Aber er erklärt auch, er habe nicht das Gefühl, dass dem so sei.

Daher würde ich also - Canetti zum Trotz - die Situation so beschreiben, dass sich seine Erinnerungen erweitert haben, als er sie (unbewusst) in eine andere Sprache übersetzt hat. Aber ist es nicht schlecht, wenn sich Erinnerungen derart ändern? Sie geben dann ja nicht mehr wieder, wie es wirklich war?

Nun, ich denke, es ist keine hilfreiche Idee, anzunehmen, dass sie das jemals taten. Da finde ich es hilfreicher zu sagen: wenn sich der Inhalt der Erinnerungen erweitert, dann kann sich auch mein Selbst erweitern. Aber es gibt Regeln, die eingehalten werden müssen, damit eine Entität als "Erinnerung" akzeptiert wird. Erinnerungen müssen nach bestimmten Regeln erweitert werden, sonst hören wir auf, sie als Erinnerung zu akzeptieren.

Einige dieser Vorgänge durch die die Erinnerungen erweitert werden, nennen wir „unbewusst“. Damit drücken wir aus, dass wir nicht klar rekonstruieren können, welchen Regeln das Anwachsen der Erinnerung folgt, sie sind uns verborgen. Es bleibt dann ein Zweifel, ob die Entität um die es geht, tatsächlich als Erinnerung gelten soll oder ob sie eher als "Erfindung" oder "Fantasie" gelten sollte. Bei manchen Entitäten bleibt dieser Zweifel bestehen, von anderen sagen wir, sie lassen sich nach bewussten (und narrativen) Regeln rekonstruieren. Zum Beispiel in der Psychoanalyse oder in einer Autobiographie. Holt also eine „gute Autobiographie“ möglichst viele unbewusste Vorgänge ins Bewusstsein? Bildet sie anders gesagt durch Selbsterforschung den „wahren Charakter“ der schreibenden Person richtig ab? Nein. Aber ist das nicht ein erstrebenswertes Ziel? Auch Nein.

Who am I – Kein System ist sicher

von Baran bo Odar

02.04.2024

Bei einem Film wie diesem, ist man sehr versucht zu fragen „Was ist denn nun tatsächlich passiert?“ Man erwartet sich dann Hilfe von „der Welt“, die die Frage klären soll, was denn nun „wirklich wahr" sei. Hier wird sehr gut mit verschiedenen narrativen Ebenen gespielt: entweder ein Hackerkollektiv hat sich eine sehr gute Geschichte ausgedacht, um nicht nur ein doppeltes sondern ein dreifaches Spiel zu spielen, oder der Protagonist ist verrückt und halluziniert sich so einiges zusammen.

Die Geschichte lässt beide Möglichkeiten offen und platziert sich so in der Nähe von Filmen wie Vanilla Sky, Matrix (dem ersten Teil, die anderen Filme existieren nicht!) oder Inception. Alle diese Filme spielen damit, dass die dargebotene Handlung nicht ausreicht, um zu entscheiden, welches der narrativen Ergebnisse wohl das plausibelste ist. Vielleicht ist Cobb am Ende in einem Traum. Vielleicht gibt es eine Meta-Matrix, die benutzt wird um die widerspenstigen Menschen durch die Illusion von Freiheit zu kontrollieren. Vielleicht wacht Aames in der Wirklichkeit auf, wenn er am Boden aufschlägt. Und vielleicht ist Benjamin am Ende des Filmes am Weg nach Kopenhagen, nachdem er und seine Freunde erfolgreich wieder unsichtbar geworden sind. Aber in all diesen Fällen ist das Gegenteil ebenso möglich.

Wichtig ist: kein Verweis auf „die Wahrheit“, darauf „wie es wirklich ist“, wird uns hier helfen, keine Erzählperspektive bringt Licht ins Dunkel. Solche „literarischen Gebilde“ sind absichtlich so gebaut, dass sie diesen Ausweg verunmöglichen. Wir Zuseherinnen (oder Leserinnen) müssen einige Aspekte der Geschichte als wichtiger auszeichnen als andere, um so zu einer für uns plausiblen, individuellen Lösung zu kommen. Ja, Benjamin halluziniert sich alles zusammen, denn das Haus ist nicht abgebrannt, es wurden keine Leichen gefunden, seine scheinbare Geliebte sagt, sie würde ihn nicht kennen, und so weiter. Oder: Nein, Benjamin halluziniert nicht, die Gruppe hat sich einen doppelbödigen Plan überlegt um durch genaue Kontrolle der Informationsherausgabe einen möglichen Wahnsinn Benjamins strategisch zu nutzen um unterzutauchen.

Auf der einen Seite macht das Lust, sich selber einen Weg durch das narrative Dickicht zu bahnen. Auf der anderen Seite kann es enervierend werden, sich am Ende nie sicher sein zu können, woran man ist. Diese Spannung kann letztendlich durch nichts entschieden werden und genau diese Spannung macht den Film aus.

Aber ich würde weitergehen: diese Spannung macht alle unseren intellektuellen Bestrebungen aus. So gesehen gibt uns „die Wirklichkeit“ in keinem Bereich unseres Lebens vor, wie die Geschichte ausgeht oder was tatsächlich passiert ist. Dann müssen wir uns in allen Bereichen unseres Lebens – Alltag, Wissenschaft, Religion, Kultur und vielen mehr – darauf hoffen, dass wir zu einer für uns plausiblen Lösung kommen, indem wir manche Aspekte als wichtiger auszeichnen als andere. Ob die von uns ausgewählten Aspekte die richtigen waren? „Der Welt“ ist es egal – aber den anderen Menschen, mit möglicherweise anderen Hintergründen und Meinungen, nicht. Mit ihnen sollten wir uns befassen, ihnen sollten wir versuchen, unsere Sicht der Dinge näher zu bringen. Ich denke, so etwas in der Art hatte Ludwik Fleck vor Augen, wenn er das ausarbeitete, was er später "Denkstil" und "Denkkollektiv" nannte.

(Ich denke übrigens, Benjamin halluziniert.)

Die Inkommensurablen.

von Raphaela Edelbauer

22.03.2024

Das Wort, das dieses Buch für mich am besten beschreibt, ist: fiebrig. Das pulsierende Wien am Vorabend des ersten Weltkriegs ist in diesem Buch spürbar, ebenso wie die gehetzte Getriebenheit der schlaflosen Protagonisten, die es von einer absurden Situation in die nächste verschlägt. Für mich funktioniert der fremdwortbeladene Schachtelsatz-stil sehr gut, ich finde darin viele neue Bilder für Situationen, die mir ansonsten bekannt vorkommen – auch wenn ich denke, dass dieser Stil nicht für jede Leserin etwas ist. Manche haben das Buch daher positiv aufgenommen, andere nicht so. Ich gehöre eindeutig zur ersteren Gruppe.

Durch diesen Schreibstil zeigt uns das Buch sehr direkt, inwiefern die Grenzen der Sprache die Grenzen der Welt sind. Wenn ich nur wenige (oder fast keine) der Fremdwörter kennen würde, die in diesem Buch vorkommen, wäre ich immer noch in der Lage, den groben Umrissen der Geschichte zu folgen. Ich würde sozusagen eine Rudimentärversion der Geschichte bekommen. Doch je umfangreicher mein Vokabular, desto mehr Nuancen und Aspekte verstehe ich und mein mentales Bild der Geschichte wird sehr viel reichhaltiger und ich kann mehr Farben, Schattierungen und Zusammenhänge erkennen. Anders ausgedrückt, durch ein größeres Vokabular wird die Welt der Geschichte umfangreicher und reichhaltiger, die Grenzen werden nach außen verschoben. Doch natürlich muss der Schreibstil das auch hergeben, und das tut er bei Raphaela Edelbauer für mich wie bei kaum einer anderen Autorin (darin erinnert sie mich an den späten Nabokov). Dass es den Genuss derartiger Bücher steigert, ist für mich eines der besten Argumente, stetig zu versuchen, mein Vokabular zu vergrößern um mehr zu verstehen.

Neben dem, was sich sagen lässt, ist da noch die mystische Idee eines „Traumclusters“, eines Traumes, der von mehreren Menschen geträumt werden kann (irgendwo zwischen Carl Gustav Jung und Inception). Auch wenn es das Ende eigentlich verunmöglicht, dachte ich kurz, dass es sich bei dem erträumten Dorf vielleicht um den Ort handeln könnte, in dem Das flüssige Land spielt. Wahrscheinlich ist es aber, dass dieser scheinbar mystische Aspekt sich als ein empirisch erklärbares Phänomen herausstellt. Doch - und das wird hier sehr gut beschrieben - es macht etwas mit den Menschen, die sich als Teil dieses Clusters beschreiben: er gibt ihnen das Gefühl, etwas Besonderes zu sein, einen Funken in sich zu tragen, in einer Welt, die um sie herum vollkommen im Chaos des herannahenden Kriegs versinkt und in der althergebrachte Werte umgeworfen werden (Adam möchte klassische Musik spielen und muss sich stattdessen mit körperlicher Gewalt und Politik beschäftigen). Das Gefühl der Besonderheit bekämpft jenes der Verlorenheit. Letzteres kann dadurch entstehen, dass man annimmt, dass der Mensch komplett durch seine Umwelt erzeugt wird, dass er sich gegen diese Umwelt nicht zur Wehr setzen kann und dass man ihm durch Suggestion so ziemlich alles glaubhaft machen kann. Man könnte es als persönliches Scheitern lesen, dass Hans am Ende wohl in den Krieg ziehen will, als er erfahren hat, dass der Traumcluster nicht existiert. Er will in der Masse verschwinden, sich der Bürde der Individualität entledigen.

Vielleicht ist hier die Weltgrenze für Hans, den Bauernjungen aus Tirol, der scheinbar übermenschlich schnell vom Pferdestall zu metaphysischen Diskussionen wechselt und mit einer beunruhigenden Leichtigkeit in das Spiel des ontologischen Geschwurbels eintritt, das Adam und Klara spielen. Er kann es nicht verkraften, dass man sich im Angesicht der Erkenntnis, dass es keinen Traumcluster gibt, um einen anderen Quell der Individualität umsehen sollte, anstatt jeder Individualität zu entsagen. Hans ist eben doch kein Friedrich.


08.10.2024

Ich habe inzwischen gelernt, dass die "Supermetapher", die Edelbauer in diesem Buch zur Geltung bringen wollte, die der "Masse" ist: die Menschenmassen, die vielleicht da am direktesten hereinbrechen, als die Gruppe versucht, zu Klaras Defensio zu gelangen (hier habe ich die Masse am ehesten als gefährliche Meeresströmung in Erinnerung) oder die Massen, die sich kriegsbegeistert am Bahnhof sammeln. Das finde ich spannend, da ich in diesem Fall - im Gegensatz zum Flüssigen Land, wo ich auch das Loch als Metapher des kollektiven Verdrängens interpretiert hätte - eine ganz andere Metapher als zentral angesehen hätte. Ich hätte gesagt, es ist das kollektive Unbewusste, das im Unter- und Hintergrund die Subjekte lenkt und herumwirft. Man findet es in der Traumcluster Erzählung, im fiebrigen Erbeben der Menschen am Vorabend des Weltkrieges aber auch in den Spelunken und Katakomben Wiens (vielleicht sogar in den mathematischen Ausführungen Klaras). Aber auch hier gewinnt die Welt dadurch, dass tausend Pfade möglich sind, die sich verzweigen.

Vorträge und Reden. 1937 – 1958.

von Albert Camus

21.03.2024

Dieser Band versammelt Texte, die in einer Zeitperiode von knapp über zwanzig Jahren verfasst wurden und man kann dabei zusehen, wie Albert Camus mehr und mehr zu seiner Linie findet. Ich muss allerdings leider sagen, dass mich diese Linie intellektuell ein wenig unzufrieden zurücklässt. Das gilt nicht in politischer Hinsicht – seine Aufrufe sind enigmatisch, seine Handlungsanweisungen klar, seine Ziele finde ich unterstützenswert. Kurz, Camus ist für mich ein Paradebeispiel eines politisch involvierten Intellektuellen, der sich nicht in den Elfenbeinturm zurückzieht, um in Ruhe seiner Passion nachzugehen, sondern der mit allem was er hat, für seine Überzeugungen einsteht.

So weit, so gut. Ich finde allerdings leider, dass die Mittel, die er wählt, nicht gut geeignet, um sein Ziel zu erreichen. Ein wiederkehrendes Thema zu allen Zeiten und in vielen Kontexten ist, dass der Mensch seine Freiheit zurückerlangen muss. Was das allerdings bedeutet, erfahren wir leider nicht. An einer programmatischen Stelle sagt er: „Mag sein, dass unser Leben auch den anderen gehört, und es richtig ist, es wenn nötig hinzugeben. Aber unser Tod gehört nur uns. Das ist meine Definition von Freiheit.“ (Camus 2021, 52). Diese Definition, die aus „Die Krise des Menschen“ aus dem Jahre 1964 stammt, wiederholt er auch in „Der Ungläubige und die Christen“ aus demselben Jahr (vgl. Camus 2021, 109).

Das klingt wild-romantisch existenzialistisch, stellt sich aber bei genauerer Betrachtung als wenig hilfreich heraus, vor allem wenn man die politischen Kontexte bedenkt, in denen Camus die Freiheit als Ziel anpreist. Trägt er also den spanischen Arbeitern, die gegen die unmenschlichen Arbeitsbedingungen streiken, an, sie sollen für ihre Sache sterben, um ihre Freiheit auszuleben? Oder denjenigen die vor der Diktatur Francos geflüchtet sind? Und auch sonst scheint es, als wolle uns Camus eher an die Gründe erinnern, die das Leben schön und lebenswert machen, als dass er uns daran erinnern möchte, dass unser (selbstgewählter) Tod der höchste Ausdruck unserer Freiheit ist.

An einer anderen Stelle sagt er „Die Freiheit, die wir uns erobern müssen, ist schlussendlich das Recht, nicht zu lügen.“ (Camus 2021, 53). Die Idee finde ich interessanter, sie ist einfacher anwendbar und gibt jedem von uns eine klare Idee, was es heißt, frei zu sein. Allerdings wird diese Idee nur einmal vorgetragen und ich bezweifle, dass diese „Definition“ sich auf die späteren Aufrufe zur Wiedergewinnung der Freiheit anwenden lassen.

Außerdem - das ist für mich ein zweites Problem - benutzt Camus einen rhetorischen Kniff, den ich für wenig hilfreich halte – die Referenz zur Wahrheit, die natürlich stets auf Seiten der Unterdrückten steht. Wir haben es hier mit einem klassischen Beispiel der Wahrheitsrhetorik zu tun, wenn behauptet wird, dass jetzt gerade zwar das Böse an der Macht ist, aber, dass die Unterdrückten nicht aufgeben sollen, da sie die Wahrheit auf ihrer Seite haben. Und die Wahrheit wird am Ende natürlich siegen. Natürlich kann „das Böse“ genau dasselbe behaupten und das mit demselben Recht und derselben Plausibilität. Denn „die Wahrheit“ kann sich nicht melden, um einer der Konfliktparteien zuzustimmen und die andere zu verurteilen. Daher ist das Anrufen der Wahrheit in dieser Situation Ausdruck der Hoffnung, dass die Menschen, zu denen man spricht, nicht aufgeben, das zu tun, was Camus für richtig hält, aber mehr auch nicht. Das ist kein metaphysischer oder epistemologischer Punkt, sondern ein psychologischer. Aber wenn dem so ist, wäre mir lieber, er würde offen dazu stehen, und nicht versuchen, seine Meinungen und inneren zustände mittels der Wahrheit in der Wirklichkeit zu verankern.

Spannend fand ich auch, dass der junge Camus der Philosophie eine große Rolle im kulturellen Leben zugedacht hat. In den frühen Texten kann man immer wieder die Idee finden, dass vor allem durch Hegel und Nietzsche unsere heutige, defizitäre Kultur hat entstehen können. Ich finde es nett, dass Camus denkt, dass Philosophen, Randfiguren des kulturellen Lebens, einen derart signifikanten Einfluss auf unser aller Leben haben können. Auch heute wird man viele Menschen finden – zumindest unter denen, die Philosophie studiert haben – die etwas ähnliches behaupten. Nichtsdestoweniger kann ich ein derart übersteigertes Selbstwertgefühl leider nicht allzu ernst nehmen.




Wir alle sind Kinder der Götter. Wenn Gräber reden könnten.

von Erich von Däniken

19.03.2024

Erich von Däniken zu belächeln, gehört zum guten akademischen Ton. Ich werde dem Gegenüber versuchen, Aspekte des vorliegenden Textes zu finden, aus denen man trotz allem fruchtbar machen kann. Die folgenden Überlegungen sind in „Verbesserungsvorschläge“ und „wissenschaftsphilosophische Überlegungen“ getrennt.

Anmerkung

Ich denke nicht, dass es sich bei dem Disput zwischen von Däniken (und der Prä-Astronautik) und der Geschichtswissenschaft um einen Widerstreit handelt. Denn meiner Ansicht nach akzeptieren alle dieselben grundlegenden Regeln, sie sind nur unterschiedlicher Meinung, welche Entitäten diese Regeln als plausibel auszeichnen. von Däniken und Josef Staudinger befinden sich hingegen in einem Widerstreit.


I.

von Däniken hätte sich, denke ich, das Leben leichter machen können, wenn er sich einige stilistische Eigenheiten erspart hätte.

Einschübe von Reiseberichten – lange Teile des Buchs handeln davon, dass von Däniken mit verschiedenen Menschen durch Wüsten reitet, Steine betrachtet, mit Reiseführern handelt und Beobachtungen über die Bevölkerung anstellt. Reiseberichte sind natürlich ein florierendes literarisches Genre, aber es ist durch die inhärente Subjektivität nicht sehr hilfreich für von Dänikens anliegen in der scientific community ernstgenommen zu werden.

Alltagsrassismus – viele der Beobachtungen über Einheimische sind sehr schlecht gealtert, die Beschreibungen sind derart überzeichnet und unzeitgemäß, dass man sie nur peinlich berührt als Exzentrik abtun kann – immerhin sind sie nicht schlimmer als das. Hier ein Beispiel:

Ralf und ich bestellten ein Omelette mit frischen Champignons, unsere Begleiter gaben dem Kellner ihre Bestellung auf Arabisch, er kritzelte die Order auf seinen Block. Wir hatten unser “Omelette” - zwei Spiegeleier mit Büchsenchampignons - gegessen, als unseren Jemeniten zwei saftige T-Bone-Steaks serviert wurden. Sie rührten sie nicht an. Ich setzte meine Gestensprache fort, etwa wie man Kleinkinder zum Essen ermuntert: Happ-happ. Nichts geschah. Wie hypnotisiert hockten sie vor ihren Fleischbatzen, vor ihren Tellern mit Messer und Gabel. Ob sie stumm in sich hinein beteten? Da durfte man nicht stören. Mich erleuchtete ein Gedankenblitz. Ich ergriff den Knochen eines T-Bone-Steaks und führte ihn animierend zum Munde. Der Bann war gebrochen: Befreit lächelnd langten sie schmatzend mit den Fingern zu. Nach einigen beachtlichen Rülpsern ließen unsere Gefährten erkennen, daß einem Aufbruch nichts mehr im Wege stand. (von Däniken 1987, 13).

Verschwörungstheorieansätze – ich würde nicht sagen, dass es sich bei von Däniken um einen Verschwörungstheoretiker handelt, dafür kommt zu wenig Verschwörung in seinen Darstellungen vor – üblicherweise. Zumeist schreibt von Däniken es der Dummheit, der Ignoranz und der Angst zu, wenn seine Theorien keinen breiteren Anklang finden. Doch es gibt manchmal auch stellen, die suggerieren, dass es sich um eine Verschwörung des wissenschaftlichen Establishments handelt, die seine Bücher in der Vergessenheit drängen wollen.

Wären erste Zellen in einer Methan-Ammoniak-Atmosphäre gediehen, hätte sie hinzutretender Sauerstoff sofort umgebracht. Das wird von niemandem ernsthaft bestritten. Warum wird in Lehrbüchern darauf nicht hingewiesen? Warum werden Fakten aus den chemobiologischen Experimenten verschwiegen? Warum werden mathematische Berechnungen verheimlicht? (von Däniken 1987, 231)

Sprunghafter Stil – das Buch wirkt, wie die meisten seiner Bücher sehr sprunghaft und unfokussiert. Zuerst handelt es relativ lange von Salomon und seinen Liebschaften (inklusive Reiseberichten), dann von dem Verschwinden der minoischen Kultur, dann von fehlenden Prophetengräbern, dann von Genexperimenten und schließlich von Ufos. Die Abschnitte haben nicht wirklich viel miteinander zu tun, außer, dass sie durch von Dänikens Re-interpretation zusammengehalten werden. Aber es hätte dem Buch gutgetan, wenn man sich auf eine dieser Themen fokussiert hätte um dieses dann in größerer Genauigkeit abzuhandeln.




weltsicht
Weltsicht



weltsicht

II.

Ab und an finden sich in diesem Buch auch Betrachtungen zur „Erkenntnistheorie der Prä-Astronautik“, die ich spannend finde. Leider sind sie nicht in einem Kapitel gebündelt, sondern finden sich eher beiläufig und in Nebensätzen. Hier einige Punkte, die mir aufgefallen sind.

Ich denke, wir können die Situation der Prä-Astronautik mit der Lage zu vergleichen in der sich die Psychoanalyse einige Jahrzehnte nach ihrer Gründung wiederfand. Es gibt eine Normalwissenschaft, in der die epistemischen Abläufe klar geregelt sind – was gilt als Evidenz, was kann den Rang einer „Tatsache“ beanspruchen, welche Quellen kann man als glaubwürdig zitieren, und so weiter. Und dann betritt eine neue Betrachtungsweise das Spielfeld, die mit demselben (oder einem sehr ähnlichen) Set an Ausgangsbeobachtungen startet, aber sie anders gewichtet und interpretiert. Wenn sie sich in zu vielen Ausgangsbeobachtungen ähneln, muss die Normalwissenschaft das als Angriff werten und sich verteidigen – was in beiden Fällen geschah, und das auf relativ ähnliche Weise.

Der Psychoanalyse wie der Prä-Astronautik wurde (und wird) vorgeworfen un- oder pseudowissenschaftlich zu sein, Fakten zu verdrehen, Evidenzen zu ignorieren, Verbindungen zu erfinden, wo es keine gibt, und so weiter. Kurz: die Spieler eines Sprachspiels werfen den Spielern eines anderen Sprachspiels vor, dass sie ein anderes Sprachspiel spielen. Ganz wie Wittgenstein es in Über Gewißheit formulierte: „Wo sich wirklich zwei Prinzipien treffen, die sich nicht miteinander aussöhnen, da erklärt jeder den Andern für einen Narren und Ketzer.“ (Wittgenstein 1969, §611)

Ich denke letztlich, dass diese Vorwürfe aus dem Lager der Wissenschaft im Falle der Prä-Astronautik gerechtfertigt sind. Aber ich bin mir nicht sicher, ob sich von Däniken das zu Herzen nehmen sollte (er tut es jedenfalls). Und auch wir können aus alternativen Betrachtungsweisen viel lernen. In diesem konkreten Fall vor allem darüber, wie ein „Widerstreit“ funktioniert. Das ist Jean-François Lyotards Begriff dafür, was passiert, wenn zwei Sprachspiele aufeinanderstoßen, die keine gemeinsame Basis haben, keine Regeln, die durch ein übergeordnetes Sprachspiel legitimiert werden und die den Fall schlichten könnten (anders ausgedrückt, wenn Sprachspiele aufeinandertreffen, die inkommensurabel sind). Man kann sich darum in einem Widerstreit nicht auf „Rationalität“, „Wahrheit“ oder „Wirklichkeit“ berufen, da alle diese Begriffe (sowie alle ihre Verwandten) innerhalb ihres Sprachspiels ihre Bedeutung bekommen und innerhalb des Sprachspiels auf bestimmte Weise miteinander verknüpft werden.

So einen Widerstreit haben wir hier vor uns, denke ich. Naturwissenschaftlich gesinnte Menschen werfen der Prä-Astronautik (wie der Psychoanalyse) vor, pseudowissenschaftlich zu sein. Aber was heißt das? Es heißt, dass diese Menschen beleidigt sind, dass einige Regeln ihres Sprachspiels ignoriert werden. Und sie können ins Treffen führen, dass ihr Sprachspiel sehr gut funktioniert, und üblicherweise unterfüttern diese „Verteidiger der Wissenschaft“ diese These damit, dass die Wissenschaft so gut funktioniert, weil sie nun mal „die Welt abbildet, wie sie wirklich ist“. Zumindest ist das ein Zug in ihrem Sprachspiel. Wenn wir ein anderes Sprachspiel spielen wollen, muss uns diese Feststellung also nicht notwendigerweise interessieren – auch was „gut funktionieren“ bedeutet, hängt vom Sprachspiel ab.

Ich denke, von Däniken würde daher gut daran tun, nicht zu argumentieren, dass seine Theorie die bessere Repräsentation der „Welt, wie sie wirklich ist“ darstellt oder die „Wahrheit hinter den religiösen Texten findet“. Lieber sollte er – ähnlich wie Louis Pauwels und Jacques Bergier – auf den imaginativen Teil fokussieren, darauf, dass er Dinge, die uns allen bekannt und vielleicht auch ein wenig langweilig sind (so viele große Steine!) auf eine Weise erklären kann, die unser ganzes Selbstbild beeinflussen könnte.

Ein weiterer Aspekt, in dem sich Wissenschaft und Prä-Astronautik unterscheiden, scheint der Begriff der „Objektivität“ zu sein. Hier von Däniken:

Koran wie Altes Testament sind Fundgruben geheimnisvoller Mitteilungen. Die "Wahrheit", die es zu finden gilt, findet sich nicht im Rankenwerk der Erzählungen, sondern in deren Kern. Für die Spurensuche ist der Kompaß mit Fragen einzustellen wie: Was will der Legendenerzähler eigentlich mitteilen? Was kennt er selbst nur vom Hörensagen, und was hat er erlebt? Es ist der Kern der Überlieferungen, der immer wieder für Überraschungen sorgt. (von Däniken 1987, 54)

Das ist ein spezielles Bild von Objektivität, die Lorrain Daston und Peter Galison als „Naturwahrheit“ bezeichnet haben, eine Art der Objektivität, die der mechanischen Abbildung ohne Eingriff durch Menschen voranging (Daston/Galison 2007, 55ff). Hier benötigt man eine kundige Spezialistin, die aus dem Wust der Einzeldinge den Kern erkennen kann. Das Beispiel von Daston und Galison ist die „Idee eines Blattes“. Wir können uns hunderte Eichenblätter ansehen, jedes einzelne wird sich in vielen Kleinigkeiten von den anderen unterscheiden. Aber wenn man zum Beispiel ein Eichenblatt in einem Atlas abbilden möchte, dann muss man „das Eichenblatt“ abbilden, eines, dass die „Idee“ des Eichenblattes ausdrückt. Und um diese Idee zu Erkennen und abzubilden, benötigt man Gelehrte, die über das nötige Wissen verfügen, um die wesentlichen Aspekte einer Sache zu erkennen. Natürlich – was als das „Wesentliche“ gilt, unterscheidet sich von Sprachspiel zu Sprachspiel.

Aber das ist es, was von Däniken an mehreren Stellen herbeiwünscht. Endlich jemanden, der die Teile richtig verbindet, der das Unwesentliche als solches erkennt und nur das Wesentliche, den Kern der Sache darstellt. Natürlich ist von Dänikens Hoffnung, dass solch ein Genius zu genau den Schlussfolgerungen kommen würde, die er selber zieht. Ein Beispiel:

Es ist zu grotesk, daß mir just jene Kritiker - die jedes Bibelwort für heilig und von Gott inspiriert deklarieren - vorwerfen, ich würde alles zu wörtlich nehmen. In der Tat! Ich nehme die biblischen Überlieferungen dort als Fakten, wo sie erkennbare Ereignisse schildern. (von Däniken 1978, 178, Hervorhebung im Original)

Es braucht hier einen geübten Verstand und ein genaues Auge, um diese erkennbaren Ereignisse aus dem Dickicht der Jahrtausende zu holen, wenn es so einfach wäre – so das Sprachspiel – dann hätte sich diese Ansicht schon vor langer Zeit etabliert.

Allerdings denke ich, dass diese Herangehensweise, diese Rhetorik nicht der bestmögliche Weg ist, um das Sprachspiel der Prä-Astronautik zu bewerben. Es wäre besser, nicht so zu tun, als würde man dieselben begrifflichen Mittel einsetzen wie die Wissenschaften, und das Ganze mit dem Zusatz zu versehen, dass man sie dieses Mal endlich richtig einsetzt. Man sollte nicht versuchen mit den Wissenschaften auf ihrem Spielfeld zu konkurrieren, sondern sich ein neues Spielfeld suchen. Lieber nicht die „Wirklichkeit“ und die „Fakten“ betonen, sondern den „kreativen Zugang“ und die „Möglichkeiten“.


Metaphors make the world

by Benjamin Santos Genta

10.02.2024

I enjoyed this article very much as it shows in a very captivating way how a rather abstract topic – our language understood as “fossil poetry” – can be seen to have very direct influence on our everyday life.

What is meant by “fossil poetry”? This way of putting it is taken from Ralph Waldo Emerson and it is an artistic way of saying that we can describe language as consisting of mainly metaphors. Benjamin Santos Genta follows Mark Johnson and George Lakoff in arguing that we understand our more abstract concepts by means of more direct concepts in that we use the latter as a metaphorical blueprint for the former. In this way the abstract concept “romantic love” can be understood by different metaphorical means, such as “romantic love as war” or “romantic love as a journey”. The former, abstract concept is understood against the background of the metaphorically used, more direct concept that it easier to understand. (By "easier" I simply mean that right now there is less discussion about the meaning of the concept – when we try to explain romantic love as journey, the idea of journey is relatively clear and easily understandable).

Other examples are “ideas as plants” – then ideas can grow, the seed of an idea can be put into someone’s mind, or they can wither away – an “argument as a dance” – then it is not about winning the argument but about producing a good result by working together, or “the world as a book” – as something that can be read and understood and has a conscious author.

Santos Genta now provides us with another pair of metaphors and shows how they directly influence how people see the world around them and make decisions (he writes the conceptual metaphors presented in quotation marks here in capital letters):

Empirical studies support this intuition: having different conceptual metaphors in mind, people will tend to make different decisions in the same context (a reasonable indicator that they harbour different concepts). In one such study, two groups were shown a report on the rising crime rate in a city. One group received a report that opened with the statement ‘Crime is a virus ravaging the city,’ while the other group received a report that started with ‘Crime is a beast ravaging the city.’ The two groups were thus primed to metaphorically structure the concept of crime with two distinct concepts: virus or beast. They were then asked about which measures they would implement to solve the crime problem. Those who were primed to have the conceptual metaphor CRIME IS A BEAST were much more likely to recommend punitive measures, such as increasing the police force and putting criminals in jail (just as one would, presumably, put a beast in a cage). Those who were primed to entertain CRIME IS A VIRUS tended to suggest measures that are associated with epidemiology: to contain the problem, to identify the cause and treat it, and to implement social reforms. Remarkably, the participants were not aware of the effect these metaphorical framings had on their choices. When asked why they chose the solutions they did, respondents ‘generally identified the crime statistics, which were the same for both groups, and not the metaphor, as the most influential aspect of the report.’ (Santos Genta 2024)

Here we see a clear and lowkey example of how metaphors influence our decisions and how we see the world very directly. In this way, the article gives us a very concise understanding of a central part of my project – changing the metaphors we use do conceptualize some intellectual aspects of the world. Here, I am interested in a special nest of metaphors: “philosophy as arts”, “the self as story”, "language as a set of tools”, "eyerything as entity", "intuitions as linguistic gut-feelings", and so on.

Therefore, this is one way this article helped me – to see again that the background of my project is not as outlandish as I may think sometimes. A second aspect is that I got reminded of how ubiquitous metaphors are and how they indirectly and very directly influence our actions and our behaviour (linguistic and otherwise). They are not just an airy idea intellectuals come up with when they are not bothered by anything else but a way of understanding language – “language as fossil poetry” – how we can influence our surroundings with these tools, and what positive impact intellectuals have who try to forge (!) new metaphors.




Was ist also Wahrheit? Ein bewegliches Heer von Metaphern, Metonymien, Anthropomorphismen, kurz eine Summe von menschlichen Relationen, die, poetisch und rhetorisch gesteigert, übertragen, geschmückt wurden und die nach langem Gebrauch einem Volke fest, kanonisch und verbindlich dünken: die Wahrheiten sind Illusionen, von denen man vergessen hat, daß sie welche sind, Metaphern, die abgenutzt und sinnlich kraftlos geworden sind, Münzen, die ihr Bild verloren haben und nun als Metall, nicht mehr als Münzen, in Betracht kommen.

Friedrich Nietzsche - Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinn










Thirteen Ways of Looking at Art

by William Deresiewicz

22.02.2024

Art is for beauty's sake

Art is for truth

Art is for justice (above and beyond mere law)

Art is good for us

Art is for Bildung (this is, to become an individual)

Art is for constituting the tribe

Art is for connection to humanity

Art is for cultural capital

Art is for equipping us for modern life

Art is for civilizing us

Art is for artists

Art is for plurality

Art is for increasing life

This is the list of different ways to define what the purpose of art is, gathered by William Deresiewicz. Each of these ways is interesting in its own respect and also in combination since they seem to cover all possibilities – art is the subjects defence against disappearing into her culture but also the way of connecting with culture or even the whole of humanity. Art is the search for (personal) truth, for justice, a political endeavour and also necessarily an apolitical stance.

This list could be continued. An important point for me is, that this article very nicely shows how the definition of an entity depends on the purposes and the background of the people using it. Given different language games, I would say that all these thirteen ways (and even many more) are possible routes to go, all of them can be helpful and enable us to make different moves in different situations.

Another important point is subsumed under the last meaning of the list – art is for increasing life. Here Deresiewicz seems to have something similar in mind as Herman Hesse tried to express in his book Klingsors letzter Sommer. Art – in this understanding – enriches the inner world of a human being, gives a deeper meaning by letting us feel new and unexpected things in unprecedent intensity. Deresiewicz writes:

I was listening to Abbey Road the other day. Somewhere between “You Never Give Me Your Money” and “Golden Slumbers,” I finally understood Nabokov’s definition of aesthetic bliss: “a sense of being somehow, somewhere, connected with other states of being where art (curiosity, tenderness, kindness, ecstasy) is the norm.” It is in this respect, and this one only, that art is utopian (and the reason that it gets dragooned for service to political utopias, which are a completely different kind of thing). (Deresiewicz 2024)

I would add that this “other states of being” are not states in the outside world but states of one’s own mind and narrative and future possibilities therein. Art shows us what else is possible, how different we could be and therefore how different we could experience the world. What new wonders we could find, if we try out new narratives and new takes on the world, on our place in it and on our relations to other beings.

At this point Deresiewicz seems to make a turn to a "spiritual interpretation" of the story - a turn I am not willing to take. Instead of founding arts in spirituality I would prevent any attempt of providing a foundation. I’d rather express my hope, that art helps us to make the future more interesting and thrilling than the past.






Do our lives need a story?

by Michael Steinberg

30.01.2024

In this blog article Michael Steinberg opposes the idea that the human life and maybe also the subject as a whole are best understood as a story or narrative. His reason for this is… well, that this does not fit together with what Johann Gottlob Fichte said. This is obviously an enthymeme but, I believe, ultimately adequate - although Steinberg will oppose this description of his reasons for writing the article. It will come (hopefully) as no surprise that generally I deem such reasons for writing a text to be valid but I think that in this particular case, Steinbergs reason leads him to an unhelpful description of the situation.

Steinberg says that there are two levels to the claim that the self is best understood as a narrative: a descriptive one expressed in the words of Oliver Sacks which Steinberg cites here: “each of us constructs and lives a ‘narrative’ ... this narrative is us, our identities”; and a normative one that we also ought to do so in order to find the meaning of our life.

Steinberg then cites Galen Strawson and Friedrich Schiller (which surprised me positively since I rarely see him cited in philosophical discussions) in favor of his claim that the idea of the self as a narrative is fatally flawed. At the climax we can read:

“Our lives are richer and fuller in every moment than any story could comprehend, and so long as we live we can never see them whole and entire. Every rounded autobiographical narrative must therefore freeze us in place and commit us to a Procrustean shape-giving of something ungraspable. To identify ourselves with any story we could possibly tell about ourselves is at heart an act of violence.” (Steinberg 2024)

I have some problems with this passage, though. The first one is technical – throughout the whole critical part of Steinberg’s article I am not sure if he is presenting Strawson’s view, or Schiller's view on the topic, or if this is own conclusion (or both). But I can circumvent this problem of understanding by saying: whoever states something like that has a not so helpful take on the matter. Why? Let’s take the paragraph apart:

“Our lives are richer and fuller in every moment than any story could comprehend,”

I am not sure if I accept this claim to begin with because I do not know what would be the case if this is correct (or not the case). What difference does this claim make? The only reaction to this sentence I can think of is “Well, if you say so…?” but apart from that there is not much to say about this. Contrary to the statement, I do not think that this is the case. Otherwise put I bring forward the exact opposite of this claim and the answer again would be “Well, if you say so…?”.

I have an idea where this claim comes from, though. It seems to be about the dimension of qualia being lost when the self is understood as story (since a story notoriously cannot transport any qualia to its readers). But qualia are problematic. They shall by definition lay outside of the domain of propositional knowledge and language. Do they really? Please describe in further detail how they do. The problem becomes apparent in this pointed formulation: qualia is an entity which has as part of its description that it is indescribable. Yes, we can play our language games with such concepts – but it is dubious if you can make any significant moves in any language games with "indescribable entities" such as qualia.

“and so long as we live we can never see them whole and entire.”

Yes, that is the point (at least for me). We are never completed or a whole, our narrative is never finalized until we die. But I deem this to be a great thing. We can develop our stories and thereby ourselves in so many different, unforeseen directions. In my preferred way of describing it, the future is open to us changing, not to us getting to know thyself (which means that we should try to entbergen something that has been there all along).

“Every rounded autobiographical narrative must therefore freeze us in place and commit us to a Procrustean shape-giving of something ungraspable.”

I honestly see no way, how we can come to this conclusion given the above-mentioned premises (also, I think we should not come to this conclusion). Since when does a narrative have this absolute stability and interpretative power over its readers? Rather I take this to be one of the best features of the self as a narrative – that it can be reworked whenever it seems fit. In other words: people can change if they want to.

“To identify ourselves with any story we could possibly tell about ourselves is at heart an act of violence.

Again, I do not see where this comes from, this conclusion is in my view totally uncalled for. Also, the “identify” still indicates that there is something that has to be identified with the story. But that falls short of the power of the claim of a narrative self. We would not say that there are two things to be identified as being one. Rather its more helpful to describe the situation in such a way to only have one entity: a self, a narrative. Given this, I think we should redescribe the whole paragraph to read something like this:

“Our lives are as rich and full in every moment as any story can make it, and so long as we live, we luckily never see them whole and entire. Every autobiographical narrative must therefore release us from the commitment to a Procrustean shape-giving of something ungraspable. To understand ourselves as a story we can plausibly tell about ourselves is at heart an act of freedom and creativity.”

In short: the article shows that its author does not like the idea of the self as a narrative. No argument is provided to this conclusion, nor do I think any argument can be provided. It shows where the author comes from: German idealism and qualia theory. Given this, he is not prone to deem the idea of a narrative self as plausible since it runs counter too many of his dearest beliefs. Fair enough. But then again, the article does not show more than that - and neither does my comment.




Der Weg des Menschen

von Martin Buber

12.01.2024

Als Rabbi Schneur Salman, der Rabbiner von Reussen, weil seine Einsicht und sein Weg von einem Anführer der Mitnagdim [Gegner der chassidischen Lehre] bei der Regierung verleumdet worden waren, in Petersburg gefangen sass und dem Verhör entgegensah, kam der Oberste der Gendarmerie in seine Zelle. Das mächtige und stille Antlitz des Rabbiners, der ihn zuerst, in sich versunken, nicht bemerkte, liess den nachdenklichen Mann ahnen, welcher Art sein Gefangener war.

Wir beginnen ein wenig wie in einem Dostojewski Roman. Der heilige Mann, der in einem Kellerloch sitzt, dem aber die Widrigkeiten der profanen Welt nichts anhaben können. Alles ist darauf ausgelegt, zu zeigen, dass die religiöse Ebene über der menschlichen Ebene liegt, die weltliche Justiz kann dem "Mann Gottes" nichts anhaben, ganz egal, wie der Richtspruch lauten wird.
Das ist eine wichtige narrative Strategie religiöser Sprachspiele um sich gegen Kritik zu immunisieren. Das unmittelbare Gefühl, dass diese zur Schau gestellte Überheblichkeit erzeugen soll ist: "Jeder, der das hier kritisiert, ist nicht einmal klug genug um zu verstehen worum es geht!". Genau dieser salbungsvolle Überheblichkeitsduktus ist es, der mich an diesen Sprachspielen zutiefst anwidert und abstößt. Jeder Funken intellektuelle Redlichkeit in mir schreit "Nein, so soll man sich - und das, was einem wichtig ist - nicht beschreiben!" Man sollte nicht versuchen, auf diese Weise Ehrfurcht zu erzeugen, kein Sprachspiel verdient per se Ehrfurcht.

Er kam mit ihm ins Gespräch und brachte bald manche Frage vor, die ihm beim Lesen der Schrift aufgetaucht war. Zuletzt fragte er: “Wie ist es zu verstehen, dass Gott der Allwissende zu Adam spricht: ‘Wo bist du?’” “Glaubt Ihr daran”, entgegnete der Rabbiner, “dass die Schrift ewig ist und jede Zeit, jedes Geschlecht und jeder Mensch in ihr beschlossen sind?" “Ich glaube daran”, sagte er.

Ein kurzes Aufflackern eines anderen Sprachspieles – sollte es möglich sein, dass JHWH, der doch allmächtig und allwissend ist, in dieser Situation nicht wusste, wo Adam sich befindet und ihn daher suchen musste? Doch dann gleich die Rückversicherung: auch die weltliche Justiz erkennt doch wohl, dass sie sich der Sphäre des Heiligen zu beugen hat - so will es zumindest das chassidische Sprachspiel, aus dem diese Erzählung stammt. Damit wird der Oberst narrativ schon in eine schlechte Position gebracht, weil er mit diesem Zugeständnis akzeptiert, dass der Rabbiner die intellektuelle Oberhand hat.

“Nun wohl”, sprach der Zaddik [Anführer der Gemeinde], “in jeder Zeit ruft Gott jeden Menschen an: ‘Wo bist du in deiner Welt? So viele Jahre und Tage von den dir zugemessenen sind vergangen, wie weit bist du derweilen in deiner Welt gekommen?’ So etwa spricht Gott: ‘Sechsundvierzig Jahre hast du gelebt, wo hältst du?’”

Man sollte antworten, dass diese Bibelstelle leider einfach nicht davon handelt, was der Rabbiner hier sagt, sein Gleichnis ist ad hoc. Sehr viel plausibler ist es, sich anzusehen, wie der besagte Bibeltext zustande gekommen ist. Und hier können wir sehen, dass er vergleichsweise alt ist, aus einer Zeit, als die Juden noch nicht die Idee hatten, dass es nur einen Gott gäbe und dass dieser JHWH allmächtig sei (ähnliches gilt für die Geschichte von Iob oder von Aschera). JHWH wurde damals als sehr mächtig beschrieben, ja, aber nicht allmächtig. Und so ist es leicht verständlich, dass Adam sich vor ihm verstecken konnte. Dass JHWH später allmächtig werden würde, konnten die Autoren der frühen Bibelstellen leider einfach nicht wissen.

Als der Oberste die Zahl seiner Lebensjahre hörte, raffte er sich zusammen, legte dem Rabbiner die Hand auf die Schulter und rief: “Bravo!” Aber sein Herz flatterte.

Was geschieht in dieser Geschichte?

Auf den ersten Blick erinnert sie uns an talmudische Erzählungen, in denen ein Römer oder sonst ein Heide einen der jüdischen Weisen über eine biblische Stelle befragt, um einen angeblichen Widerspruch in der Lehre Israels aufzudecken, und eine Antwort empfängt, die entweder darlegt, dass kein Widerspruch besteht, oder auf andere Weise die Kritik widerlegt, woran sich zuweilen eine persönliche Zurechtweisung knüpft. Bald aber merken wir einen bedeutsamen Unterschied zwischen den talmudischen Erzählungen und der chassidischen, einen Unterschied, der freilich zunächst grösser erscheint als er ist. Die Antwort wird nämlich auf einer anderen Ebene gegeben als auf der die Frage gefragt worden ist.

Der Oberste geht darauf aus, einen angeblichen Widerspruch in der jüdischen Glaubenswelt aufzudecken. Die Juden bekennen sich zu Gott als dem allwissenden Wesen, aber die Bibel legt ihm Fragen in den Mund, wie sie jemand fragt, der etwas nicht weiss und es erfahren will. Gott sucht Adam, der sich versteckt hat, er ruft in den Garten hinein und fragt, wo er sich befinde; also weiss er es nicht, man kann sich vor ihm verbergen, also ist er der Allwissende nicht. Statt nun aber die Bibelstelle zu erklären und den scheinbaren Widerspruch aufzuheben, geht der Rabbi von ihr nur aus und benützt ihr Motiv, um dem Obersten eine Vorhaltung über sein eigenes bisheriges Leben, über den Unernst, die Gedankenlosigkeit und den Mangel an Verantwortungsgefühl in seiner eigenen Seele zu machen.

Vielleicht ist es das, warum ich derlei Geschichten so unerträglich finde. Mit welchem Recht glaubt der Rabbiner, einem anderen derartige Vorhaltungen machen zu dürfen? Weil er oft mit seinem imaginären Freund spricht? Weil es ihm zu Kopf gestiegen ist, dass er dafür Beachtung von anderen bekommt? Weil er sich selber sehr ernst nimmt? Wie genau man den Grund auch immer ausformuliert, ich denke, es ist nicht angezeigt, jemandem moralische Überlegenheit zuzuschreiben, einfach deshalb, weil er oder sie ein bestimmtes Sprachspiel spielt.
Wir sollten daher beide Aspekte der Situation nicht akzeptieren - dass der Rabbiner glaubt, er wäre berechtigt, Vorhaltungen zu machen und dass der Oberst diese unwidersprochen stehen (und damit gelten) lässt. Diese Arroganz ist, nach allem was ich für gut und richtig halte, die schlimmste (vielleicht sogar die einzige) intellektuelle Verfehlung, derer man sich schuldig machen kann.

Auf die sachliche Frage, die, mag sie hier auch ehrlich gemeint sein, doch im Grunde keine echte Frage, sondern nur eine Form der Kontroverse ist, wird eine persönliche Antwort erteilt, oder vielmehr, statt einer Antwort erfolgt eine persönliche Zurechtweisung.

Woher möchte Buber wissen dass es keine echte Frage war? In diesem beiläufigen Satz zeigt sich wieder die Arroganz, dass jeder, der das chassidische Sprachspiel kritisieren möchte, leider zu dumm ist, um überhaupt zu verstehen, worum es geht. Der Oberst kann ja wohl nicht ernsthaft einen Zweifel über diese biblische Erzählung vorbringen, er muss den heiligen Mann provozieren wollen - es ist undenkbar, dass er seinen gesunden Menschenverstand (ein anderes Sprachspiel) eingesetzt hat und dadurch zu einer kritischen Position gekommen ist - du sollst keine Sprachspiele neben mir haben!

Von jenen talmudischen Entgegnungen ist scheinbar nur die zuweilen daran geknüpfte Zurechtweisung übrig geblieben. Betrachten wir jedoch die Erzählung genauer. Der Oberste fragt nach einer Stelle aus dem biblischen Bericht von der Sünde Adams. Was der Rabbi antwortet, geht darauf heraus, dass er zu ihm sagt: “Du selber bist Adam, zu dir selber spricht Gott: ‘Wo bist du?’” Scheinbar hat er ihm über die Bedeutung der biblischen Stelle als solcher keine Auskunft gegeben. In Wahrheit aber beleuchtet die Antwort zugleich die Situation des von Gott befragten Adam und die Situation jedes Menschen allerzeit und allerorten.

Ein schönes Beispiel für zwei Dinge: der Einsatz der Wahrheitsrhetorik und wie diese Wahrheitsrethorik mit religiösen Sprachspielen aufs engste verwandt ist (und warum es besser wäre, beides fallen zu lassen).
Jetzt bekennt sich Buber vollends zu seinem chassidischen Sprachspiel und verallgemeinert von einer Erzählung zur conditio humana. Vordergründig handelt die Geschichte davon das JHWH Adam sucht, aber in Wahrheit geht es darum, das jeder Mensch sich vor JHWH versteckt ob er will oder nicht und auch ob er sich selbst so beschreibt oder nicht. Das weiß Buber offensichtlich besser als Menschen, die sich nicht so beschreiben würden.
Diese Konklusion wird man nur plausibel finden, wenn man das religiöse Sprachspiel mitspielt, aus dem es stammt. Ich finde nichts daran auch nur ansatzweise überzeugend, da ich aus einem ganz anderen Sprachspiel komme. Das ist ein gutes Beispiel dafür, wie die Plausibilität von Hintergrundannahmen abhängt, über die man oft nicht nachdenkt, weil man immer in ihnen gelebt hat. Wenn man sich dieser verschiedenen Sprachspiele (oder Paradigmen, Denkkollektiven,...) bewusst wird, dann erzeugt das eine ironische Distanz zu den Ansprüchen die diese Sprachspiele an einen stellen. Anders gesagt, man fühlt sich nicht mehr so, als müsste man bestimmte Dinge akzeptieren, "weil es sie nunmal gibt". Welche Entitäten es gibt hängt vom Sprachspiel ab, das diese Entitäten strukturiert und zueinander in Beziehung setzt. Buber zeigt uns ein mögliches Sprachspiel. Eines, das auf herrische Art von allen Menschen verlangt, dieses religiöse Sprachspiel anzunehmen und mitzuspielen. Ein Anspruch, der völlig unangemessen ist.

Der Oberste muss ja, sowie er die biblische Frage als an ihn selber gerichtet vernimmt und versteht, merken, was es bedeutet., wenn Gott fragt: “Wo bist du?”, sei die Frage nun an Adam oder an sonst einen Menschen gerichtet. Wenn Gott so fragt, will er vom Menschen nicht etwas erfahren, was er noch nicht weiss; er will im Menschen etwas bewirken, was eben nur durch eine solche Frage bewirkt wird, vorausgesetzt, dass sie den Menschen ins Herz trifft, dass der Mensch sich von ihr ins Herz treffen lässt.

Adam versteckt sich, um nicht Rechenschaft ablegen zu müssen, um der Verantwortung für sein Leben zu entgehen. So versteckt sich jeder Mensch, denn jeder Mensch ist Adam und in Adams Situation. Um der Verantwortung für das gelebte Leben zu entgehen, wird das Dasein zu einem Verstecksapparat ausgebaut. Und indem der Mensch sich so “vor dem Angesicht Gottes” versteckt und immer neu versteckt, verstrickt er sich immer tiefer und tiefer in die Verkehrtheit. So entsteht eine neue Situation, die von Tag zu Tag, von Versteck zu Versteck immer fragwürdiger wird. Diese Situation kann genau gekennzeichnet werden: dem Auge Gottes kann der Mensch nicht entgehen, aber indem er sich vor ihm zu verstecken sucht, versteckt er sich vor sich selber. Gewiss, es gibt auch in ihm ein Etwas, das ihn sucht, aber er macht es diesem Etwas immer schwerer, ihn zu finden.

So ist er eben, der Mensch. Zumindest laut dem chassidischen Sprachspiel, dass die Entität Mensch auf bestimmte Weise ausformuliert. Aber man sollte sich nicht allzu sehr beeindrucken lassen von dieser Beschreibung, naturwissenschaftliche Sprachspiele stellen einen konkurrierenden aber in seiner Reichweite ähnlichen (und meiner Ansicht nach ähnlich unangemessenen) Anspruch, indem sie dem Menschen ein anderes Wesen beilegen.

In diese Situation hinein fällt die Frage Gottes. Sie will den Menschen aufrühren, sie will seinen Verstecksapparat zerschlagen, sie will ihm zeigen, wo er hingeraten ist, sie will in ihm den grossen Willen erwecken, heraus zu gelangen.

[...]

Mit jedem Menschen ist etwas Neues in die Welt gesetzt, was es noch nicht gegeben hat, etwas Erstes und Einziges. “Pflicht ist es jedermanns in Israel zu wissen und zu bedenken, dass er in der Welt einzig in seiner Beschaffenheit ist und es ist noch kein ihm Gleicher auf der Welt gewesen, denn wäre schon ein ihm Gleicher auf der Welt gewesen, er brauchte nicht auf der Welt zu sein. Jeder Einzelne ist ein neues Ding in der Welt, und er soll seine Eigenschaft in dieser Welt vollkommen machen.

Für uns ist das sicherlich die spannendste Idee im religiösen Sprachspiel Bubers (und vielleicht auch in dem der chassidischen Lehre). Wie wir weiter unten noch sehen werden, deckt sich diese Grundidee mit einer zentralen Idee der Utobiographie - auch wenn Buber durch völlig andere Mittel dazu kommt. Ist es dann dieselbe Idee? Laufen mein Sprachspiel und das von Buber auf dasselbe hinaus? Nein, ich denke nicht, dass wir das sagen sollten. Denn auch wenn die Konklusion dieselbe ist (oder zumindest fast), ist die ganze narrative Umgebung eine andere. Das wäre so, wie zu sagen, dass die moderne Physik und die antiken Atomisten letztlich dieselbe Theorie präsentiert haben, da beide von “Atomen” reden. Auch hier sollten wir sagen, dass beide einen kleinen Teil haben, in dem sie sich überschneiden, aber dass die Entitäten, die benutzt werden, letztlich sehr verschieden sind. Denn sie beinhalten eine ganze Menge anderer Beschreibungen und man kann sie in ganz anderen Kontexten verwenden.

Denn wahrlich: dass dies nicht geschieht, das ists, was das Kommen des Messias verzögert.” Dieses Einzige und Einmalige ist es, was jedem vor allem auszubilden und ins Werk zu setzen aufgetragen ist, nicht aber, noch einmal zu tun, was ein anderer, und sei es der grösste, schon verwirklicht hat.

Hier ist beispielsweise ein Unterschied zwischen meinem und Bubers Sprachspielen - meiner Ansicht nach gibt es bei einem Selbstentwurf nichts ins Werk zu setzen, es gibt für uns kein menschliches Wesen, das es zu erfüllen gilt (auch nicht in der netten Idee, dass jedes Wesen einzigartig ist).

Der weise Rabbi Bunam sagte einmal im Alter, als er schon erblindet war: “Ich möchte nicht mit Vater Abraham tauschen. Was hätte Gott davon, wenn der Erzvater Abraham wie der blinde Bunam würde und der blinde Bunam wie Abraham?” Und mit noch grösserer Eindringlichkeit ist dasselbe von Rabbi Susja ausgesprochen worden, als er kurz vor dem Tode sagte: “In der kommenden Welt wird man mich nicht fragen: ‘Warum bist du nicht Mose gewesen?’ Man wird mich fragen: ‘Warum bist du nicht Susja gewesen?’” Wir haben hier eine Lehre vor uns, die auf der Tatsache aufgebaut ist, dass die Menschen in ihrem Wesen ungleich sind, und die demgemäss sie nicht gleichmachen will. Alle Menschen haben Zugang zu Gott, aber jeder einen andern. Gerade in der Verschiedenheit der Menschen, in der Verschiedenheit ihrer Eigenschaften und ihrer Neigungen liegt die grosse Chance des Menschengeschlechts.

Noch ein Unterschied: "Zugang zu Gott" ist kein wichtiger Zug in meinem Sprachspiel. Es bedeutet nichts, weil keine der dafür relevanten Entitäten in meinem Sprachspiel eine Funktion (und also Bedeutung) haben.

Gottes Allumfassung stellt sich in der unendlichen Vielheit der Wege dar, die zu ihm führen, und von denen jeder einem Menschen offen ist. Als etliche Schüler eines verstorbenen Zaddiks zum “Seher” von Lublin kamen und sich darüber wunderten, dass er andere Bräuche als die ihres Lehrers hatte, rief er: “Was wäre das für ein Gott, der nur einen einzigen Weg hätte, auf dem man ihm dienen kann!" Aber indem jeder Mensch von seinem Punkt aus, von seinem Wesen aus zu Gott zu kommen vermag, vermag, auf allen Wegen vordringend, das Menschengeschlecht als solches zu ihm zu kommen. Gott sagt nicht: “Das ist ein Weg zu mir, das aber nicht”, sondern er sagt: “Alles was du tust, kann ein Weg zu mir sein, wenn du es nur so tust, dass es dich zu mir führt." Was aber dies ist, das eben dieser Mensch und kein anderer tun kann und tun soll, kann ihm nur aus ihm selber offenbar werden.

Wiederum - die Thematik des “Bei Gott ankommen” ist ein Zug des religiösen Sprachspiels, für den ich keinerlei Verwendung habe. Ein Zug, den man in beiden Spielen machen kann, ist allerdings dieser: es ist erstrebenswert, seine eigene Individualität auszudrücken. Im religiösen Sprachspiel, um zu Gott zu gelangen, in meinem Sprachspiel, um zu entwerfen, wer man werden könnte. In meinem Fall gibt es keine äußere Instanz, der dieses individuelle Wesen gestaltet hat, auf dessen Erfüllung wartet oder dem gegenüber wir Rechenschaft schuldig sind. Überhaupt sollte man, denke ich, nicht sagen, dass es beim Ausdruck der Individualität darum geht, dem “eigenen Wesen gerecht zu werden”. Denn es steht gerade nicht fest, was dieses Wesen sein könnte, es scheint mir wenig hilfreich ein Ziel zu postulieren, auf das der Narrativ des Selbstentwurfs hinsteuert. Was das Ziel sein könnte, hängt vom Narrativ ab und wird sich des Öfteren ändern (oder kann es zumindest, im besten Fall).

(Der größere Text ist der Originaltext von Martin Buber (zitiert nach Buber 1943, 1-9 und 12-14) der kleinere Text sind meine Kommentare dazu.)



Wo warst du da eigentlich, als die Bomben brüllten, lieber Gott? Oder warst du lieb, als von meinem Spähtrupp elf Mann fehlten? Elf Mann zu wenig, lieber Gott, und du warst nicht da, lieber Gott. Die elf Mann haben gewiß laut geschrien in dem einsamen Wald, aber du warst nicht da, einfach nicht da, lieber Gott. Warst du in Stalingrad lieb, lieber Gott, warst du da lieb, wie? Ja? Wann warst du denn eigentlich lieb, Gott, wann? Wann hast du dich jemals um uns gekümmert, Gott?

[…]

Oh, wir haben dich gesucht, Gott, in jeder Ruine, in jedem Granattrichter, in jeder Nacht. Wir haben dich gerufen. Gott! Wir haben nach dir gebrüllt, geweint, geflucht! Wo warst du da, lieber Gott? Wo bist du heute abend? Hast du dich von uns gewandt? Hast du dich ganz in deine schönen alten Kirchen eingemauert, Gott? Hörst du unser Geschrei nicht durch die zerklirrten Fenster, Gott? Wo bist du?

Wolfgang Borchert - Draußen vor der Tür


Einige Monate in meinem Leben.

von Michel Houellebecq

25.12.2023

Als 1975 der autobiographische Text Montauk von Max Frisch erscheint, stößt er auf gemischte Reaktionen. Die einen, insbesondere nahestehende Personen von Frisch finden den Roman unangemessen persönlich. Die anderen, vor allem Literaturkritiker, finden in dem Versuch, das eigene Leben als Kunstwerk zu inszenieren einen spannenden neuen Zugang für Frischs Werk. Alles in allem hat es Montauk mittlerweile in den Literaturkanon geschafft, als Werk, in dem das private und persönliche Leben des Autors mit seinem künstlerischen, literarischen Schaffen verschmilzt.

Als 2023 der autobiographische Text Einige Monate in meinem Leben von Michel Houellebecq erscheint, stößt er auf recht eindeutige Reaktionen. Es sei von einem Kindskopf geschrieben, es sei ein trüber Tümpel, und hoffentlich nur ein Ausrutscher gewesen.

Es handelt sich bei diesem Buch, oberflächlich betrachtet, um Houellebecqs Aufarbeitung seiner „Porno Affäre“ in der er – soweit die offizielle Darstellung – vom Künstlerkollektiv KIRAC dazu gebracht wurde, in einem Video mitzuspielen, das sexuelle Handlungen beinhaltet. Danach hat Houellebecq laut Eigenangabe unter Drogeneinfluss einen Vertrag unterzeichnet, der es dem Kollektiv erlaubt, dieses Videomaterial zu veröffentlichen. Nun erklärt er aber in diesem Buch, dass er sich durch seinen berauschten Zustand nicht darüber im klaren war, was dieser Vertrag bedeut und daher im Anschluss gegen die Veröffentlichung des Videos gerichtlich vorgeht. Zum jetztigen Zeitpunkt steht das letzte Urteil noch aus, aber das ist auch nebensächlich.

Denn der relativ kurze Report ist – und das stößt vielen Kritikern und Kritikerinnen sauer auf – von äußerster literarischer Rüpelhaftigkeit. Die Mitglieder des Künstlerkollektivs werden durchgehend mit wenig schmeichelhaften Tiernamen bedacht – Kakerlak, Pute, Schwein – und auch ansonsten wird viel derbes zum Besten gegeben. Durchsetzt sind die Schimpftiraden mit plumpen sexuellen Fantasien, antifeministischen Ausfällen, der Vergleich seiner Situation zu einem Vergewaltigungsopfer, selbstgerechten Beschwichtigungen und Entschuldigungen. Zusammenfassend kann man sagen: wäre Houellebecq nicht berühmt, dieses Buch wäre wohl nicht veröffentlicht worden.

Aber das Buch ist veröffentlicht worden und uns steht es nun frei, etwas damit anzufangen. In meinem Versuch des hermeneutischen Wohlwollens schlage ich vor, Frisch und Houellebecq zusammenzubringen. Ich denke, man kann das meiste aus Einige Monate in meinem Leben herausholen, wenn man es als autobiographischen Roman im Stile Montauks liest. Wo Montauk von Liebe, Altern und dem eigenen Werk als Schriftsteller handelt, geht es in Einige Monate aus meinem Leben um Pornosex, Drogen und den Versuch, die eigenen Fehler zu verdrängen.

Der interessanteste Zugang zu diesem Buch scheint mir anders gesagt, nicht anzunehmen, dass Houellebecq jegliches literarische Können durch Verblendung und Angst abhanden gekommen ist, sondern, dass das Buch eine narrative Strategie im Stile Frischs durchzieht. Ja, der Protagonist trägt den gleichen Namen wie der Autor und ja, die Ereignisse sind prinzipiell dieselben – aber ansonsten stehen und viele interpretative Möglichkeiten offen. Was, wenn Houellebecq das Bild eines Subjektes zeichnen wollte, das von sexueller Überreiztheit und Drogen derart abgestumpft ist, dass es die Welt nur noch in ganz groben Umrissen und Aspekten wahrnimmt und kein Gefühl mehr dafür aufbringen kann, wie ein angemessenes Miteinander funktioniert? Wenn für dieses Subjekt die Angst und Scham so bestimmend wird, dass manche Situationen sich derart in den Vordegrund drängen und alles andere nichtig und klein erscheinen lässt? Und sich deshab dieses Subjekt auf so manische Weise mit einer vergleichsweise kleinen Episode herumschlägt, weil sie in ihrem Kopf übermächtig und alles bestimmend erscheint? Dann wäre das Buch nicht der Versuch Rache zu nehmen um das gekränkte Ego zu befriedigen, sondern die Beschreibung des Versuchs in Situationen äußerster Scham und intellektueller Not seinen Verstand zu bewahren. Ob dies dem Protagonisten gelungen ist, steht allerdings auf einem anderen Blatt.

Natürlich, wenn man Montauk mit einer Symphonie vergleicht, ist Einige Monate in meinem Leben ein Punksong, aber das war wohl immerschon Houellebecqs Stil. Vielleicht sollten wir sein Buch als eine Aktualisierung des autobiographischen Romans in Zeiten der literarischen Selbstzerstörung lesen...

Keeping it real literary critics!




Manche Bücherfreunde behaupten, dass die Gedichte von Rilke wertvoller seien als die Abenteuer von Donald Duck. Sie unterscheiden zwischen höheren und niederen Werten bei der Beurteilung von Büchern. Sie haben eine Wertordnung. Wenn man ihnen sagt, dass ihre Wertordnung mit der Erziehung, der sozialen Stellung ihrer Eltern, dem Geburtsland, usw. zusammenhängt, dann ärgern sie sich. Sie fühlen sich relativiert. Wenn man sie sehr reizt, dann sagen sie vielleicht: Es muss doch schließlich absolute Werte geben! Sie meinen damit ihre eigenen.

Adolf Holl - Mystik für Anfänger




Die Entdeckung des ewigen Menschen. Die Umwertung der Menschheitsgeschichte durch die phantastische Vernunft.

von Louis Pauwels und Jacques Bergier

18.02.2023

Dies war eines der Bücher, die ich in einem offenen Bücherschrank mitgenommen habe, alleine weil mich der Titel interessiert hat. Ich konnte mir unter diesem Titel alles und nichts vorstellen, es könnte eine philosophisch-religiöse Abhandlung sein oder irgendein verschwurbelt Unsinn (böse Zungen würden sagen, dass dies dasselbe ist). Nun, retrospektiv lässt sich sagen, es ist keine Arbeit der Philosophie, trotzdem ein wenig verschwurbelt, aber bei weitem nicht so schlimm, wie es bei diesem Thema möglich wäre.

Vielleicht kann man sagen, dass die zentrale These des Buches ist, dass die Menschheit schon sehr viel länger existiert, als es unsere heutige (das Buch stammt aus 1971) Geschichtswissenschaft sagt. Im Wortlaut: “In der Geschichte unseres Planeten kann der Mensch im Laufe der uns vorangegangenen Jahrmillionen mehrmals aufgetreten sein, so dass wir, gemessen an der Dauer unserer Zivilisationen, sagen könnte, der Mensch sei ewig.” (Pauwels/Bergier 1971, 31)

An manchen Stellen lassen sie sich zu Vermutungen über außerirdischen Besuch in der Vergangenheit hinreißen, aber letztlich spielt die Prä-Astronautik für ihre These keine Rolle (Pauwels/Bergier 1971, 129). Ihr Vorgehen ist dasselbe in verschiedenen geographischen Gebieten: der Hinweis auf archäologische Ausgrabungen oder andere Funde, die nicht in die übliche Zeitleiste zu passen scheinen, weil sie um vieles älter sind als zu vermuten wäre oder auf einem viel höheren technischen Stand als in der gegebenen Kultur zu erwarten wäre.

Methodologisch wichtig an dieser Stelle ist der wiederholte Hinweis auf die Mittel der Phantasie im Zuge der Hypothesenbildung. Um zu neuen Hypothesen zu gelangen, kann man die Phantasie einsetzen, auch Verweise auf Literatur finden sich in diesem Buch recht häufig in diesem Zusammenhang. Aber auch wenn das für den “context of discovery” erklärt wird, scheint Phantasie für den “context of justification” keine Rolle zu spielen. An dieser Stelle verfallen sie in die unglücklichen Sprechweisen, die angewandt werden, wenn eine neue Theorie verfochten wird, die sich gegen andere durchsetzen soll. Dann müssen die Theorien auf einmal von den Tatsachen wahr gemacht werden und sich wissenschaftlich erweisen lassen (vgl. z.B.: Pauwels/Bergier 1971, 166 oder 192). Anders gesagt: ihr methodologischer Vorschlag ist nur im Bezug auf Hypothesenfindung revolutionär, im Bezug auf Hypothesenüberprüfung jedoch sehr herkömmlich.

Ein für mich äußerst spannendes Kapitel trägt den Titel “Die freie Verbindung von Wissen und Handeln” und stellt eine wichtige Frage: wie konnten Menschen zu früheren Zeiten, die doch so intellektuell primitiv waren derart filigrane und ausgeklügelte technische Errungenschaften erreichen? Sind technischer und wissenschaftlicher Fortschritt nicht zwei Seiten einer Münze? Nein, argumentieren Pauwels und Bergier: wissenschaftlicher Fortschritt kann vom technischen Fortschritt getrennt werden, sie bedingen sich nicht gegenseitig. Eine ähnliche These wurde in der Technikphilosophie von Davis Baird in seinem Buch Thing Knowledge vorgeschlagen (Baird 2004). Er argumentiert, dass physikalische Gegenstände als eine Art von Wissen interpretiert werden sollten, beispielsweise wissenschaftliche Instrumente, die zu einer Zeit gebaut wurden, als keine wissenschaftliche Theorie verfügbar war, die erklären könnte, wie das Instrument funktioniert. Auch Baird kommt daher zu dem Schluss, dass man Theorie (Wissenschaftliche Erklärungen) und Praxis (Technischer Fortschritt) voneinander trennen kann und sollte. Zu diesem Vorschlag habe ich mich an anderer Stelle geäußert.

Pauwels und Bergier jedenfalls führen als Beispiel die astronomischen Vorhersagen der babylonischen Kultur an - nach unseren heutigen Maßstäben hatten sie keine Ahnung, was im Weltall vor sich geht, den sie als Spielplatz von göttlichen Wesen interpretiert haben, aber ihre astronomischen Vorhersagen waren beeindruckend genau. Durch diese Trennung von Wissenschaft und Technologie können Pauwels und Bergier nun erklären, warum es in der fernen Vergangenheit bereits derart hochentwickelte Technologien geben konnte, obwohl die dazugehörige wissenschaftliche Weltauffassung gefehlt hat. Ich finde, ein sehr elegantes Argument, das sehr viel sparsamer ist als die Erklärung derselben Sachlage, die in der Prä-Astronautik vorgebracht wird (nämlich dass die “aus der Zeit gefallene” Technologie von Außerirdischen auf die Erde gebracht wurde).









grundrisse2
Benthams Panoptikum,
darüber das Kolloseum

12. In Dualizing Speech, descriptions are always descriptions of something, where the something the description is about, the object of the description, the state of affairs being described, the event being described, are distinct from the description—that is, they are “distinct from language”.
There is a categorical difference between the object of the description and description of the object.

13. In the approach developed here, the object of the description and the description of the object form a unity. The object of the description is not “distinct from the description” or “distinct from language”; instead it is that part of the description that has already been carried out.
The description is not directed to the object but starts from the object of the description. It continues the description that has already been made; it is the continuation of the description already present.

Josef Mitterer - The Beyond of Philosophy, Part I





Guernica oder: Das Endziel des Daseins


Wann kommt die Endzeit? Vom Sinn des Weltgeschehens nach seiner göttlichen Zielsetzung.

von Josef Staudinger

13.02.2023

I.

Der Titel (und dann auch der Inhalt des Buches) hat mich an ein Zitat von Wittgenstein erinnert, das aus seinen “Vorlesungen über religiösen Glauben” stammt. Wittgenstein sagt:

“Angenommen, ich sage, dass der Körper verrottet, und ein anderer sagt: 'Nein, einige Partikel werden sich in tausend Jahren wieder zusammenfügen, und du wirst auferstehen.' Wenn jemand sagte: 'Wittgenstein, glaubst Du das?' würde ich sagen: 'Nein' - 'Widersprichst Du dem Mann?' Ich würde sagen: 'Nein.'" (Wittgenstein 2005, 75)

Wittgenstein selber hatte genug religiöse Anwandlungen, sein Grund für dieses doppelte “Nein” wird also vielleicht ein anderer sein, als mein Grund. (Man sollte nie versuchen, zu deuten, “was Wittgenstein hier gemeint hat” - das ist eine Frage, die ebenso gefährlich und witzlos ist wie Bibelexegese) Mein Grund jedenfalls ist der Folgende.

Mich fasziniert es, wenn ich Menschen treffe (oder ihre Bücher lese), deren Weltbild wirklich sehr weit weg ist von meinem eigenen (ich denke, man kann sagen, Staudinger und ich haben einen Widerstreit). Und ich kann mir wenig vorstellen, was im Punkto Weltbild weiter von mir entfernt wäre, als stringente katholisch Theologen. Ich sage “stringent”, weil auf der anderen Seite die “Bequemlichkeitstheologie der Pfarrkaffeechristen” für mich kein interessantes Weltbild darstellt. Da geht es aber auch um etwas anderes. Die meisten dieser Leute kennen nicht einmal die zentralen Dogmen der katholischen Kirche, sie sind ihnen auch egal, ihre “religiösen Ansichten” sollen auch nicht allzuviel in ihren Alltag eingreifen, sie haben diese Traditionen zumeist von ihren Familien übernommen ohne viel nachzudenken und führen sie nun eben weiter ohne viel darüber nachzudenken.

Die Menschen jedoch, die die Dogmen kennen und ernst nehmen - die gelangen zu einem derart anderen Weltbild als ich, dass ich nur verwundert sein kann. Ich kann mir nicht genau vorstellen, wie es sein muss, wenn man ernsthaft annimmt, dass die Weltgeschichte auf ein singuläres Ziel zusteuert und dann zu einem eindeutigen, alle Fäden verknüpfenden Ende kommt. Und dass dieses Ende von langer Hand von einem allmächtigen Wesen geplant wurde. Natürlich gilt auch dasselbe vom Anfang - ich kann mir ebensowenig vorstellen, dass im Garten Eden zwei Menschen sich von einer sprechenden Schlange dazu haben überreden lassen, eine Frucht zu essen.

Doch genau diese Dinge (und solcherlei mehr) scheint Josef Staudinger zu glauben. Er betreibt mit Bezug auf die Frage, wann denn das Weltende ansteht und wie genau es ablaufen wird, sehr minutiöse Exegese, besonders der Paulusbriefe, um allerhand Informationen darüber zu sammeln. Dazu stellt er sich Fragen wie “Wie wird Satan kurz vor dem Weltende auf die Erde kommen?”, “Wo genau - geographisch gesehen - wird das jüngste Gericht stattfinden?”, “Wie erstehen die früher gestorbenen Menschen wieder auf, um zum jüngsten Gericht zu kommen?”, “Wie kommen die Auserwählten zu diesem Ort?” und derlei mehr. Also sehr konkrete Fragen, die suggerieren, dass Staudinger die sehr konkreten Antworten aus der Bibel darauf wörtlich auslegt.

Für Staudinger hält die Bibel also potentiell Antworten auf solche Fragen bereit, ein Buch das über Jahrhunderte von hunderten von Menschen zusammengetragen worden ist - in einer Welt in der man nicht einmal Stille Post mit fünf Leuten spielen kann, ohne, dass das Ergebnis sich verändert. Natürlich haben Theologen auch auf dieses Problem eine Antwort: bei der Textgenese der Bibel hat der heilige Geist derart lenkend eingegriffen, dass die Menschen nichts ursächlich verfälschen konnten. Für mich aber setzt dieses Argument voraus, was es zu beweisen sucht, denn ich weiß nicht, was ich mit dem Begriff des “heiligen Geistes” anfangen sollte - dafür müsste ich wahrscheinlich zuerst glauben, was die stringenten Theologen sagen, dass in der Bibel steht.

Das ist natürlich nur ein Beispiel, aber dahinter liegt ein generelles Muster: meine Erklärungen, wie die Dinge im weitesten Sinn zusammenhängen, sind gänzlich anders als die Erklärungen dieser Menschen. Und so komme ich zurück zu dem Eingangs erwähnten Zitat von Wittgenstein: ich würde Staudinger nicht direkt widersprechen, denn ich weiß nicht einmal, wo ich anfangen sollte. Seine Ansichten sind derart weit weg von meinen, dass ich nicht sagen würde, dass ich ihm widerspreche. Was ich allerdings sagen kann ist, dass ich dieses theologische Weltbild in keinem Strich ernst nehmen kann, und es ist mir unverständlich, wie man heute etwas derartiges über unsere Welt und unser Universum unironisch akzeptieren kann. Ich will solchen Menschen aber nicht widersprechen, weil es völlig witzlos wäre, das zu tun. Wie gesagt, unsere Weltbilder sind so weit auseinander, dass wir - Staudinger und ich - wohl nicht einmal denselben Maßstab für “vernünftige Begründung”, “gutes Argument” oder “Rechtfertigung” haben. Und dann ist Widersprechen tatsächlich unnötig, weil wir keine gemeinsame Basis haben, auf der wir solcherlei Widerspruch verhandeln könnten. Wittgenstein hatte hier wohl weniger Zweifel:

"Es ist ein Dogma der römischen Kirche, daß die Existenz Gottes durch die natürliche Vernunft bewiesen werden kann. Wegen dieses Dogmas wäre es unmöglich für mich, Katholik zu sein. Wäre ich der Auffassung, Gott sei ein Wesen wie ich selbst, außerhalb meiner selbst, nur unendlich viel mächtiger, dann würde ich es für meine Pflicht halten, ihm die Stirn zu bieten.“ (Rhees 1987, 155)

The-fountain

Dieses Foto kann zu folgenden Entitäten erweitert werden (ein Auszug):

Es ist ein abmontiertes Pissoir.


Es ist ein Gegenstand, den ich zufällig in einem Museum gesehen habe.


Das ist "Fontain", ein Werk von Marcel Duchamps, einem modernen Künstler.


Das ist "Fountain", ein Ready-made, dass eine Schlüsselrolle in der modernen Kunst gespielt hat. Denn mit diesem und ähnlichen Werken hat Duchamps die Aufmerksamkeit darauf gelenkt, dass das Museum als Ort die Macht hat, Objekten den Status eines Kunstwerkes zu geben.

II.

Methodologisch hat mich Staudingers Abhandlung aber noch an etwas anderes erinnert: an Erich von Dänikens Erinnerungen an die Zukunft und an The Adam and Eve Story von Chan Thomas.

In allen drei Büchern passieren, hermeneutisch gesehen, sehr ähnliche Dinge. Einer oder mehrere relativ alte Texte werden herangezogen und interpretiert, um herauszufinden, was der wörtliche Sinn dieser Texte ist. Die Hintergrundannahmen, die Staudinger dabei benutzt - das ganze Arsenal theologischer Spitzfindigkeiten - hat sicher die längste Wirkungsgeschichte, deswegen kommt sie uns auch am wenigsten komisch vor. Wir sind das ganze Ideengebäude nach Jahrtausenden einfach zu gewöhnt. Bei von Däniken ist das noch nicht so. Seine Hintergrundannahmen sind eher “wissenschaftlicher” als theologischer Natur. Natürlich möchte ich nicht sagen, von Däniken bediene sich dem was man “gute wissenschaftliche Praxis” nennt, aber er versucht eine Erklärung, die ohne göttliche Wesen, metaphysische Überwelten oder einem jüngsten Gericht auskommt. Er argumentiert, dass es Menschen, die selbst noch nicht über hoch entwickelte Technologie verfügt haben, so vorgekommen sein musste, als dass es sich um Götter handelte, als Außerirdische auf der Erde landeten. Und dass dies geschehen sei, belegen - wenn man sie richtig interpretiert - laut von Däniken allerlei religiöse Texte aus der (weit entfernten) Vergangenheit. Und so wie Staudinger minutiös aus biblischen Quellen herausinterpretiert, wie die Auferstehung des verklärten Leibes vor sich gehen wird, so erklärt von Däniken aus biblischen Quellen heraus, warum JHWH ein Außerirdischer war, der auf der Erde gelandet ist.

Chan Thomas hingegen erklärt, dass alle altertümlichen Berichte von weltumspannenden Katastrophen allesamt tatsächlich so stattgefunden haben und dass jedes Mal die Menschheit um ein Haar ausgelöscht worden war. Thomas kommt dabei ohne Außerirdische aus, er erklärt, diese Katastrophen wären das Resultat von rasanten Bewegungen der Erdschichten. Auch er findet dafür allerlei Belege in biblischen und anderen religiösen Schriften. Wir können also festhalten, alle drei Autoren schließen sehr unterschiedliche Dinge aus biblischen Texten; alle drei behaupten, dass ihre Interpretation den Tatsachen entspricht und alle drei Interpretationen erscheinen der Mehrzahl der Menschen heutzutage mehr als unwahrscheinlich (um es milde auszudrücken).

Aber hier ist ein Argument: Wenn man kein stringenter Theologe ist, also jemand, an dem die Aufklärung vorübergegangen ist und der, wie Staudinger, an die Endzeit glaubt, dann sollte man die Interpretationen von Thomas und von von Däniken eher akzeptieren, als die von Staudinger.

Warum? Weil das Ockhams Rasiermesser entspricht. So gesehen sind die Interpretationen von Thomas und von Däniken zwar äußerst unwahrscheinlich, jedoch immer noch sehr viel wahrscheinlicher als die von Staudinger, da letzterer eine völlig neue Existenzebene und einen Haufen zusätzlicher Wesenheiten mit eigenen Hierarchien benötigt um seinen Punkt zu machen. Anders gesagt, von Däniken und Thomas sind im Prinzip mit einem wissenschaftlichen Weltbild vereinbar, Staudinger nicht. Wenn man kein stringenter Theologe ist, dann hat man heutzutage in der ein oder anderen Form (bewusst oder unbewusst) eine Abwandlung eines wissenschaftlichen Weltbildes als intellektuellen Hintergrund. Und vor diesem ist es metaphysisch und logisch gesehen weitaus sparsamer, Außerirdische oder eine schockartige Plattentektonik anzunehmen, als ein allmächtiges Wesen, das das gesamte Universum von Anbeginn an plant und lenkt nur um die Menschheit von einer Sünde zu erlösen die es selbst verursacht hat.



Das Museum der Zukunft. 43 neue Beiträge zur Diskussion über die Zukunft des Museums.

herausgegeben von schnittpunkt und Joachim Baur

09.02.2023

Dieser Sammelband, der 2020 erschienen ist, aktualisiert einen Band von 1970 mit demselben Titel. Damals wie heute wurden verschiedene Menschen aus verschiedenen beruflichen Richtungen gebeten, kurze Einblicke zu geben, wie sie die “Zukunft der Institution Museum” sehen und beschreiben würden. Negative Beschreibungen wie die von Robert Smithson - museums are “graveyards above the ground” - findet man in diesem Band selten. Die Zukunft des Museums wird durchwegs eher als Utopie, nicht als eine Dystopie beschrieben. Überhaupt ist der Begriff der Utopie relativ präsent - vielleicht ist es das, was mich auf dieses Buch hat aufmerksam werden lassen.

Die erste, mittlerweile klassische Definition des Begriffes “Museum” stammt ursprünglich aus 1974 und wurde 2007 von der ICOM offiziell so formuliert:

“A museum is a non-profit, permanent institution in the service of society and its development, open to the public, which acquires, conserves, researches, communicates and exhibits the tangible and intangible heritage of humanity and its environment for the purposes of education, study and enjoyment.”

2019 wurde ein neuer Vorschlag bei der ICOM Versammlung in Kyoto vorgestellt:

“Museums are democratising, inclusive and polyphonic spaces for critical dialogue about the pasts and the futures. Acknowledging and addressing the conflicts and challenges of the present, they hold artefacts and specimens in trust for society, safeguard diverse memories for future generations and guarantee equal rights and equal access to heritage for all people. Museums are not for profit. They are participatory and transparent, and work in active partnership with and for diverse communities to collect, preserve, research, interpret, exhibit, and enhance understandings of the world, aiming to contribute to human dignity and social justice, global equality and planetary wellbeing.”

Daraus resultierte letztlich die neue Definition, die nicht ganz so mutig wieder zurück zu den Ursprüngen ging, wie sie am 24.08.2022 bei der 26. ICOM General Conference in Prag beschlossen wurde:

“A museum is a not-for-profit, permanent institution in the service of society that researches, collects, conserves, interprets and exhibits tangible and intangible heritage. Open to the public, accessible and inclusive, museums foster diversity and sustainability. They operate and communicate ethically, professionally and with the participation of communities, offering varied experiences for education, enjoyment, reflection and knowledge sharing.”

So weit so gut, ein Museum hat also irgendetwas mit Wissen zu tun, mit Kommunikation und mit Dingen, die ausgestellt werden. Und je näher wir dem heute kommen, desto träumerischer lesen sich die Wirkungen, die ein Museum haben können soll.

So auch das allgemeine Thema, das sich durch viele der Beiträge zieht. Das Museum als ein Ort der Begegnung, des Austausches, der Inklusion, Diversität, Nachhaltigkeit, des kritischen Diskurses und was akademisierten Intellektuellen nicht noch alles für Superlative in den Sinn kommen. Ich persönlich finde diese an der Kippe zur Hysterie moralisch hochwertigen Vorschläge zwar eher anstrengend, aber natürlich gilt: lieber akademische Träumer als mental unterentwickelte Rechtsradikale.

Anmerkung

19.07.2024

In seinem Artikel „The Logic of Equal Aesthetic Rights” hat Boris Groys eine andere, weniger moralisch angesträngte Idee, welche Rolle Kunstmuseen spielen können: sie können das Archiv sein, das gegen das Vergessen der Massenkultur wirkt. Groys argumentiert, dass eine durch moderne Medien unterstützte Politik den Markt mit einer fast unendlichen Zahl an Bildern überschwemmt – ein Beispiel haben wir mit dem Trump Attentat vor uns. Aber um zu funktionieren sind diese Bilder stark kodifiziert:

Indeed, in order to be effectively propagated and exploited in the commercial mass media images need to be easily recognizable for the broad target audience, rendering mass media nearly tautological. The variety of images circulating in the mass media is much more limited than the range of images preserved for example, in museums or produced by contemporary art. That is why it is necessary to keep the museums and, in general, art institutions as places where the visual vocabulary of the contemporary mass media can be critically compared to the art heritage of the previous epochs and where we can rediscover artistic visions and projects pointing toward the introduction of aesthetic equality. (Groys 2013, 18)

Dieser kritische Vergleich von Massenmedien und den davon produzierten Bilder auf der einen Seite und Museen auf der anderen ist nötig, da die Massenmedien keine Bewertungskriterien für Qualität mitbringen. Wie Groys es ausdrückt: was gerade angesagt ist, lässt sich immer nur im Nachhinein feststellen. Museen helfen uns also, im Meer der Bilder Kurs zu halten, und bieten dem Geschmack des Tages damit Widerstand.

An einer Stelle, im Beitrag von Gabu Heindl, kommt aber ein für mich wichtiger Gedanke vor. Heindl trägt 8 Thesen vor (ein paar weniger als Marx damals über Feuerbach formulierte). Die dritte These ist die Idee, dass das Museum der Zukunft nicht diskriminiert. Gut, das kommt in vielen Beiträgen in verschiedenen Formulierungen vor, klingt ja auch ganz nett. Doch der wichtige Gedanke ist dieser: "Idealerweise ist das Museum der Zukunft ein Raum ohne Ausschluss - aber ist das möglich? Sind alle Stimmen gleich laut? Wessen Stimme braucht Verstärkung? Soll immer schlichtweg alles gehört werden? Ganz ohne Ausschluss von so manchen (z.B. rassistischen, homophoben oder anti-demokratischen Stimmen) wird es auch in Zukunft nicht gehen [...] (schnittpunkt/Baur 2020, 130, Kursivierung im Original). Das ist mehr Umsicht, als so manch anderer Text in diesem Buch an den Tag legt - die Idee der diskriminierungsfreien Gesellschaft ist selbst auf einer Diskriminierung aufgebaut. Wenn man eine offene Gesellschaft erzeugen will, dann muss man diejenigen Elemente ausschließen, die diese Offenheit verhindern. Ich denke, das ist recht und billig, aber viele Akademiker, die solche Sätze von sich geben, scheuen vor dieser Konsequenz zurück, sie wollen ja nicht selber diskriminierend sein, diskriminierend sind ja nur “die Bösen”. Ich denke nicht, dass man solch einen fatalistischen Schluss ziehen sollte, es ist völlig in Ordnung, Elemente aus einer Menge zu verbannen, wenn sie die Menge zu zerstören drohen. (Hans Kelsen, der Urheber der österreichischen Verfassung, meinte dem Gegenüber, dass es in Ordnung sei, wenn sich die Demokratie mit demokratischen Mitteln abschafft - dann haben die Menschen es eben nicht verdient, zu existieren.) Meine Überzeugung an diesem Punkt ist also: man darf seine Hoffnungen gegen diejenigen verteidigen, die diese Hoffnungen zu zerstören drohen. Und man braucht keinen absolutistischen, uneingegrenzten Begriff wie “Wahrheit” oder “Vernunft” dazu - es reicht schon, die eigene Hoffnung ernst zu nehmen.

Außerdem habe ich in diesem Buch viele andere Gedanken gefunden, die ich sehr spannend fand, die ich aber noch nie bedacht habe - wahrscheinlich weil ich dem Thema “Museum” noch nie wirklich Aufmerksamkeit geschenkt habe. Beispielsweise betont Monika Holzer-Kernbichler, dass Museen, im Gegensatz zu Kino oder Roman suggeriert, dass die dargebotenen Narrative keine Fiktion sondern Tatsachen darstellen, dass sie wissenschaftliche Erkenntnis und objektive Erzählung bieten (vgl schnittpunkt/Baur 2020, 133). Das erscheint mir eine spannende Idee über die Rolle, die Museen spielen, aber wenn dem so ist, dann müsste ich einen neuen Blick auf das Museum vorschlagen, um es für mein Projekt fruchtbar zu machen.

Claudia Hummel betont, dass es im Angesicht der stets unsicheren Zukunft wichtig sei, im Museum einen "Ort des Probehandelns” vorzufinden, in dem man Dinge ausprobieren kann, ohne dass sie direkte Konsequenzen hätten (schnittpunkt/Baur 2020, 141). Ähnlich schreibt Sharon MacDonald: “The lives and experiences of objects - those already assembled but also others that might be, physically or virtually, brought together - can provide the impetus for imagining alternative worlding and other futures. (schnittpunkt/Baur 2020, 186). Im Bezug auf den Disput zwischen Museum und Religion - die Frage, ob religiöse Artefakte in einem Museum ausgestellt werden können und wenn ja, ob sich ihr Zustand als sakrales Objekt ändert, bespricht Kavita Singh. Auch diesen Aspekt habe ich so noch nie gesehen, hier heißt es: “A fundamental feature of the museum [is] its secularity - its right to desacralize the objects within it and produce non-religious terms for our engagement with them [...]” (schnittpunkt/Baur 2020, 248). Dieser "Perspektivenwechsel" im Bezug auf uns bekannte Gegenstände, den ein Museum ermöglicht, scheint mir äußerst interessant.

Diese Idee des Perspektivenwechsels führt mich zu einem anderen Text, dem einzigen anderen Text, den ich gelesen habe, der das Museum als Thema hat, nämlich “Politik der Unsterblichkeit” von Boris Groys. Er knüpft an Robert Smithson an, wenn er sagt, das Kunstwerke die Leichen von Dingen sind, die in (Kunst)Museen ausgestellt werden (vgl Groys, 2008, 40). Doch Groys meint das eher beschreibend als kritisch. Wir haben es hier mit Leichen zu tun, weil diese Objekte dem Alltag entrissen wurden, ihre normale Verwendung verloren haben (das heißt, im Bezug auf sie hat ein Perspektivenwechsel stattgefunden). Sie werden nie wieder zu ihrer normalen Verwendung zurückfinden, das Pissoir der Fountain wird nie wieder in einer Toilette montiert werden. Und eben auf diese Weise ähneln sie Leichen, die auch nie wieder ins Leben zurückkehren werden.

Nun, vielleicht muss man die Sache nicht ganz so morbide beschreiben, kann aber die Grundidee mitnehmen und zu einem Melange mit all den anderen Ideen verrühren, um den Begriff des “Museums” für die Utobiographie fruchtbar zu machen. Mein Vorschlag also lautet: Museen spielen dieselbe Rolle in unserem Leben wie Gedankenexperimente in der Philosophie.

An anderer Stelle habe ich erklärt: ich sehe Philosophie als Arbeit am Begriff, als Versuch herauszufinden, was unsere Begriffe bedeuten, was man mit ihnen tun kann, und wie man sie verändern könnte um noch mehr Dinge damit tun zu können (ähnlich wie man Werkzeuge verwendet und verbessert).

Unsere Begriffe stammen aus dem Alltag, aus unserer alltäglichen, unreflektierten Verwendung. So lernen wir sie aus bisherigen Anwendungen zu verwenden und auf zukünftige Fälle anzuwenden. Gedankenexperimente helfen uns an dieser Stelle, denn sie ermöglichen uns ein “begriffliches Probehandeln”. Wir konstruieren vereinfachte Situationen, die alle unnötigen Aspekte einer Situation ausblenden. In diesen können wir darüber nachdenken, ob wir den Begriff, der uns gerade interessiert, verwenden wollen oder nicht und wenn nicht, ob wir den Begriff verändern wollen, um diesen Fall auch zu erfassen. Gedankenexperimente sind aus der normalen Welt entrückt, sie bieten einen Übungsraum des Probehandelns, in dem Begriffe auf neue Art benutzt werden können, was sie womöglich nachhaltig verändert (siehe die Gettier Beispiele oder den Swampman).

Museen sind so beschrieben Übungsräume des Probehandelns, in denen wir Gegenstände oder Zustände in einem Kontext sehen können, der stark vereinfacht ist und alle unnötigen Aspekte beiseite lässt. In diesen vereinfachten Kontexten ist es leichter, bestimmte Aspekte eines Gegenstandes oder Zustandes zu erkennen, die man ansonsten vielleicht übersehen hätte. Das hilft einem, zu entscheiden, ob man irgendeine Art von Beschreibung dieses Objekts und seiner Wirkungen in seine Selbst-Erzählung aufnehmen möchte, ob man sich selbst in Relation zu diesen Objekten verstehen möchte, oder ob man davon eher unbeeindruckt wieder nach Hause geht.

Museen wie Gedankenexperimente sind, so gesehen, methodologische Mittel, um mehr über Begriffe oder unser Leben herauszufinden, indem man in vereinfachten Probesituationen versucht, neue Züge an altbekannten Begriffen oder Gegenständen zu finden.

Gut genug als Arbeitshypothese.



Die gegenstandslose Welt

von Kasimir Malewitsch

17.01.2023

Zuerst: das Buch ist in der Reihe "Bauhaus Bücher" erschienen und als solches schon ein wunderschön gemachtes Objekt, ganz abgesehen von seinem propositionalen Gehalt. Doch auch letzterer kann (mich zumindest) überraschen, denn es finden sich im theoretischen Teil Ideen, die man auch in der Philosophie dieser Zeit oder sogar erst späterer Zeit finden kann. Ein Beispiel.

Malewitsch erklärt, wie seiner Ansicht nach Neues in der Malerei (und mithin in unserem Leben) auftaucht, wie sich - in seiner Bezeichnung - ein "additionales Element" bemerkbar macht. Dazu geht er von einer "normalen Situation" aus, das heißt von einer Situation, in der sich Gewohnheiten gebildet haben, denen wir folgen. Doch diese Normalität wird von der Welt gestört, es wirken "Erscheinungen der Umgebung" auf uns ein und bringen so ein das additionale Element ins Spiel (vgl. Malewitsch 1927, 10). Wir versuchen unsere Umwelt, zumindest den Teil, den wir bewusst wahrnehmen, durch Normierung stabil zu halten. In den Worten von Malewitsch:

"Es wird also eine bestimmte Normalität obligatorisch; alles was außerhalb dieser Normalität liegt, wird als zerstörendes (die Norm zerstörendes) "Element des Lebens" ausgeschaltet. Dieses ausgeschaltete Element ist nun dasjenige, was ich das additionale Element nenne; dasselbe entwickelt sich und schafft neue Formen, indem es die bestehende Norm evolviert oder umstößt.
Das Leben will stets normieren, - es ersehnt den Zustand der Ruhe, - strebt nach dem 'Natürlichen'… Und so sehen wir denn Systeme entstehen, die sich vor allem dazu eignen, die Ordnung im Sinne der gewohnten Norm und den Ruhezustand innerhalb dieser Norm zu stützen und zu festigen." (Malewitsch 1927, 12).

Laut Malewitsch ist die Situation also die: wir Menschen schätzen Ruhe, Stabilität, Normalität, Natürlichkeit. Daher versuchen wir, wenn sich uns unsere Umwelt durch additionale Elemente aufdrängt, mittels Normen dagegen vorzugehen und erschaffen so die "natürliche Welt" und schließen das additionale Element aus dieser natürlichen Welt aus (mittels des Bannspruchs: Das ist unnatürlich!)

Künstler sind nun diejenigen, die versuchen, diese additionalen Elemente in eine Harmonie mit unseren bestehenden Normen zu bringen, sie versuchen, das Neue, das Unbekannte in unser Leben zu inkorporieren, von der bisherigen normgestützten "Natürlichkeit" weg zu gehen zu einer "neuen Normalität" hin. Sie sind damit in einer Minderheit, einem kleinen Kreis derer, die eine "neue Normalität" erzeugen, dadurch, dass sie ein additionales Element in ihr Normensystem eingebaut haben, über das die Mehrheit nicht verfügt. Ein konkretes Beispiel:

"Für die Gesellschaft (die Mehrheit) ist in bezug auf die Malerei Rembrandt das Normale; Rembrandt ist somit der 'entscheidende Standpunkt', von dem aus eine malerische Norm bewertet wird. Der Kubismus ist für die Gesellschaft das Unnormale, denn er enthält ein neues, additionales Element, - er bedeutet einen neuen Zustand in dem kombinierenden Verhältnis der Geraden zu der Geschwungenen - eine neue Norm. (Siehe die sichelförmige Formel.) Diese neue Norm zerstört die gewohnte ästhetische Ordnung 'des Anerkannten' und den 'gesicherten Ruhezustand', so daß die Gesellschaft (die Mehrheit) darauf bedacht ist, die im Sinne der neuen Normschaffenden Künstler und ihre Kunst zu isolieren." (Malewitsch 1927, 12f)

Die Mehrheit erscheint das Normensystem der Minderheit unnatürlich und falsch - aber so auch umgekehrt, die Minderheit kann nicht hinter das additionale Element zurück und erklärt daher das Normensystem der Mehrheit für falsch und veraltet. Nun, wenn man Ludwik Fleck und Thomas Kuhn gelesen hat, wird einem diese Idee bekannt vorkommen. An anderer Stelle habe ich eine ähnliche Idee in Vladimir Nabokovs Einladung zur Enthauptung hineingelesen.

Was Malewitsch "die Norm" nennt, bezeichnet Fleck als ein "Denkkollektiv" und Kuhn als "Paradigma" (und Rorty unterscheidet im Anschluss an Kuhn die "normalen" von den "revolutionären Diskursen".) Ich möchte damit nicht sagen, dass alle drei eigentlich das selbe gemeint haben oder dass sich die Entwürfe wie Schablonen übereinanderlegen lassen und dann das selbe Bild ergeben. Aber ich möchte sagen, dass sich alle drei Versionen eine Idee teilen, nämlich diese: was Menschen für normal und natürlich halten, hängt davon ab, was sie sonst noch als gut und richtig anerkennen. Man kann "das Natürliche" demnach nicht erkennen, indem man noch ein wenig genauer hinsieht oder noch ein wenig objektiver in Bezug auf die Welt ist. Besser beschrieben: Normalität und Natürlichkeit entsteht dadurch, dass wir Menschen auf unsere Umwelt reagieren und versuchen aus alldem einen Sinn zu generieren. Diese, im weitesten Sinne "nicht-realistische" Grundidee, zeigt sich bei Malewitsch an Stellen wie dieser:

"Unsere Auffassung der Tatsächlichkeit ist ebenfalls veränderlich und von dem Wechselspiel jener in Erscheinung tretenden Elemente der Tatsächlichkeit abhängig, die in dem Spiegel unseres Bewußtseins (unseres Hirns) dieser oder jener Verzerrung unterliegen; denn unsere Vorstellungen und Auffassungen der Materie sind stets Zerrbilder, die der Tatsächlichkeit nicht im geringsten entsprechen." (Malewitsch 1927, 16)

Allerdings bezieht sich dieser Nicht-realismus nur auf den Bereich der Erkenntnistheorie, wenn es zur Ontologie kommt, mag es wohl "Tatsächlichkeiten" geben, aber es ist nicht klar, ob wir sie erkennen können. Nicht zuletzt ist das die Idee hinter Malewitschs "Suprematismus"- der Versuch der vollkommen gegenstandslosen Darstellung reiner, an sich existierender Empfindung.






Fadensonnen
über der grauschwarzen Ödnis. Ein baum-
hoher Gedanke
greift sich den Lichtton: es sind
noch Lieder zu singen jenseits
der Menschen.

Paul Celan






Among the maxims on Lord Naoshige's wall there was this one, 'Matters of great concern should be treated lightly'. Master lttei commented, 'Matters of small concern should be treated seriously.' Among one's affairs there should not be more than two or three matters of what one could call great concern.

Yamamoto Tsunetomo - Hagakure

18.01.2023


Eine Übung in Lokalisierung

Im ersten Teil des Buches erklärt Malewitsch also, dass Menschen Normen aufstellen mittels derer sie die "das Natürliche" festhalten und gegen Angriffe durch "das Leben" verteidigen. Doch trotz allem brechen "additionale Elemente" in unsere normativen Systeme und erzwingen eine Reaktion, sei sie affirmativ (von Künstlerinnen) oder skeptisch (vom Pöbel). Das, was ein Mensch für normal, für natürlich und auch für gut hält ist eine gewohnte normative Ordnung der Welt. Figurative Malerei, so Malewitsch, sei der Mehrheit das Natürliche, Kubismus das Unnatürliche (da im letzteren ein additionales Element eingebaut wird, das - noch? - nicht mehrheitsfähig ist).

So erklärt uns Malewitsch also die intellektuelle Situation des Menschen. Der zweite Teil des Buches liest sich nicht mehr so entspannt. Hier erklärt Malewitsch, was er mit "Suprematismus" - seiner aus dem Futurismus stammenden Stilrichtung der Malerei - meint. Das additionale Element der Wahl ist die "suprematistische Gerade" oder das "suprematistische Quadrat" (vgl. Malewitsch 1927, 59). So weit so gut, auch hier würde man also vermuten, dass es eine Mehrheit gibt, für die dieses additionale Element noch ungewohnt ist und die es daher als unnormal empfinden (oder zumindest nicht viel mit einem schwarzen Quadrat auf weißem Grund anfangen können). Was will der Suprematismus damit Ausdrücken? Reine Empfindung (vgl. Malewitsch 1927, 65). Eine sehr metaphysische Idee: es handelt sich nicht um Empfindungen, die irgendein konkreter Mensch hat, sondern um die "Empfindung an sich" (wie man es mit Kant sagen könnte) oder um die "Idee der Empfindung" (wie man es mit Platon sagen könnte). Der Suprematismus will also die reine Empfindung ausdrücken unabhängig von irgendeinem gegenständlichen Ausdruck dieser Empfindung.

Na gut, möchte man meinen, hier hat man es mit einer Minderheit zu tun, die ein neues additionales Element in ihr normatives System eingebaut hat, eine Gruppe Menschen deren Normen mit anderen Normen anderer Menschen konkurrieren. Doch dann sagt uns Malewitsch bezüglich der Geltung des Ziels des Suprematismus sowas wie: "Und [dies gilt] nicht nur in der Kunst des Suprematismus, sondern in der Kunst überhaupt, denn der bleibende, tatsächliche Wert eines Kunstwerks (welcher "Schule" es auch immer angehören mag) liegt ausschließlich in der zum Ausdruck gebrachten Empfindung." (Malewitsch 1927, 65, Hervorhebung von mir).

Intuitiv möchte man sagen: ziemlich absolutistischer Anspruch für eine Stilrichtung, die schon im nächsten Jahrzehnt nicht mehr wirklich ernstgenommen wurde. Da kommt jetzt Malewitsch und erklärt - in Malewitschs eigener Terminologie - als Minderheit der Mehrheit nicht nur etwas über ein neues additionales Element, sondern darüber was den Wert der Kunst (auch für die Mehrheit) ausmacht - ob sie es wahrhaben wollen oder nicht.

Man kann nun sagen: Na gut, Malewitsch hat in diesem zweiten Teil seines Buches vergessen, was er im ersten Teil gesagt hat; er stellt hier einen absoluten Anspruch (etwas über die Kunst an sich zu sagen, das für alle gilt) den er sich vorher selber verboten hat (weil jederzeit verschiedene Normensysteme gegeneinander kämpfen und sein Vorschlag ebenso eine Partei im Kampf ist). Dann war Malewitsch leider verwirrt. Oder man kann sagen: Na gut, Malewitsch hat für sich selbst aber eine Sonderposition angenommen, weil sein additionales Element das letzte in einer langen Reihe von additionalen Elementen war. Das städtische Leben hat uns nun das "ultimative additionale Element" gezeigt mittels dem wir nun zu einer Normalität gelangen, die mit dem Leben derart in Einklang steht, dass keine weiteren additionalen Elemente mehr stören. Dann war Malewitsch leider arrogant.

Ich präferiere eine dritte Lesart: Malewitsch war stringent. Wenn man in einem Normensystem, einem Paradigma, einem Denkkollektiv ist, dann ist man davon überzeugt, dass es Vorteile hat so zu sprechen, zu denken, zu normieren. Sonst würde man das System ja wechseln (bei Malewitsch spricht, soweit ich sehe, nichts dagegen, das System willentlich oder zumindest mit ein wenig Übung zu wechseln. Bei Kuhn bin ich mir da nicht sicher). Und wenn man denkt, dass das gegebene Normensystem gut dazu geeignet ist, viele Dinge zu erklären, dann wünscht man sich natürlich, dass es möglichst viele Menschen adaptieren. Man darf wohl auch in Malewitschs Setting denken, dass man eine gute Idee hat, dass man einen interessanteren Punkt macht als die anderen. So gesehen kann man diese Stellen als Werbung sehen: "Wenn ihr die Kunstgeschichte so interpretiert wie ich, dann werdet auch ihr sagen, dass ihr das Wesen der Kunst entdeckt habt". Aber das heißt nicht, dass andere Menschen, in anderen Paradigmen oder normierenden Systemen (die meinem widersprechen) nicht genau dasselbe sagen könnte. So gesehen benutzt Malewitsch hier eine Strategie der Werbung. Leider aber keine sehr gute, denn der Anspruch "das wahre Wesen der Kunst" gefunden zu haben, ist kein gutes Alleinstellungsmerkmal. Jeder kann es mit jeder Kunsttheorie für sich behaupten, keiner kann es gewinnbringend in Verkaufsgesprächen benutzen. Also würde ich sagen: Leider hat Malewitsch nicht die effektivste Strategie gefunden, seinen theoretischen Ansatz in der Kunst anzupreisen.

Anmerkung

Das spannende an diesem Buch ist für mich letztlich also nicht, was Malewitsch über das Wesen der Kunst sagt sondern wie er es in einen größeren, philosophischen Hintergrund einbettet und was er auf einer Metaebene damit tut.






Die Möglichkeit, die soziale Welt zu ändern, indem ein Teil ihrer Realität, nämlich die Vorstellungen von dieser Welt, verändert wird oder, genauer gesagt, indem der üblichen Vorstellung, bei der die soziale Welt als eine natürliche Welt verstanden wird, eine paradoxe Voraus-Schau, eine Utopie, ein Plan, ein Programm entgegengehalten wird, macht sich die häretische Subversion zu Nutze. Die politische Voraus-Schau ist als performative Aussage eine Vorher-Sage ihrer selbst, mit der herbeigeführt werden soll, was sie sagt; indem sie Realität verkündet, vorher-sieht und vor-sieht, vorstellbar und vor allem glaubhaft macht und damit den kollektiven Willen und die kollektive Vorstellung erzeugt, die ihrer Verwirklichung förderlich sind, trägt sie selber praktisch zur Realität dessen bei, was sie verkündet.

Pierre Bourdieu - Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches, 104
Die Möglichkeit, das eigene Selbst zu ändern, indem ein Teil seiner Realität, nämlich die Vorstellungen von diesem Selbst, verändert werden oder, genauer gesagt, indem der üblichen Vorstellung, bei der das eigene Selbst als ein natürliches Selbst verstanden wird, eine paradoxe Voraus-Schau, eine Utopie, ein Plan, ein Programm entgegengehalten wird, macht sich die häretische Subversion zu Nutze. Die philosophische Voraus-Schau ist als performative Aussage eine Vorher-Sage ihrer selbst, mit der herbeigeführt werden soll, was sie sagt; indem sie Realität verkündet, vorher-sieht und vor-sieht, vorstellbar und vor allem glaubhaft macht und damit den eigenen Willen und die fundierenden Vorstellung erzeugt, die ihrer Verwirklichung förderlich sind, trägt sie selber praktisch zur Realität dessen bei, was sie verkündet.

Pierre Bourdieu - Was heißt sprechen? Zur Ökonomie des sprachlichen Tausches, adaptiert




Why your five year old could not have done that. Modern Art explained.

von Susie Hodge

11.01.2023

Das Buch zeigt uns viele der wichtigsten Kunstwerke des Abschnittes, den man "Moderne Kunst" genannt hat in Farbe und guter Qualität. Allein das ist es Wert, sich damit zu befassen. Auch die vielen Querverweise und neuen Denkanstöße waren für mich sehr fruchtbar. Die Erklärung aber warum "mein fünfjähriger das nicht hätte tun können" lassen mich etwas verwundert, oder besser gesagt, unzufrieden zurück.

Ich habe den Singular "Erklärung" benutzt, denn die Antwort ist bei jedem Werk eine Variation von: "Gut, den Gegenstand hätte ein Kleinkind so erschaffen können, aber es hätte nie die Intentionen und Absichten der Künstlerin gehabt". Das ist eine Position die man als "Intentionalismus" bezeichnen kann - die Intention des Erschaffers sind dann maßgeblich für die Bedeutung des Gegenstandes; was ein Kunstwerk bedeutet, seine zentralen Eigenschaften, stammen letztlich von den Intentionen des Künstlers.

Nun werde ich jedes Mal skeptisch, wenn - egal in welchem Bereich - Intentionalismus als Erklärung benutzt wird. Aber vielleicht ist das das falsche Ende der Geschichte. Vielleicht ein besserer Startpunkt: warum kommt man überhaupt auf die Idee, dass ein Kunstwerk von einem Kleinkind stammen könnte? In der Philosophie habe ich niemals die ernstgemeinte Frage gehört "Hätte diesen Traktat auch ein fünfjähriges Kind schreiben können?" - Warum nicht? Texten kann man es relativ leicht ansehen, von welcher Art ihre Urheber sind: intentionale Wesen (vom "Infinite Monkey Paradox" einmal abgesehen). Schweigsame Objekte der ausgedehnten Welt geben nicht so viele Informationen über ihre Urheber preis, ja oft nicht einmal, ob sie intentionale Urheber haben. Ein undichtes Rohr in einer Farbfabrik könnte dasselbe Objekt erzeugen wie Jackson Pollock - wir würden im Nachhinein, ohne Geschichte dazu, nicht erkennen können, dass eines davon aus künstlerischer Intention stammt und das andere aus baulicher Verfehlung. (Marcel Duchamp hat mit seinen Ready-mades mit genau dieser Linie gespielt.) Es scheint, die Intentionen alleine, ohne Narrativ dazu, helfen uns nicht um herauszufinden, was es mit einem Kunstwerk auf sich hat, ob es sich überhaupt um eines handelt oder ob der Gegenstand "zufällig" zustande gekommen ist.

Anmerkung

In solchen Momenten stelle ich mir gerne vor: was würde passieren, wenn alle Menschen sofort verschwinden und dann landen in zwei Wochen Aliens auf unserem menschenleeren Planeten - was würden sie als Kunstwerk identifizieren und warum, wenn ihnen jeglicher Narrativ und Kontext fehlt, der mit uns Menschen verschwunden ist?

Von dieser kurzen Überlegung möchte ich zwei Dinge mitnehmen: erstens, es ist spannend, dass Kunstwerke selbst stumm sind und ihre Bedeutung nicht preisgeben, wenn wir nicht auch miteinbeziehen, wie sich Menschen zu ihnen verhalten (meistens in Museen) und was sie über sie sagen (meistens in Texten). Darin ähneln Kunstwerke jenen Gegenständen die Mirca Eliade in der "Sphäre des Heiligen" platziert und auch jenen Gegenständen, die ein mentales Innenleben besitzen, das nicht von ihrer Oberfläche ablesbar ist, aka Menschen. Zweitens, es erklärt wenig, Intentionen zum bedeutungsgebenden Faktor in der Kunst zu erheben - eine Erzählung, ein Kontext für solche Intentionen hilft uns da weitaus mehr. Das ist es ja eigentlich auch, was das Buch selber auf einer Metaebene tut. Es versucht sehr rudimentär zu erklären, zu erzählen, worauf die jeweiligen Künstler reagiert haben, in welchen Kontext sie sich eingebettet haben, was sie damit ausdrücken wollten.

Ich sage "sehr rudimentär", weil in diesem Buch dann Dinge gesagt werden wie "der Künstler wollte unsere Konsumgesellschaft kritisieren" oder das "die menschliche Beziehung zur Unendlichkeit" thematisiert wird. Vielleicht mag das letztlich stimmen, aber es scheint mir wir eine so starke Verkürzung des Weges, dass es schon eine Verzerrung darstellt. Ein Vergleich: das ist wie zu sagen, dass Donald Davidson mit seinem "Swampman" erklären wollte wie man als Mensch ein bedeutungsvolles Leben führt. Wahrscheinlich war das letztlich Davidsons Ziel des Philosophierens, aber das Swampman Beispiel war vor allem ein Kommentar in einer spezifischen Debatte über den propositionalen Gehalt von Gedanken und zum sogenannten "Bedeutungsexternalismus". Man versteht das Beispiel nur, wenn man die Debatte kennt, in der es aufgetaucht ist, die Feinheiten auf die Davidson eingegangen ist, was die Teilnehmer der Debatte vor ihm gesagt haben und was sie nach ihm gesagt haben. Anders gesagt, mir scheint man sollte kleinteiliger beginnen - wie Philosophinnen wollen Künstlerinnen nicht immer mit den ganz großen und letzten Begriffen operieren, oft schalten sie sich in ein Gespräch unter Gleichgesinnten ein, in dem sie voneinander lernen und sich inspirieren und kritisieren - und das relativ unmittelbar und in recht spezifischen Kontexten. In der Philosophie ist das zentrale Mittel dazu Text, in der Kunst (vielleicht auch Text aber vor allem) die Kunstwerke, die ohne einen Narrativ ihre Rolle nicht gut erfüllen können.

In der Philosophie wie in der Kunst kann man aus solchen spezifischen Debatten "herauszoomen" um, zum Beispiel, das künstlerische Lebenswerk einzuordnen, aber man sollte nicht mit dieser "Totalansicht" beginnen. Wenn man sich die Frage stellt, was ein konkretes Kunstwerk bedeutet, hilft es mehr mit der Frage zu beginnen: "Worauf war das eine Antwort?" Meistens wird uns ein fünfjähriges Kind darauf nichts hilfreiches sagen können.

















Was immer man berührte, löste Wellen von Neuem aus, die sich nach allen Seiten hin verbreiteten. Jede neue Erfahrung empfand ich physisch, als Gefühl körperlicher Erweiterung. Es gehörte dazu, daß man schon manches andere wußte, daß das Neue aber in keiner Weise damit zusammenhing. Etwas, das von allem Übrigen separiert war, siedelte sich dort an, wo vorher nichts war. Eine Türe ging plötzlich auf, wo man nichts vermutet hatte, und man fand sich in einer Landschaft mit eigenem Licht, wo alles neue Namen trug und sich weiter und weiter, bis ins Unendliche erstreckte. Da bewegte man sich nun staunend, dahin, dorthin, wie es einen gelüstete, und es war, als wäre man noch nie woanders gewesen.

Elias Canetti - Die gerettete Zunge, 266

Worin unterscheiden sich Geschichte und Physik?

Eine mögliche Antwort ist vielleicht sowas wie: “Geschichte ist subjektiv, sie fasst das, was passiert ist, auf subjektive Weise zusammen, sie erzeugt einen Narrativ, der natürlich immer das Gepräge der Urheber trägt. Physik dagegen ist objektiv, sie handelt von den Objekten, wie es sie unabhängig von uns Menschen gibt.”

Ich würde auch sagen, dass sich Geschichte und Physik als Wissenschaften unterscheiden, aber ich würde diesen Unterschied nicht am Grad der Objektivität festmachen. Eine Gemeinsamkeit ist wohl, dass in beiden Fällen Sätze benutzt werden, um Erfahrungen zu ordnen, allerdings Erfahrungen (und daher Sätze) anderer Art. Im einen Fall handeln die Erfahrungen oft von politischen und sozialen - das heißt zwischenmenschlichen - Vorfällen und Zusammenhängen. Im anderen Fall handeln sie vom Verhalten physikalischer Gegenstände oder anderer Größen, die als vom Menschen unabhängig beschrieben werden und wie sie sich in experimentell vereinfachten Situationen verhalten. Wieder eine Gemeinsamkeit: In beiden Fällen greifen die Sätze bestimmte Aspekte an einer Situation heraus und stellen diese als die relevanten und interessanten dar. Ob Napoleon eine beginnende Glatze hatte als er nach Waterloo ritt? Mit welcher Tinte die Weimarer Verfassung geschrieben wurde? Woher das Metall für den Ball in der Vakuumkammer kam? Welches Partikel genau ausgewählt wurde um es auf fast Lichtgeschwindigkeit zu beschleunigen? Solche Fragen werden zumeist als unerheblich beiseite gelassen (was aber nicht heißt dass sie nicht interessant werden kann).

Insofern macht es wohl Sinn, beide Aussagegruppen als Narrative zu bezeichnen, bei denen nach bestimmten, gewohnten Mustern eine Auswahl der relevanten Aspekte einer Situation getroffen wird. In beiden Fällen als - Physik wie Geschichte - greifen Menschen ordnend ein und daher trägt beides das “Gepräge der Urheber”. Die "Subjektiv / Objektiv Unterscheidung" scheint dann also kein spannender Unterschied zwischen Geschichte und Physik zu sein.


Gefangen in der Titotalitätsmaschine. Der Bauhäusler Franz Ehrlich.

von Friedrich von Borries und Jens-Uwe Fischer

29.12.2022

Um den nachhaltigsten Eindruck gleich vorneweg zu schicken: wenn über mich jemals jemand ein Buch schreiben würde, und es hätte diesen Ton meiner Person gegenüber und würde zu einer derartigen Beschreibung gelangen - ich müsste es als das vollkommene Scheitern meines Projekts und meines Lebens sehen.

Die Idee von Fischer und von Borries scheint ungefähr die zu sein: (zumindest) der Zeitabschnitt zwischen dem ersten Weltkrieg und dem Fall der Berliner Mauer ist die Epoche sich abwechselnder Totalitäten. In der Politik wie auch in der Kunst (das sind die beiden Felder, von denen das Buch vornehmlich handelt) wird ein totales, sich alles einverleibendes System angestrebt - sei es im Bauhaus, im Nationalsozialismus oder im Kommunismus der DDR (vgl. von Borries/Fischer 2022, Vorspann). Diese Totalitätsansprüche verbinden sie (im Anschluss an Ehrlich) mit der Metapher der "Maschine" und sprechen daher von verschiedenen "Totalitätsmaschinen", denen sich Ehrlich ebenso wie seine Zeitgenossen ausgesetzt sahen (und sich vielleicht heute - in veränderter Form - noch immer ausgesetzt sehen). Ihre Herangehensweise an Ehrlichs Biografie gründen sie dann auf der Annahme, dass "Anpassungen, Beschönigungen und Umdeutungen zentraler Bestandteil des Agierens in Totalitätsmaschinen sind. Sie dienen mal dem nackten überleben, erscheinen an anderer Stelle jedoch als bequemer Opportunismus." (von Borries/Fischer 2022, 10)

Und besonders letzteren werden sie nicht müde in Ehrliches Biografie hervorzuheben, man möchte fast sagen, hineinzuschreiben. Wenig handelt das Buch vom Künstler Franz Ehrlich, viel vom politisch agierenden Franz Ehrlich, von seinen Anfängen im Bauhaus, über seine Zeit im KZ, seine Machtkämpfe in der DDR bis zu seinem Tod. Am Ende gesellt sich zu dem zugeschriebenen Opportunismus auch noch eine gute Portion Ressentiment, vor allem gegen seine Kollegen in der Architekturszene. Kurz: Ehrlich wird als ein in jeder Hinsicht kleiner Mensch beschrieben, der zumeist von Scham und Eitelkeit getrieben scheint und wenig menschliche Erfolge zu verzeichnen hatte. Aber - er hat sich immerhin eher Recht als Schlecht mit allerlei verschiedenen Totalitätsmaschinen arrangiert. Zusammenfassend muss man sagen, dass Ehrlich als "Held" seiner eigenen Biografie nicht allzu gut wegkommt. Nach der Lektüre bleibt ein eher schaler, desillusionierender Geschmack zurück. So weit zu meiner Zusammenfassung des Inhalts.

In unserer intellektuellen Auseinandersetzung mit verschiedenen Themen, beispielsweise Politik oder Geschichte, bildet sich mit der Zeit etwas, dass man als den "Standardnarrativ" bezeichnen kann. Das sind diejenigen Narrative über einen Zeitabschnitt oder ein politisches Geschehen, die allgemein anerkannt und tradiert werden. Und wie immer, wenn Geschichten oft erzählt werden, verlieren sie ihre Ecken und Kanten und werden an den zentralen Stellen vereinfacht (ähnlich wie Nietzsches beispielhafte Münze, die so oft getauscht worden ist, dass ihre Prägung durch die vielen Hände fast verschwunden ist). Standardnarrative über politische Totalitätsmaschinen wie den Nationalsozialismus (oder die DDR) sind in dieser Vereinfachung keine Ausnahme. Auch diese totalitären Systeme werden ihrer Graubereiche beraubt; je länger der Standardnarrativ tradiert wird, desto klarer wird alles: innerhalb solcher totalitären Systeme gibt es dann nur noch Schwarz und Weiß. Entweder, man war damals ein Nationalsozialist - ganz schwarz - oder man war keiner, und dann war man natürlich aktiv im Widerstand, also weiß. Ansonsten war man Mitläufer - also letztlich schwarz. Man muss sich bei all der moralischen Klarheit, die wir heute zu haben meinen, fast wundern, wie die Nationalsozialisten (oder irgendeine politische Gruppe deren Zielen und Methoden wir heute nicht zustimmen) überhaupt je zu einer staatstragenden Macht werden konnten.

Aber wie passt Ehrlichs Biografie denn zu diesem Standardnarrativ über Nationalsozialismus (und später zu dem über den Kommunismus)? Wie die Autoren mehrmals monieren, ist ihr Problem mit Ehrlich, "dass er sich in den verschiedenen Lebensphasen nicht eindeutig positionierte" (von Borries/Fischer 2022, 267), dass er opportunistisch agierte und ihnen dadurch moralisch ambivalent erscheint. Ich nehme an, das würde von Borries und Fischer nicht allzu sehr stören, wenn sie sich nicht ein "wenig mehr Farbe" von Ehrlich gewünscht hätten, im besten Falle natürlich strahlendes Weiß. Anders gefragt: warum sind von Borries und Fischer über Ehrlichs Ambivalenz und seine Weigerung Position zu beziehen derart unglücklich? Die beste Erklärung dafür scheint zu sein, dass ihre Sichtweise durch vereinfachende Standardnarrative über die Totalitätsmaschinen des Nationalsozialismus und des Kommunismus geleitet ist. Es ist doch aus unserer Perspektive auf die Geschichte alles so eindeutig und klar - warum hat Ehrlich nicht derart eindeutig und klar Position bezogen? Scheinbar, weil er moralisch kein hochwertiges Subjekt war - oder?

Ich habe an dieser Stelle zwei Vorschläge, wie man produktiver mit der vorliegenden Situation umgehen könnte als Ehrlich derart negativ zu beschreiben:


Wir erweitern die Möglichkeiten (auto)biografischer Selbstbeschreibung.

Wir deuten die Grundidee und das Genre des ganzen Buches neu.

Ich würde vorschlagen, sich von der Idee zu verabschieden, dass jede menschliche Selbstbeschreibung mit politisierter Begrifflichkeit operieren muss (Richard Rorty würde mir hier wohl zustimmen, siehe Teil I in seinem Buch Kontingenz, Ironie, und Solidarität).
Es scheint für von Borries und Fischer unvorstellbar, dass es auch in der Zeit des Nationalsozialismus und der DDR "unpolitische Menschen" gegeben haben könnte, dass es in dieser Epoche in Deutschland Menschen gegeben haben könnte, die ihre Selbstbeschreibung nicht mit Begriffen aus der Politik ausschmücken wollten, sondern mit anderen Begriffen, zum Beispiel denen der Kunst oder Technik. Wenn dem so ist, dann ist es leicht möglich, dass diese Menschen, gesehen durch das Prisma einer alles politisierende Begrifflichkeit, schlecht dastehen. Denn sie haben dann zu den zentralen Aspekten der eingeübten politischen Narrative nichts zu sagen, ihnen fehlen die Begriffe dazu (weil sie sich nicht dafür interessiert haben, diese Begriffe in ihre Selbstbeschreibung aufzunehmen). Beispiele für solch ein Vorgehen sind über weite Strecken hinweg Vladimir Nabokov oder Jorge Luis Borges.
Eine andere Möglichkeit das Leben von Franz Ehrlich zu beschreiben wäre es, nicht zu versuchen, alles durch das "Sieb des Politischen" zu schütteln und dann einen unbehaglichen Fremdkörper im Sieb zu finden, der nicht so recht in den einen oder den anderen Topf passen will. Vielleicht kann man eine Beschreibung dieses Menschen finden, die ihn in einem besseren Licht erscheinen lässt; als ein handelndes Individuum, nicht nur als einen hin- und hergeworfenen Opportunisten in Totalitätsmaschinen.
Und vielleicht sollten wir so eine Neubeschreibung nicht nur in Bezug auf Franz Ehrlich wagen, sondern immer dann, wenn wir das Gefühl haben, dass uns Totalitätsmaschinen umherwerfen.
Vielleicht ist es nur meine (unhinterfragte) Vermutung, aber ich habe das Buch zunächst klar als eine Biografie von Franz Ehrlich gelesen. Vielleicht ist sie das gar nicht - vielleicht sollte man sie eher wie einen Roman lesen, der einen moralischen Punkt machen will, ähnlich zu Erich Kästners Fabian.
In diesem Sinne könnte man einen Abschnitt am Ende des Buches interpretieren. Von Borries und Fischer schreiben hier: "Vor allem aber sollte Ehrliches komplexer Werdegang in Erinnerung bleiben, gerade wegen der Unschärfen und Umschreibungsversuche. Seine Biografie ist ein Anschauungsbeispiel für das Leben unter den Bedingungen der Totalitätsmaschine, ein ständiges Lavieren zwischen Anpassung und Eigenständigkeit. Genau deshalb erzeugt die Auseinandersetzung mit Ehrlich ein merkwürdiges Gefühl. Man kann sich mit ihm nicht positiv identifizieren, ihn aber auch nicht einfach verurteilen. Diese - unsere - Scham resultiert nicht aus der Unsicherheit, Ehrlich nicht abschließend Einordnen zu können, sondern aus der Sorge, dass man es selbst auch nicht besser gemacht hätte - und nicht besser macht." (von Borries/Fischer 2022, 268)
Folgen wir diesem Vorschlag, dann ist das vorliegende Buch vor allem eine Kritik und Dekonstruktion dessen, was ich weiter oben den "Standardnarrativ bezüglich totalitärer Systeme" genannt habe. Dann hätten sich von Borries und Fischer mit "Franz Ehrlich" eine Figur geschrieben, mit deren Hilfe sie zeigen, dass die tatsächlichen Lebens- situationen in Totalitätsmaschinen weitaus komplexer sind, als es ein vereinfachender (Standard)narrativ im Nachhinein erfassen kann.
Ehrlich wäre dann der (etwas tragische) Held ihrer Geschichte, der vorzeigt, dass es auch in einer Zeit, die durch einen Standardnarrativ stark vereinfacht wurde, viele verschiedene Graubereiche und Facetten gegeben hat und dass es hilfreich ist, diesen Umstand nicht zu vergessen, wenn man sich mit geschichtlichen Episoden befasst.

1. Wir erweitern die Möglichkeiten (auto)biografischer Selbstbeschreibung.

Ich würde vorschlagen, sich von der Idee zu verabschieden, dass jede menschliche Selbstbeschreibung mit politisierter Begrifflichkeit operieren muss (Richard Rorty würde mir hier wohl zustimmen, siehe Teil I in seinem Buch Kontingenz, Ironie, und Solidarität).

Es scheint für von Borries und Fischer unvorstellbar, dass es auch in der Zeit des Nationalsozialismus und der DDR "unpolitische Menschen" gegeben haben könnte, dass es in dieser Epoche in Deutschland Menschen gegeben haben könnte, die ihre Selbstbeschreibung nicht mit Begriffen aus der Politik ausschmücken wollten, sondern mit anderen Begriffen, zum Beispiel denen der Kunst oder Technik. Wenn dem so ist, dann ist es leicht möglich, dass diese Menschen, gesehen durch das Prisma einer alles politisierende Begrifflichkeit, schlecht dastehen. Denn sie haben dann zu den zentralen Aspekten der eingeübten politischen Narrative nichts zu sagen, ihnen fehlen die Begriffe dazu (weil sie sich nicht dafür interessiert haben, diese Begriffe in ihre Selbstbeschreibung aufzunehmen). Beispiele für solch ein Vorgehen sind über weite Strecken hinweg Vladimir Nabokov oder Jorge Luis Borges.

Eine andere Möglichkeit das Leben von Franz Ehrlich zu beschreiben wäre es, nicht zu versuchen, alles durch das "Sieb des Politischen" zu schütteln und dann einen unbehaglichen Fremdkörper im Sieb zu finden, der nicht so recht in den einen oder den anderen Topf passen will. Vielleicht kann man eine Beschreibung dieses Menschen finden, die ihn in einem besseren Licht erscheinen lässt; als ein handelndes Individuum, nicht nur als einen hin- und hergeworfenen Opportunisten in Totalitätsmaschinen.

Und vielleicht sollten wir so eine Neubeschreibung nicht nur in Bezug auf Franz Ehrlich wagen, sondern immer dann, wenn wir das Gefühl haben, dass uns Totalitätsmaschinen umherwerfen.

2. Wir deuten die Grundidee und das Genre des ganzen Buches neu.

Vielleicht ist es nur meine (unhinterfragte) Vermutung, aber ich habe das Buch zunächst klar als eine Biografie von Franz Ehrlich gelesen. Vielleicht ist sie das gar nicht - vielleicht sollte man sie eher wie einen Roman lesen, der einen moralischen Punkt machen will, ähnlich zu Erich Kästners Fabian.

In diesem Sinne könnte man einen Abschnitt am Ende des Buches interpretieren. Von Borries und Fischer schreiben hier: "Vor allem aber sollte Ehrliches komplexer Werdegang in Erinnerung bleiben, gerade wegen der Unschärfen und Umschreibungsversuche. Seine Biografie ist ein Anschauungsbeispiel für das Leben unter den Bedingungen der Totalitätsmaschine, ein ständiges Lavieren zwischen Anpassung und Eigenständigkeit. Genau deshalb erzeugt die Auseinandersetzung mit Ehrlich ein merkwürdiges Gefühl. Man kann sich mit ihm nicht positiv identifizieren, ihn aber auch nicht einfach verurteilen. Diese - unsere - Scham resultiert nicht aus der Unsicherheit, Ehrlich nicht abschließend Einordnen zu können, sondern aus der Sorge, dass man es selbst auch nicht besser gemacht hätte - und nicht besser macht." (von Borries/Fischer 2022, 268)

Folgen wir diesem Vorschlag, dann ist das vorliegende Buch vor allem eine Kritik und Dekonstruktion dessen, was ich weiter oben den "Standardnarrativ bezüglich totalitärer Systeme" genannt habe. Dann hätten sich von Borries und Fischer mit "Franz Ehrlich" eine Figur geschrieben, mit deren Hilfe sie zeigen, dass die tatsächlichen Lebens- situationen in Totalitätsmaschinen weitaus komplexer sind, als es ein vereinfachender (Standard)narrativ im Nachhinein erfassen kann.
Ehrlich wäre dann der (etwas tragische) Held ihrer Geschichte, der vorzeigt, dass es auch in einer Zeit, die durch einen Standardnarrativ stark vereinfacht wurde, viele verschiedene Graubereiche und Facetten gegeben hat und dass es hilfreich ist, diesen Umstand nicht zu vergessen, wenn man sich mit geschichtlichen Episoden befasst.



Prozesse. Über Franz Kafka

von Elias Canetti

19.03.2022

Das Buch setzt sich zusammen aus drei abgeschlossenen Texten Canettis, die (mehr oder weniger) von Kafka handeln. Zusätzlich dazu zeigen sie aus Canettis (teilweise autobiographischen) Aufzeichnungen so manchen Weg, den sein Lesen, Schreiben und Nachdenken über "Kafka" (und mithin der "Literatur") genommen hat. Das Buch hat daher über weite Teile den Charakter von aphoristischen Gedanken und Ideen, die eher für Canetti selbst als für andere Leser verfasst scheinen und aus denen er später die längeren, zusammenhängenden Texte konstruiert hat.

Eine Idee, die Canetti offensichtlich wichtig war, die ich aber links liegen lassen möchte ist, ob man durch genaue Auseinandersetzung mit Kafka etwas über das Wesen der Dichtung und der Kunst lernen oder den Geheimnissen des Lebens näherkommen kann. Ich weiß nicht, was solch ein "Wesen" sein soll (wir erinnern uns, ich bin metaphysisch taub). Ich sehe kein interessantes Ergebnis solch einer Untersuchung. Wollte Canetti etwas zeitlos richtiges über Dichtung, Kunst, Leben und Kafka finden? Ich wüsste nicht einmal, wo man zu Suchen anfangen sollte - und mein Eindruck ist, Canetti erging es ebenso. Wir sind in seinen Gedanken Zeuge seines Haderns mit dem Umstand, dass er nichts "Bleibendes" findet, nichts das vor der Zeit bestand hat. Für Canetti selbst war es ultimativ ein Scheitern aus Mangel an Können - ich sehe das nicht so kritisch. Das schlimmste, was ich dazu sagen kann ist, dass Canetti seine Zeit mit interessanten Fragen hätte verbringen können.

Man kann durch die Aufzeichnungen, die Canetti zwischen den Jahren 1946 bis 1994 - also quasi sein ganzes Leben lang - anfertigt sehen, dass sich sein "wahrer Kafka" signifikant ändert, die Erzählung die er "Kafka" nennt ändert sich durch Canettis Leben hindurch in dem Maße, indem sich die Erzählung ändert, die ich jetzt "Elias Canetti" nenne.

Manche Themen allerdings scheinen ihn durch sein Leben hindurch begleitet zu haben - die Flucht Kafkas ins Kleine, die Krankheit als Vorwand, die Betonung des Prozesses der Verwandlung im Gegensatz zum Ergebnis - diese Themen sind fast zu allen Zeiten zu finden.

Canetti macht in seiner Kafka Deutung etwas Ähnliches wie Thomas Bernhard - er verbindet Orte mit Menschen und zwar so, als wäre der Ort an dem etwas passiert oder gedacht wurde das prägende, nicht der Mensch (der die Gedanken und Erfahrungen die zu diesem Ort und zu diesem Gedanken geführt haben auch woanders gemacht hat). Für Kafka "das Gericht im Askanischen Hof" in dem seine Verlobung gelöst wurde oder Kafkas idealer Ort zum schreiben. Aber auch Canetti selber teilt sich so ein, in Städte in denen er schreibt (Wien, London Zürich, Paris,...). Vergleich: einen fertigen Text im Nachhinein in Kapitel untergliedern.

Ich würde es so beschreiben: Canetti hat mit den Themen die er in Kafkas Werk hervorgehoben hat, etwas neues in Kafka gefunden und das macht seine Auseinandersetzung spannend und interessant (so sehr wie sie auch zum Widerspruch anregt). Friedrich Waismann ("A philosopher looks at Kafka") und Vladimir Nabokov ("Franz Kafka. Die Verwandlung") haben andere Deutungen vorgelegt. Keiner der drei Texte ist näher am "Wesen Kafkas" dran als die (oder alle) anderen - aber sie heben unterschiedliche Aspekte hervor, die man zu anderen Zwecken brauchen kann. Alle drei sind sie auf ihre eigene Weise interessant und daher lesenswert.


20.03.2022

Durch die autobiographisch anmutenden Aufzeichnungen, die die Entstehung von Canettis Erzählung von Kafka nachzeichnen, lernt man auch sehr viel Über Canetti selber; wie er liest, was er liest, welche Meinungen er über andere Autoren hegt, in welche Beziehungen er diese Autoren setzt und so weiter. Alleine dieser Aspekt wäre schon für sich genommen äußerst lesenswert.

Die Rede "Proust - Kafka - Joyce" aus 1948 handelt nicht wirklich von Kafka, eher von Canettis Idee, wie das Leben die Kunst (konkreter vielleicht die Schriftstellerei) beeinflusst und wie eine Künstlerin dem Chaos des Lebens begegnen könnte oder sollte - dieser Text verdient eine eigene, gesonderte Auseinandersetzung. Er ist in Canettis Werk relativ früh und wahrscheinlich hätte ein älterer Canetti nicht mehr alles (vielleicht sogar garnichts mehr) davon noch einmal so gesagt. Aber für meine Vorhaben wird dies vielleicht sogar der wichtigste Anknüpfungspunkt sein.


Notizen

08.01.2023
Möglicherweise interessant: Pataphysik. Laut Eigenbeschreibung verhält sie sich zur Metaphysik wie sich die Metaphysik zur Physik verhält.
Eine auf Google gut gewertete Seite dazu sieht jedenfalls wild aus.
12.12.2023
Vielleicht eine Überlegung für später.
Von den Konstruktivisten habe ich gelernt, dass die Methoden, die man benutzt, um etwas über die Welt herauszufinden genau dieselben Methoden sind, die man benutzt, um etwas über sich selbst herauszufinden. Wie man die Welt beschreibt und wie man sich selbst beschreibt hängt eng zusammen.
12.03.2024
Eine Erklärung was ich unter Anti-repräsentationalismus verstehe wäre noch gut, eine, die mehr generalisiert darstellt, was hier passiert. Momentan wirkt das noch sehr mystisch.

Zum Beispiel, dass dann die Idee nicht mehr ist, dass Sätze durch die Welt "wahr gemacht" werden, da Sätze die Welt nicht repräsentieren und es also keine solche Relation zwischen einem Satz und einer unbeschriebenen Welt gibt. (Metapher: Sätze als Fotos)
04.04.2024
Besser erklären: warum ist cherry picking als Methode in Ordnung? Verliert man nicht etwas, wenn man eine Idee aus dem Zusammenhang reißt? Leitfaden sollte natürlich sein, das meiste herauszuholen, aber man soll sich nicht von einem Rahmen, den man nicht selber gesetzt hat, vorschreiben lassen, was man zu sagen hat. Beispiel: Lyotard.
05.04.2024
Ein wichtiger Unterschied in den Regeln der Diskursarten "Biographie" und "Autobiographie" ist, dass in letzterer Sätze über Gefühlszustände auftauchen können, die einen anderen Anspruch haben, als die Zuschreibung von Gefühlen durch eine andere Person in der Biographie. Der Autorin der Autobiographie wird mehr Authorität zugestanden, Sätze über Gefühleszustände zu äußern. Wobei das natürlich noch nicht heißt, dass sie angenommen werden (vgl. Canetti - Die gerettete Zunge).
05.04.2024
Zu Die gerettete Zunge von Canetti - ich lese seine Autobiographie, und auf seinem Wikipedia Artikel steht, dass er bestimmte Aspekte seines Lebens ausgeblendet hat und Teile seiner Persönlichkeit gerne verschwiegen hat. Die übliche Idee ist wohl, dass ich jetzt "autobiographischen Narrativ" mit den "Fakten" verglichen habe. Aber ich würde eher sagen, ich habe den "autobiographischen Narrativ" mit einem "biographischen Narrativ" verglichen.
17.04.2024
Ich habe gerade ein Textsnippet von Jonathan Ichikawa gesehen, der "epistemische Feigheit" im Titel trägt - ich denke, das ist ein tolles Konzept um den Vorgang zu beschreiben wenn jemand in einer Diskussion sowas sagt wie: "Also ich für mich, denke..." oder "Für mich ist das meine persönliche Wahrheit,..." oder "Meine subjektive Ansicht ist, dass..." und dergleichen. Da noch die Fälle ausführen.
21.04.2024
Lese gerade Fabelhafte Rebellen von Andrea Wulf, das die Ursprünge der Romantik und der Idee eines schöpferischen Ichs nachzeichnet. Erstens finde ich es gut, dass der Untertitel Die frühen Romantiker und die Erfindung des Ich lautet, nicht die "Entdeckung des Ich". Zweitens - ist das hier vielleicht ein "Neoromantisches" Projekt?
27.05.2024
“Der Notizzettel bildet dann womöglich nahezu ideal die Art und Weise ab, wie wir denken. Unsere mentalen Vorgänge [...] spielen sich folglich nicht in Form großer Abhandlungen, gelehrter Traktate oder ausufernder Romane ab, sondern im Kleinklein der Notizen und Zettel.” (Haarkötter 2021, 13)



14.07.2024
Tatsache, Fakt, Evidenz, Daten, Wirklichkeit können alle dieselbe Rolle spielen: sie werden benutzt, um zu beschreiben, dass eine Überzeugung die wir haben mit der Welt, wie sie unabhängig von uns ist, im Einklang ist. "Ich glaube x, und es ist auch wirklich so" ist die Regel, nach der man vorgeht. Aber es ist eben das, ein Spielzug im "Nehmen und Geben von Gründen" wie Robert Brandom es genannt hat.
01.06.2024
Konrad Paul Liessmann hat in der Kleinen Zeitung geschrieben:

“Die hitzigen Debatten um das problematische Verhalten der grünen Spitzenkandidatin für die Europawahl münden in der Frage, welche Bedeutung der Charakter eines Menschen für seine Eignung als Politiker hat. Dabei wird unterstellt, dass es ein stabiles Set von Eigenschaften gibt, das einen Menschen kennzeichnet und sich in unterschiedlichen Lebenslagen bemerkbar machen wird. Geborene Lügner lügen immer, herzensgute Helfer helfen immer. Dieser Essentialismus, der von einem unveränderlichen Wesen einer Person ausgeht, vergisst, dass wir nicht nur lernfähig und bildsam sind, sondern dass sich manche Eigenschaften, von denen man gar nicht wusste, dass man sie besitzt, erst in unerwarteten Situationen zeigen.”

Eine klassische petitio principii: Es wird gesagt, dass Menschen sich nicht ändern können. Aber das vergisst, dass sie sich ändern können. Nun ja…
02.06.2024
Heute ist es sehr schwer, mich beim Lesen zu konzentrieren - das Bild ist: ich versuche eine Wand hinauf zu klettern, die sehr glatt ist. Meine Augen und mein Hirn rutschen am Text ab, der wie eine glatte Wand vor mir steht.



30.07.2024
Titel für zwei imaginäre Vortrage (von denen ich früher einmal tatsächlich vorhatte, sie zu halten, aber sie nie erdacht habe): "Melancholische Maschinen" und "Der Tod ist ein Mythos".
12.07.2024
Texte und Ideen zu denen ich immer wieder zurückkomme, die scheinbar wichtiger für mein Denken sind als ich zuerst gemerkt habe: starke Inkommensurabilität (wie der frühe Kuhn sie dachte) ist kein sinnvolles Konzept (veranschaulicht an Lem's Die Stimme des Herrn), Übersetzbarkeit ist ein Kriterium der Sprachlichkeit (radical translation), sprachlichen Austausch als "Spiel von Nehmen und Geben von Gründen" (Brandom), dass Bedeutung an propositionalen Gehalt geknüpft ist und dass daher Kunstwerke ebenso Bedeutung haben können wie Texte, wenn man sie denn lesen kann.
06.08.2024
Analytische Philosophen haben Naturwissenschaft als Vorbild, die zentrale Methode ist Argumentieren. Kontinentale Philosophen haben Literatur als Vorbild, ihre zentrale Methode ist es, einen Narrativ zu konstruieren. So erklärt Barry Allen auch, was die Dekonstruktion tut. Aber das sind zwei Enden eines Spektrums, die meisten Philosophinnen werden sich irgendwo dazwischen wiederfinden. Und auch in der Literatur spielt "Wahrheit" für viele eine zentrale Rolle.
23.08.2024
Welche Texte haben mich wirklich beeinflusst:

„Universality and Truth“ von Richard Rorty
“Wie ich die Philosophie sehe” von Friedrich Waismann
Über Gewißheit von Ludwig Wittgenstein
Gehen von Thomas Bernhard
Hoffnung statt Erkenntnis von Richard Rorty
Tagebuch 1946-1949 von Max Frisch
Das Jenseits der Philosophie von Josef Mitterer




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The only point on which I would insist is that philosophers' moral concern should be with continuing the conversation of the West, rather than with insisting upon a place for the traditional problems of modern philosophy within that conversation.

Richard Rorty - Philosophy and the Mirror of Nature






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Ich habe in Wien über Erkennistheorie dissertiert und bin gegenwärtig Projektleiter bei Boom.

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